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Vor 13 Jahren ereignete sich das Massaker von Srebrenica

Wie sich die Phrase der "humanitären Intervention" in der deutschen Außenpolitik etablierte

von Marcus Hawel (sopos) *

Joseph Fischer, der zuvor noch kritisierte, der Bundestag werde an der "humanitären Nase" in den Krieg geführt, forderte unter dem Eindruck der Berichte über serbische Massaker an bosnischen Muslimen eine "Interventionspflicht bei Völkermord".

Noch bevor in den 1990er Jahren die Formel von der "humanitären Intervention" wieder in der Legitimationsrhetorik in Mode gekommen war, schrieb Gerhard Stuby resümierend, die Phrase hinterlasse einen schalen Geschmack. "Welche Intervention in der jüngsten Geschichte erfolgte nicht aus ›humanitären‹ Gründen?"[1] Hinsichtlich der dann wieder in Mode gekommenen Verschleierung "geostrategischer Interessen" durch Menschenrechtsrhetorik schrieb Michael Jäger: "Statt wenigstens von Menschenrechten zu schweigen, wo sie das elementare ökologische Menschenrecht nicht kennen und ja auch die sozialen Menschenrechte mißachten, setzen die Führer des Westens sie ein, um Enteignungs-Interessen damit zu bemänteln."[2] Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schien diese Bemäntelung mittlerweile aus ganz anderen Gründen unerträglich. Mit Blick auf den Krieg der NATO gegen Serbien schrieb sie in aller Deutlichkeit mit der Absicht, die "geopolitischen Interessen" frank und frei zu affirmieren: "Daß die NATO aus reiner Menschenliebe Milliarden verfeuert, muß man nicht glauben. Wer Hegemonie beansprucht, muß damit beginnen, sie zu demonstrieren - mit oder ohne Völkerrecht."[3]

Das wahre Eden der Menschenrechte?

Wenn Staaten die Menschenrechte als Bedingung allen Handelns einklagen, ist das inkonsequent, wenn nicht zugleich auch der Mechanismus, der die Wiederkehr der Barbarei aus dem Zentrum dieser Gesellschaft heraus stets möglich macht, bekämpft wird. Dieser Mechanismus ist der Motor für die Menschenrechte. Dem Wesen nach verbirgt sich hinter der Idee der Menschenrechte historisch die Moral der Ökonomie. Die "Kritik der politischen Ökonomie" von Marx zeigt auf, wie die Menschen nach der ökonomischen Rationalität des Äquivalententauschs sich gegenseitig als Personen anerkennen. Damit die Waren aufeinander bezogen werden können, müssen diese von den Warenbesitzern auf den Markt getragen werden. Es bedarf des gemeinsamen, gewaltfreien Willensaktes, die Waren aufeinander zu beziehen. Die Personen erkennen sich gegenseitig im Tausch als Personen, als Privateigentümer an. Die Form dessen ist der bürgerliche Vertrag, in dessen gemeinsamen Willensverhältnis sich das scheinbar gewaltlose: das ökonomische Verhältnis widerspiegelt.[4] So setzte sich mit dem Wertgesetz unter der Prämisse des Privateigentums allgemein das Menschenrecht durch: die Welt der gegenseitigen Anerkennung von Herren und Knechten, in der sich die unmittelbaren Herr-Knechtschaftsverhältnisse in vermittelte transformierten. Dieses scheinbar gewaltfreie ökonomisch-rationale Verhältnis ist das versachlichte Resultat des vorangegangenen, gewalttätigen Kampfes um Anerkennung auf Leben und Tod. Diese Geschichte haben sämtliche westlichen Nationalstaaten durchgemacht. Man kann sagen, die Menschenrechte sind mit Blut und Feuer in die Annalen der Geschichtsbücher eingegangen.

Das kapitalistische Wertgesetz setzte sich maskiert unter dem Schleier der Menschenrechte durch und steht als letzter Grund auch heute noch hinter jeder bürgerlichen Apologie der Menschenrechte. Was in Europa als ethische Wertegemeinschaft bezeichnet wird, verdient daher eher als Mehrwertgemeinschaft bezeichnet zu werden. In der heutigen Zeit wird mit Gewalt das Menschenrecht dort zu erzwingen versucht, wo das Wertgesetz sich noch nicht vollständig hat durchsetzen können. Das Kapital benötigt Gewaltfreiheit auf der Oberfläche, die durch ein staatliches Gewaltmonopol gewährleistet wird, abstrakte Rechtsgleichheit, Vertragssicherheit, ökonomische Freiheit. - Das sind die basalen Knochen des Skeletts der Menschenrechte.

