Kosovo: UN-Protektorat oder Mafia-Republik
Die UNMIK sitzt zwischen allen Stühlen. Von Jean-Arnault Dérens *
* Journalist (Cetinje, Montenegro). Autor von "Balkans, la crise", Paris (Folio Actuel) 2000 und, gemeinsam mit Catherine Samary, von "Conflits yougoslaves", Paris (Editions de l'Atelier) 2000.
Die Ereignisse in Belgrad seit der Präsidentenwahl Ende September 2000 haben die Probleme der Region Kosovo in den Hintergrund treten lassen. Doch auch schon vorher galt die internationale Aufmerksamkeit nicht mehr den Verhältnissen in dieser serbischen Provinz, die in den vergangenen 15 Monaten gekennzeichnet war durch eine massive Vertreibung der serbischen Bevölkerung. Auch nach der Ablösung des Milosevic-Regimes hängt die Zukunft der Jugoslawischen Föderation und ihre künftige Beziehung zu Europa von der Entwicklung im Kosovo ab. Die bevorstehenden Kommunalwahlen finden in einem zutiefst gespaltenen Land statt, das vorerst offenbar nur als Protektorat einer internationalen Organisation lebensfähig ist. Doch die UN-"Friedensmission" im Kosovo droht zwischen den albanischen und den serbischen Hardlinern zerrieben zu werden. Der nachfolgende Hintergrundbericht beschreibt die Probleme der Region relativ ausgewogen. Wir haben den Artikel der Le Monde diplomatique vom 13. Oktober 2000 entnommen (taz-Beilage).
Auch wenn Bernard Kouchner, Chef der Friedensmission der Vereinten Nationen im Kosovo (Unmik), die Abhaltung der gesamtjugoslawischen Parlamentswahlen im Kosovo als "unpassend" beurteilte - die Kosovo-Serben sind am 24. September sehr wohl zur Wahl gegangen. Die Kosovo-Albaner aber wollten sich nicht beteiligen; dies hätte zu deutlich in Erinnerung gerufen, dass das Kosovo gemäß der Resolution 1244 der Vereinten Nationen noch immer Bestandteil der Jugoslawischen Föderation ist. An den für den 28. Oktober angesetzten Kommunalwahlen im Kosovo, die eine rechtmäßige Regionalverwaltung schaffen sollen, werden umgekehrt vielleicht die verbleibenden Serben nicht teilnehmen.
Die mehr als 200 000 vertriebenen Serben, Montenegriner, Roma und muslimischen Slawen jedenfalls werden sich tatsächlich nicht beteiligen können, während die etwa 100 000 noch in der Provinz lebenden Serben sich zum Boykott zusammenschließen. Der Wahlkampf richtet sich somit an die Albaner, und er ist überschattet von Gewaltakten.
Am 18. August beispielsweise wurde im Zentrum von Pristina ein Gebäude der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) durch eine heftige Explosion beschädigt. Das Gebäude beherbergte mehrere politische Parteien der ethnischen Minderheiten. Das Attentat richtete sich insbesondere gegen die Sektion der Partei der demokratischen Aktion (SDA), der muslimischen Slawen des Kosovo, einer Gemeinschaft, die sich immer bedrohter und zwischen serbischem und albanischem Nationalismus aufgerieben fühlt. Dasselbe gilt für die Türken, die aufgefordert werden, sich zu ihrem Albanertum zu bekennen, wenn sie nicht vertrieben werden wollen.(1)
Dennoch haben sich einige Angehörige dieser Volksgruppen in die Wählerlisten eingetragen, denn sie wollen, wie sie kundtun, dem Kandidaten des Demokratischen Bundes des Kosovo (LDK), der Partei von Ibrahim Rugova, ihre Stimme geben, um "ein Gegengewicht zu den albanischen Extremisten" zu bilden. Zwar denken einige albanischsprachige Zigeuner, insbesondere unter den Ashkalli, ähnlich, aber die Mehrheit der im Kosovo verbliebenen Roma hat sich nicht in die Wählerlisten eingetragen. Ohnehin ist der Großteil der Roma, Serben und Montenegriner aus dem Kosovo nach Montenegro oder Serbien geflüchtet.(2) In Serbien hat die Regierung Milosevic die Bemühungen der OSZE-Vertreter unterbunden, den Vertriebenen die Eintragung in die Wählerlisten zu gewähren. Doch auch in Montenegro, wo die Behörden der Arbeit der internationalen Organisationen entgegenkommen, hat sich nur eine verschwindend geringe Zahl der Flüchtlinge registrieren lassen.