Was aber im Kapitalismus "Frieden" heißt, ist nicht einmal die Abwesenheit von Krieg, sondern der mehr oder minder versteckte, ökonomische Bürgerkrieg der Konkurrenz aller gegen alle. Dieser ökonomische Krieg ist die Normalform bürgerlicher Gewalt. Solcher Frieden ist schon nicht das wahre Eden der Menschenrechte, wie es der Schein von Gewaltlosigkeit in der Zirkulationssphäre glauben machen möchte. Natürlich ist ein solcher Zustand allemal einem vorzuziehen, wo es nur das Faustrecht des Stärkeren gibt, und der Mensch dem Menschen ein Wolf sein muß, um zu überleben. Der wahre Frieden, die wahre Gemeinschaft, in dem die Menschenrechte zu sich selbst gekommen sind, ist aber erst in einer Gesellschaft möglich, die sich vom kapitalistischen Wertgesetz befreit hat, so daß die Menschen nicht mehr als leere, dingliche Warenhüter gelten, sondern das gesellschaftliche Leben auf ihre individuellen Bedürfnisse und Begehren abgestimmt ist; wo jeder so sein kann, wie er ist, ohne dem Terror des Allgemeinen ausgesetzt zu sein; wo jeder ungezwungen anders sein darf, ohne Haß zu provozieren.

Politik der Moral

In der deutschen Außenpolitik ging es allerdings weniger um individuelle Menschenrechte als vielmehr um die kollektiven Rechte von Minderheiten. Darin verhielten sich die deutschen Außenpolitiker ganz im Sinne der Tradition deutscher Außenpolitik und im Sinne eines typisch deutschen, aber archaischen Begriffs der Staatsangehörigkeit (ius sanguinis).[5]

Je moralischer die Argumentation zur Rechtfertigung eines Krieges ausfällt, desto angewiesener ist die kriegführende Seite auf ein überzeugendes Feindbild, daß der Bevölkerung präsentiert wird. "Der moralische Krieg braucht seinen Sündenbock."[6] Einseitige, gar tendenziöse Moralisierung kommt also einer partikularen Interessenpolitik zugute. Die Medien bieten hierbei geeignete Instrumentarien, ein stimmiges Feindbild zu konstruieren. Im Zeitalter der Medien sind "moralische Gefühle" sehr leicht im großen Maßstab zu instrumentalisieren, wobei darauf hinzuweisen ist, daß es sich nicht um einen reinen Manipulationsmechanismus handelt, sondern schon viel eher um einen "Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis", den Horkheimer und Adorno allgemein der Kulturindustrie zuschreiben.[7]

In diesem Zirkel liefern die Medien am fortlaufenden Band Bilder und Nachrichten des Schreckens. "Die rein moralische Begründung des Krieges durch die Unmenschlichkeit und die Schuld des Gegners bräche in sich zusammen, wenn unser Bild von ihm als Verbrecher und Alleinschuldiger sich ändern würde. Seine Bestialisierung muß deshalb fortgesetzt werden. Der menschenrechtlich begründete Krieg fordert immer neue Bilder von Leid und Grausamkeit (...)."[8] Die Konstruktion des Feindbildes ist aber kaum zuvor in konspirativen Zirkeln des Journalismus zusammen mit den Herrschenden abgesprochen worden, sondern die Einseitigkeit stellt sich vielmehr her durch die Überlieferung eines traditionellen Feindbildes.

Das traditionelle Feindbild der deutschen Eliten bezüglich der Völker auf dem Balkan war Serbien. Ganz im Sinne des antifaschistischen Musters war dann auch die Rede von "serbischen Vergewaltigungslagern", in denen gezielte Vergewaltigungen muslimischer Frauen durch serbische Soldaten stattfänden.[9] Das antifaschistische Muster ließ sich noch steigern: ins Gerede kam schließlich die "SS von Milosevic" und ein "serbischer Josef Mengele", der Frauen Hundeföten einpflanzte, wie der CDU-Abgeordnete Stefan Schwarz behauptete.[10]