Im Kosovo selbst spricht sich nahezu die gesamte serbische Bevölkerung für den Boykott aus. Ungeachtet der politischen Differenzen, die die rund 100 000 Mitglieder zählende serbische Gemeinschaft spalten, schlossen nahezu alle politischen Vertreter die Möglichkeit einer Teilnahme an den Wahlen aus, solange die Kosovo-Serben keinerlei Sicherheitsgarantien erhielten. Diese Position vertrat von Anfang an Oliver Ivanovic, Sprecher des serbischen nationalen Rats von Kosovska Mitrovica: Doch auch die gemäßigten Serben des nationalen Rates von Gracanica und der orthodoxen Kirche schlossen sich dieser Ansicht an. "Oliver Ivanovic ist hochgradig daran interessiert, das Schlimmste heraufzubeschwören, da er eine Teilung des Kosovo und die Bildung einer winzigen, von ihm kontrollierten serbischer Republik in Kosovska Mitrovica anstrebt", erklärt Pater Sava Janjic, Sprecher des orthodoxen Bistums. Er fügt jedoch hinzu: "Die Serben können unter den gegebenen Umständen die Wahlen nicht gutheißen."
Unter dem Schutz des "Paten"
DIE Kirche und ihre Anhänger scheinen sich tatsächlich in einer schwierigen politischen Lage zu befinden. Ihr Schwanken zwischen Boykott oder Teilnahme an den von der internationalen Übergangsverwaltung eingerichteten Institutionen zur gemeinsamen Führung der Republik hat die serbische Öffentlichkeit weitgehend verunsichert. Über einen stabilen Rückhalt in der Gesellschaft verfügt sie nicht mehr. Oliver Ivanovic hingegen weiß die 50 000 Serben hinter sich, die im nördlichen Stadtteil von Kosovska Mitrovica und in den Nachbargemeinden Zvecan, Zubin Potok und Leposavic leben.
Ivanovic ist ein ehemaliger Kader der lokalen Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) von Slobodan Milosevic, der seine kleine Hochburg absolutistisch regiert. Er kann sich auf eine eigene Miliz stützen. Die internationalen Institutionen scheinen seine Rolle als "Pate" akzeptiert zu haben. Im Juni wies er seine Anhänger an, Fahrzeuge des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) anzugreifen. Daraufhin stellte die Organisation ihre Tätigkeit im serbischen Teil vorübergehend ein, bis sie sich auf ein neues Abkommen einließ. Heute arbeitet das UNHCR unter dem "Schutz" von Ivanovic Männern.
Oliver Ivanovic versteht sich bestens darauf, Spannungen zu evozieren, um eine übertriebene Berichterstattung der Ereignisse in Kosovska Mitrovica zu erreichen. Doch selbst wenn die internationale Übergangsverwaltung die Hypothese von einer Teilung des Kosovo bis auf weiteres offiziell ausschließt, deutet in Wirklichkeit alles darauf hin, dass der Norden der Stadt als ein Territorium akzeptiert wird, das dem allgemeinen Recht im Kosovo nicht unterliegt. Der albanische Extremismus bestärkt die Anhänger von Oliver Ivanovic in ihrer Haltung: "Lieber ein geteiltes Kosovo als ein Kosovo ohne Serben."
In der kleinen, ausschließlich von Serben bewohnten Stadt Leposavic im äußersten Norden des Kosovo sind nun Stimmen aufgetaucht, die sich für eine Beteiligung von Serben an den Oktoberwahlen aussprechen. Das Wahlbündnis für Leposavic, in dem sich die serbischen Oppositionsparteien zusammengeschlossen haben, vertritt die Ansicht, die Zukunft der Serben im Kosovo sei nur durch eine Zusammenarbeit mit den internationalen Institutionen möglich. Im Juli gab die OSZE inoffiziell bekannt, im gesamten Kosovo hätten sich 400 Serben in die Wählerlisten eingetragen, 300 davon allein in der Gemeinde Leposavic. Diese Zahl ist zweifelsohne sehr gering, und man scheint sich damit abzufinden, dass die Serben an dieser Wahl nicht teilnehmen.
Pater Sava zeigt wenig Hoffnung: "Mehr als ein Jahr nach dem Einzug der internationalen Truppen werden nach wie vor täglich Serben angegriffen. Die Unfähigkeit, den albanischen Extremismus zu unterdrücken, leistet dem serbischen Extremismus Vorschub." In der Tat wird nach dem Wahlboykott der Serben zwangsläufig über den verfassungsmäßigen Status der serbischen Bevölkerung neu diskutiert werden müssen. So wie sich einige Stadtenklaven auf kurze Sicht mit ihrem Schicksal werden abfinden müssen, wird sich die nördliche Region von Kosovska Mitrovica raschen Schrittes vom restlichen Kosovo absetzen.
Auf albanischer Seite haben sich offiziell zwar 25 Parteien für die Wahl registrieren lassen, doch die entscheidende Auseinandersetzung wird im Wesentlichen zwischen drei großen Gruppierungen geführt: dem Demokratische Liga des Kosovo (LDK) von Ibrahim Rugova, der Demokratischen Partei Kosovas (PDK) von Hashim Thaçi, der zahlreiche ehemalige Untergrundkämpfer der Kosovobefreiungsarmee UÇK angehören, und der Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK), einem auf Initiative des ehemaligen Kommandanten Ramush Haradinaj gegründeten Bündnis, das Hashim Thaçi das Recht streitig macht, sich als Einziger auf den bewaffneten Kampf zu berufen.
Seit seiner Rückkehr in das Kosovo im Juli 2000 hat sich Ibrahim Rugova an den rund um Bernard Kouchner entstandenen Regierungsinstitutionen beteiligt und einige beruhigende Erklärungen abgegeben, in denen er die politische Gewalt verurteilt. Ansonsten meldete er sich nicht zu Wort. Seine Partei, der im Wesentlichen ältere Aktivisten angehören, die sich in den Jahren des "passiven Widerstands" einen Namen gemacht haben, scheint politisch gelähmt zu sein. Deshalb haben ihr manche Ibrahim Rugova nahe stehende Kader wie Milazim Krasniqi bereits den Rücken gekehrt. Einige Beobachter vermuten auch, dass diese Ruhe und Untätigkeit eine bewusste Strategie sein könnte. Die LDK hoffe, dass die Ex-Untergrundkämpfer der UÇK politische Fehler machen, um anschließend als unbelastete Kraft die Wahlen zu gewinnen.(3)
Wie aus Umfragen vom Frühjahr hervorgeht, scheint die LDK tatsächlich deutlich vor ihren Gegnern zu liegen. Ibrahim Rugova kann auf einen "legitimistischen" Reflex der Wähler hoffen, die für den ehemaligen Chef stimmen könnten, der die Jahre des Kampfes gegen die serbische Regierung symbolisiert. Sein Handlungsspielraum scheint jedoch äußerst begrenzt. In mehreren Gemeinden des Kosovo ist die LDK inzwischen gezwungen, mehr oder weniger in der Illegalität zu wirken.
In Decani im Westen Kosovos gab es mehrfach Anschläge mit Plastiksprengstoff gegen LDK-Lokale. Trotz der Präsenz von Nato-Soldaten, UNO-Polizisten und zivilen OSZE- und Unmik-Vertretern kann die Partei in dieser Gemeinde offenbar nicht öffentlichauftreten. Noch schlimmer ist die Lage in Srbica, wo der örtliche Parteiführer, Haki Imeri, im November 1999 ermordet wurde und die LDK-Aktivisten von einem fürchterlichen Klima der Angst sprechen: Sie würden telefonisch bedroht, und die Anhänger der ehemaligen UÇK, die alle strategischen Posten in der Gemeindeverwaltung besetzen, obwohl diese theoretisch von der Unmik geleitet werden sollte, verweigerten ihnen jegliche humanitäre Hilfe.(4)
Die Männer der ehemaligen Untergrundarmee - darunter selbstverständlich viele, die im letzten Moment auf den fahrenden Zug des Widerstands aufgesprungen sind - erzeugen ein Klima der Intoleranz, das auf der Provinz lastet. Während sich die UÇK 1999 offiziell aufgelöst hat, ist die Macht der ultranationalistischen Ideologen, die sie kontrollieren, nach wie vor ungebrochen. Sie ruht auf zwei Säulen: eine ideologischen und eine militärisch-polizeilichen.