Die PR-Kampagne von Ruder & Fin

Dieser verbalen Eskalation geht eine vorsätzliche PR-Kampagne der Nachrichtenagentur Ruder&Fin voraus, die seit 1992 die Public Relations für die bosnischen und kroatischen Präsidenten Izetbegovic und Tudjmann organisiert hat. In einem Interview von Jacques Merlino, dem stellvertretenden Direktor des Zweiten Französischen Fernsehens, mit dem ehemaligen Direktor der Nachrichtenagentur, James Harff, offenbart dieser bemerkenswerte Innenansichten. Auf die Frage, auf welche Leistungen er besonders stolz sei, antwortet er: "Daß es uns gelang, die jüdische Meinung auf unsere Seite zu ziehen. Dies war eine sensible Angelegenheit. (...) Präsident Tudjman war in seinem Buch ›Ödland der geschichtlichen Wirklichkeit‹ sehr leichtsinnig, denn wenn man sein Werk liest, könnte man ihn des Antisemitismus bezichtigen. In Bosnien war die Situation nicht besser: Präsident Izetbegovic unterstützt in seinem Buch ›Die islamische Erklärung‹ sehr stark die Bildung eines fundamentalistischen islamischen Staates. Abgesehen davon war die kroatische und bosnische Vergangenheit stark von einem wirklichen und brutalen Antisemitismus geprägt. Zehntausende von Juden kamen in den kroatischen Lagern um. All dies sprach dafür, daß Intellektuelle und jüdische Organisationen den Kroaten und Bosniern gegenüber feindlich eingestellt sein würden. Die Herausforderung für uns lag nun darin, diese Einstellung in ihr Gegenteil zu wenden. Und wir meisterten diese Aufgabe mit Bravour. Anfang August 1992 veröffentlichte New York Newsday einen Artikel über serbische Lager. Wir ergriffen diese Gelegenheit sofort. Wir überlisteten drei große jüdische Organisationen - die B'nai B'rith Anti-Defamation League, das American Jewish Committee und den American Jewish Congress. Wir schlugen vor, daß diese eine Annonce in der New York Times veröffentlichen und eine Demonstration vor der UNO organisieren. Das war ein großartiger Coup. Als die jüdischen Organisationen in das Spiel auf Seiten der moslemischen Bosnier eingriffen, konnten wir sofort in der öffentlichen Meinung die Serben mit Nazis gleichsetzen. (...) mit einem einzigen Schlag konnten wir nun die einfache Story von den guten und den bösen Jungs präsentieren, die sich ganz von alleine weiterspielte. Wir gewannen, weil wir auf die Beeinflussung des jüdischen Publikums setzten. Fast unmittelbar danach benutzten die Medien eine andere Sprache mit sehr emotionsgeladenen Begriffen, wie ethnische Säuberung, Konzentrationslager etc., Begriffe, die man mit Bildern aus Nazi-Deutschland und den Gaskammern von Auschwitz assoziiert. Niemand konnte sich mehr dagegen wenden, ohne des Revisionismus angeklagt zu werden. Wir hatten hundertprozentigen Erfolg."[11]

Am Ende dieser Manipulation der Öffentlichkeit stand ein vollständig einseitig ausgebildetes Feindbild, das von der Bundesregierung aufgegriffen wird: "Es war und ist Milosevics Absicht, einen Teil seines Staatsvolkes zu vertreiben und auszurotten. Wer von dieser Analyse nicht ausgeht, ist für mich kein ernsthafter Gesprächspartner. Für mich steht fest: Das, was Milosevic betreibt, ist Völkermord. Und er bedient sich der gleichen Kategorien, derer Hitler sich bedient hat."[12]

Ein Photo, das folgenreich die Weltöffentlichkeit erschütterte, legte die Existenz eines serbischen Konzentrationslagers in Trnopolje nahe. Die britische IIN-Reporterin Penny Marshall hatte am 5. August 1992 der Weltöffentlichkeit dieses Photo präsentiert. Einige Jahre später erbrachte der Journalist Thomas Deichmann den Nachweis, daß dieses Photo eine manipulierte Aufnahme war.[13]

Das Überprüfen fragwürdiger Quellen, Mißtrauen gegenüber Gerüchten und Gegenrecherchen gegenüber anzweifelbaren Zeugenaussagen, die zweifelsohne zum journalistischen Handwerkszeug gehören und für eine demokratische und freie Presse Mindeststandards darstellen, wurden in der Jugoslawienkrise zunehmend außerachtgelassen. Die Methode hatte System.[14]