Die erste Säule ist die PDK und ihre imApril 1999 noch in Albanien ausgerufene "Regierung", die in allen Gemeinden des Kosovo lokale Verwaltungen eingesetzt hat. Die Zivilverwalter der Unmik hatten oft keine andere Wahl, als sich mit den ehemaligen Untergrundkämpfern, die in den Gemeinden die wichtigsten Machthebel in Händen halten, gütlich zu einigen. Die Verbündeten von Hashim Thaçi konnten mögliche Konkurrenten erfolgreich verdrängen. Dies gilt beispielsweise für Bardhyl Mahmuti, der während des Kampfes UÇK-Sprecher in der Schweiz war und mit der Partei der Demokratischen Vereinigung (PBD) eine konkurrierende Liste gründete. Mahmuti soll das Kosovo bereits wieder verlassen haben. Zwar verurteilt die PDK formell die Gewalt, doch viele ihrer Kader sind an der Beseitigung vermeintlicher ehemaliger "Kollaborateure" und an Übergriffen auf nationale Minderheiten beteiligt.
Im Verteidigungskorps des Kosovo (TMK) - offiziell eine Zivilstruktur, die in Wirklichkeit aber nach militärischen Prinzipien organisiert ist - sind rund 5000 ehemalige Kämpfer untergekommen. Das Korps bildet die militärische Stütze der ehemaligen UÇK. Es ist in sechs Regionalkommandos eingeteilt, die sich mit den ehemaligen Kampfgebieten der UÇK decken. Das TMK betont bei jeder Gelegenheit die "Kontinuität" mit der ehemaligen Untergrundarmee. Was die Geheimdienste der UÇK betrifft, scheint eine Auflösung nicht stattgefunden zu haben. Zudem unterhält das TMK enge Verbindungen mit der Befreiungsarmee von Presevo, Medvedja und Bujanovac (UCPMB), drei teilweise albanisch bewohnten Gemeinden in Südserbien, in denen seit dem Ende der Kämpfe im Kosovo zeitweilig Untergrundoperationen durchgeführt wurden.
UÇK - Politik und Mafia
DIE UÇK ist ihrer Verpflichtung zur Entwaffnung nur formal nachgekommen. Das beweisen die wenigen entschlossenen Operationen der internationalen Truppen, bei denen insbesondere in Drenica Waffenlager gefunden wurden. Zwar hat die internationale Übergangsverwaltung eine kollektive Übernahme der ehemaligen UÇK-Kämpfer in den neuen Polizeidienst des Kosovo (KPS) abgelehnt, doch vielen der ehemaligen Untergrundkämpfer ist es individuell gelungen, im KPS unterzukommen. Diese Männer arbeiten natürlich mit der Militärpolizei (PU) der ehemaligen UÇK zusammen, die zwar offiziell aufgelöst, aber immer noch aktiv ist. Insbesondere auf dem Land scheuen die Männer der PU nicht, in aller Öffentlichkeit aufzutreten und beispielsweise den Verkehr zu regeln, aber auch weniger harmlose Tätigkeiten auszuüben, zum Beispiel die "illegale" Eintreibung von Steuern für die "Regierung" Thaçi und ihre lokalen Verwalter.
Mehrere Männer des TMK, der PU und sogar ehemalige UÇK-Kämpfer, die für die internationale Polizei arbeiten, sind direkt in politische oder interethnische Gewaltakte verwickelt. Der Innenminister der "Regierung" Thaçi, Rexhep Selimi, hält weiterhin die Kontrolle über die PU und den zivilen Geheimdienst SHIK, der von der UÇK aufgebaut wurde. Dieser erfährt vermutlich technische Unterstützung von ehemaligen SHIK-Agenten aus Albanien, die dem früheren liberalen Regierungschef Sali Berisha verpflichtet sind.