Während die deutsche Presse ein einseitiges serbisches Feindbild schürte, wurde weitgehend nicht zur Kenntnis genommen, daß die ersten Verfolgten des jugoslawischen Bürgerkrieges nicht Kroaten oder Bosnier waren, sondern Serben. Die Verfolgung von Kroaten und Bosnier begann erst, nachdem die kroatische Regierung die Serben in ihrem Land offiziell zur "ethnischen Minderheit" erklärt hatte und von Kroaten orthodoxe Kirchen und Synagogen in Brand gesteckt wurden. Straßennamen wurden in Kroatien offiziell nach ehemaligen Führern der faschistischen Ustascha, die Komplizen Hitlers gewesen waren, umbenannt, und in der Nationalflagge Kroatiens tauchte ein altes faschistisches Symbol auf. Um so markanter erscheint vor diesem Hintergrund die Gleichsetzung Milosevics mit Adolf Hitler. Srebrenica

Im Juli 1995 ereignete sich in der bosnischen Stadt Srebrenica, welche seit April 1992 von bosnisch-serbischen Soldaten eingekesselt und von der UN zur Schutzzone erklärt worden war, das in diesem Krieg schlimmste und von bosnisch-serbischen Militärs begangene Kriegsverbrechen, welches nachhaltigen Einfluß auf die deutsche Außenpolitik, insbesondere auf die oppositionelle Haltung der Grünen und SPD ausübte.

In und um Srebrenica herum lebten seit 1993 etwa 40.000 Einwohner muslimischen Glaubens, die sich als Bosnier begriffen und zum Teil im Zuge des Bürgerkrieges nach dorthin geflohen waren. Am 11. Juli 1995 wurde die belagerte Stadt von bosnisch-serbischen Truppen unter dem Kommando von General Ratko Mladic überrannt und eingenommen. Die niederländischen UN-Schutztruppen (Blauhelme), die dort zum Schutze der Stadt stationiert waren und die Angehörigen der bosnischen Regierungsarmee entwaffnet hatten, leisteten auch keinen Widerstand, als auf die Besetzung schwere Massaker folgten, bei denen bis zu 8000 bosnische Muslime ermordet wurden. Von hier an hatte die Einseitigkeit des westlichen Feindbildes eine nachträgliche Berechtigung erfahren, insofern als von anderer Seite kein Verbrechen vergleichbaren Ausmaßes begangen wurde. Das Massaker von Srebrenica stand in keinem Verhältnis zu den von allen involvierten Seiten begangenen Verbrechen.

Aufgrund der Massaker in Srebrenica entschlossen sich UNO und NATO Ende August 1995 zu Luftangriffen, um die Friedensverhandlungen von Dayton zu erzwingen. Das Versagen der internationalen Gemeinschaft erscheint aber bei näherer Betrachtung als ein Vorgehen, bei dem massenhafte Vertreibung und Ermordung in Kauf genommen wurden, um eine neue ethnische Grenzziehung zu ermöglichen. Insofern trifft auch die internationale Gemeinschaft eine Verantwortung für das Massaker in Srebrenica. Der Sonderberichterstatter Mazowiecki legte nach den Massakern sein Mandat nieder und schrieb in einem Brief an den Vorsitzenden der UNO-Menschenrechtskommission, daß er sich nicht länger an der bloßen Vorspiegelung des Schutzes von Menschenrechten beteiligen wolle.[15]

Der offene Brief von Joseph Fischer

Der Eindruck, daß die "europäische Sicherheitspolitik" bisher versagt; jedenfalls nicht stringent genug eingegriffen habe, und vor allem das Massaker von Srebrenica bewirkten in der deutschen Politik - ganz besonders bei den oppositionellen Grünen einen mehrheitsfähigen Bewußtseinswandel, der zur Abkehr von ursprünglich pazifistischen Positionen führte. Mit dem Wandel der Grünen veränderte sich auch die Republik. In einem offenen Brief schrieb Joseph Fischer an die Bundestagsfraktion der Grünen und an die Parteimitglieder.[16] Die bisherige Politik der Vereinten Nationen sei gescheitert. Die Blauhelme waren mit den Mitteln, die ihnen zur Bewahrung des Friedens zur Verfügung standen, hoffnungslos überfordert und seien zwischen die Fronten geraten, mußten aber neutral bleiben, was faktisch eine Parteinahme für den Stärkeren oder Rabiateren bedeutete. Fischer stellt fest, daß der "Westen" in der Jugoslawienfrage bisher keine einheitliche Haltung eingenommen habe; statt dessen seien die westlichen Staaten in die nationalistischen und imperialistischen Denkkategorien von 1914 zurückgefallen. Der deutsche Staat sei seit 1991 daran interessiert, den Bundesstaat Jugoslawien, der nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Schutz der Siegermächte mit serbischer Dominanz entstand, wieder zu zerschlagen. Indem die Bundesregierung sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker beziehe, welches sie während des deutschen Einigungsprozesses 1989/90 für Ost- und West-Deutschland in Anspruch genommen habe und nunmehr den Kroaten und Bosniern nicht verweigern könne, werden die deutschen Interessen moralisch-rhetorisch verschleiert. Dahinter verberge sich aber das Interesse, die Resouveränisierung einer eigenständigen deutschen Außenpolitik ohne Rücksicht auf Verluste voranzutreiben.

Europa sei nicht wiederzuerkennen. Die alten Gespenster des Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus seien wieder aufgestanden. Der Spuk, den man nach 50 Jahren überwunden zu haben glaubte, gehe von neuem los. Völkische Politik, die mit Gewalt und Krieg neue Grenzen ziehe, sei im Begriff, sich zu reetablieren. Dieses barbarische Prinzip war in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges geächtet gewesen. Es wäre fatal, wenn es nun wieder zur allgemeinen Geltung komme, weil es das europäische Projekt der Integration in Gefahr bringe. Aus diesem Grund dürften die Grünen nicht tatenlos zusehen. Aus guten Gründen seien zwar die Grünen, die "Partei der Gewaltfreiheit", bisher gegen eine militärische Intervention gewesen, schon gar nicht mit deutscher Beteiligung, sondern lediglich für ein UN-Embargo und für humanitäre Hilfe im Rahmen des UN-Blauhelm-Einsatzes. Energisch habe sich die Partei bisher gegen den Versuch der Konservativen gewandt, Schritt für Schritt "Deutschland wieder zu einer militärisch gestützten, machtorientierten Außenpolitik zurückzuführen".

Nun aber fragt Fischer: "Können Pazifisten, kann gerade eine Position der Gewaltfreiheit den Sieg der brutalen, nackten Gewalt in Bosnien einfach hinnehmen?" Was sei zu tun, wenn alle friedlichen Druckmittel versagten? Es sei zynisch, aber auch moralisch nicht durchhaltbar, ließe man den Bürgerkrieg unter Hinnahme von vielen unschuldigen Opfern einfach "ausbluten". Zu dem sei eine solche ignorante Haltung sehr gefährlich für das gesamte Europa, das leicht aufgrund der Verstrickung in die Vergangenheit in einen solchen Krieg hineingezogen werden könnte. Die Niederlage der UN hätte zugleich fatale globale Auswirkungen, denn es bestehe die Gefahr, daß Bosnien international Schule machen könne. Fünf Jahrzehnte mühseliger Friedenspolitik würden einfach zunichte gemacht werden. Deshalb stelle sich wie damals im Zweiten Weltkrieg die Frage, wo die Nachgiebigkeit gegenüber barbarischer Gewalt aufhöre. Die Aggressionen der bosnischen Serben bezeichnet Fischer als neuen Faschismus, dem gleichsam die Menschheit sich genauso entgegenzustellen habe wie damals gegen die Nationalsozialisten. Wenn die bosnischen Muslime ein legitimes Notwehrrecht für sich in Anspruch nehmen, dann müsse "Notwehrhilfe" moralisch geboten sein. Aus diesem Grund plädiert Fischer für den militärischen Schutz der "UN-Schutzzonen" und fordert die Partei der Grünen zum Umdenken auf: "Können wir Prinzipien höher stellen als Menschenleben, und was wird aus unserem Prinzip der Gewaltfreiheit, wenn es sich vor der menschenverachtenden Gewalt beugt? Wie muß sich eine gewaltfreie Partei, die sich in ihrem Gründungsprogramm zum Notwehrrecht klar und eindeutig bekennt, in diesem Konflikt zwischen Notwehrrecht und Gewaltfreiheit verhalten?"

Joseph Fischer, der 1991 den Pazifismus noch gegen den Golfkrieg verteidigt und einige Zeit später noch Befürchtungen ausgesprochen hatte, die "Selbstbeschränkung deutscher Außenpolitik" werde schrittweise aufgehoben, der Bundestag werde an der "humanitären Nase" in den Krieg geführt,[17] übte demnach unter dem Eindruck der Berichte über serbische Massaker an bosnischen Muslimen, auf die Partei der Grünen massiven Druck aus. Seine implizite Forderung lief auf eine "Interventionspflicht bei Völkermord" als einen "unveräußerlichen Kern des Antifaschismus" hinaus.[18] Die deutsche Linke laufe massiv Gefahr, "ihre moralische Seele zu verlieren, wenn sie sich (...) vor diesem neuen Faschismus und seiner Politik der Gewalt wegduckt"[19]. Damit war die offene Wende der grünen Positionen zur Außenpolitik eingeleitet.

Anmerkungen:
  1. Gerhard Stuby: Die "gefesselte" Souveränität der Bundesrepublik. Zur Entwicklung der BRD im Rahmen der US-Globalstrategie, Heilbronn 1987, S. 173.
  2. Michael Jäger: Probleme und Perspektiven der Berliner Republik, Münster 1999, S. 137f.
  3. "Zielgenau ins Ungewisse. Der Sieg im Kosovo wird ein Fehlschlag sein", in: FAZ vom 2. Juni 1999.
  4. Vgl. Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, in: MEW 23, S. 99.
  5. Siehe Walter von Goldendach / Hans-Rüdiger Minow: Von Krieg zu Krieg. Die deutsche Außenpolitik und die ethnische Parzellierung Europas, 3. Aufl., Berlin 1999.
  6. Karl Otto Hondrich: "Moral und Menschenrechte", in: ders.: Wieder Krieg, Frankfurt am Main 2002, S. 111-129; S. 121.
  7. Vgl. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, S. 129.
  8. Karl Otto Hondrich: "Moral und Menschenrechte", a.a.O., S. 120.
  9. Vgl. Wolfgang Schneider (Hg.): Bei Andruck Mord. Die deutsche Propaganda und der Balkankrieg, Hamburg 1997, S. 149-159.
  10. Vgl. Volkhard Mosler: An Krieg wieder gewöhnen? Niemals! Die Rückkehr des deutschen Militarismus, Frankfurt am Main 1999, S. 46.
  11. Jacques Merlino: "Da haben wir voll ins Schwarze getroffen", in: Klaus Bittermann: Serbien muß sterbien, Berlin 1994, S. 153ff.
  12. Ludger Vollmer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, im Interview, in: Neues Deutschland vom 1. April. 1999.
  13. Siehe Deichmanns Bericht, in: Wolfgang Schneider (Hg.): Bei Andruck Mord, a.a.O., S. 248-260.
  14. Vgl. Wolfgang Schneider (Hg.): Bei Andruck Mord, a.a.O.
  15. "Ungeschützte Schutzzone. Der Fall von Srebrenica", nach einem Bericht von Yvonne Bangert, in: pogrom 185, Oktober/November 1995, Internet.
  16. Siehe Joseph Fischer: "Die Katastrophe in Bosnien und die Konsequenzen für unsere Partei Bündnis 90 / Die Grünen. Ein Brief an die Bundestagsfraktion und an die Partei" vom 30. Juli 1995, Internet; siehe die Entgegnungen der Grünen-Spitzenpolitiker, dokumentiert ebd.
  17. "Streitgespräch zwischen Fischer und Cohn-Bendit", in: taz vom 30. Dezember 1994.
  18. Vgl. "Wohin führt die Forderung nach einer militärischen Interventionspflicht gegen Völkermord? Ein offener Brief an die Mitglieder von Bündnis 90 / Die Grünen, von Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Vollmer", Internet.
  19. Siehe Joseph Fischer: "Die Katastrophe in Bosnien und die Konsequenzen für unsere Partei Bündnis 90 / Die Grünen", a.a.O.
* Bei dem Text handelt es sich um eine Kompilation von Passagen aus dem Buch des Autors: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland, Hannover: Offizin 2008, ISBN: 3930345502, Preis: 24,80 EUR.

Dr. Marcus Hawel ist Soziologe und Mitherausgeber der Online-Zeitschrift "Sozialistische Positionen" (sopos.org).



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