Was ihre chauvinistischen Propaganda betrifft, muss die PDK die Konkurrenz einer kleinen Gruppe fürchten, die ihre proalbanisch marxistisch-leninistische Lehrmeinung noch nicht offiziell aufgegeben hat, die Nationale Befreiungsbewegung des Kosovo (LKÇK). Sie verfügt über einige traditionelle Bastionen und könnte so manchen enttäuschten PDK-Anhänger anziehen. Die größte Bedrohung für die Einheit der PDK stellen jedoch die komplizierten Interessenkonflikte der Mafia dar.
So brannte in Pristina im Februar mehrere Tage lang das große Sportzentrum "Ramiz Sadiku", in dessen Untergeschoss sich von Hrustem Mustafa kontrollierte, gut gehende Kaufhausgalerien befanden. Mustafa, besser bekannt unter seinem Kriegsnamen Kommandant Remi, befehligte die UÇK und später den TMK im Sektor Llap, zu dem Pristina gehört. Der vermutlich gelegte Brand dürfte eine Warnung an Kommandant Remi gewesen sein, dem nachgesagt wird, er kontrolliere Handel und Erpressungen in der Hauptstadt des Kosovo. Weiteren Konfliktstoff zwischen ihm und Hashim Thaçi könnten die Tankstellen darstellen, die überall im Kosovo aus dem Boden schießen.(5)
Einen ähnlichen Einfluss übt Ramush Haradinaj, während der Kämpfe Kommandant des Sektors Dukagjin im Westen Kosovos, in seiner Herkunftsregion aus, obwohl er mittlerweile Stellvertreter des Oberkommandierenden des TMK, Agim Ceku, ist. Zwischen Prizren und Pec kann Haradinaj die gesamte Grenze zu Albanien und Montenegro überwachen. Dank dieser strategischen Stellung kontrolliert er wichtige Teile des Handels, insbesondere mit Erdöl und Zigaretten. Ein Grund für seinen Bruch mit Thaçi und die Gründung der AAK könnte in seiner Verwicklung in Mafiageschäfte liegen. In den vergangenen Monaten entgingen sowohl Ramush Haradinaj als auch Hrustem Mustafa nur knapp einem Attentat. Daß das organisierte Verbrechen um sich greift und die Provinz von "Patrioten" mit stalinistischen Praktiken ungehindert aufgeteilt wird, erklärt sich auch durch das Fehlen aller Ansätze zu einerpluralistischen Diskussion. Kein einziger albanischer Intellektueller, keine einzige Zeitung und keine politische Partei wagen es, die ehemalige UÇK wirklich zu kritisieren, die Verfolgung von Angehörigen der Minderheiten anzuprangern oder das nationalistische Dogma in Frage zu stellen. Nicht ideologische Differenzen trennen Ibrahim Rugova von Hashim Thaçi, sondern simple Machtinteressen. Beide verteidigen dasselbe Ziel, die Unabhängigkeit des Kosovo. Und beide befleißigen sich derselben heuchlerischen Verurteilung der Gewalt, ohne auch nur die geringste Geste zu wagen, um die auf dem Kosovo lastende bleierne Ideologie aufzubrechen.
Die internationale Übergangsverwaltung hat sich mit den "ethnischen Säuberungen unter umgekehrten Vorzeichen" abgefunden und den in der maoistischen Schule Enver Hoxhas entstanden Untergrundnetzen und Mafiabanden erlaubt, die Kontrolle über die Provinz zu übernehmen. Jahre lang gab es im Kosovo eine seltsame Zäsur zwischen einer "offiziellen", von der Belgrader Regierung kontrollierten Gesellschaft und einer "parallelen" albanischen Zivilgesellschaft. Heute lebt die Provinz erneut in einer Dichotomie zwischen der "offiziellen", von der Unmik verwalteten Gesellschaft, die sich an schönen Phrasen von Demokratie und Minderheitenschutz berauscht, und der wirklichen Gesellschaft, die von den aus der UÇK hervorgegangenen politisch-mafiösen Netzwerken kontrolliert wird.
Ein in Pristina tätiger französischer Diplomat räumt ein: "Die 25 Parteien, die sich an den Wahlen vom 28. Oktober beteiligen, bekennen sich alle zum gleichen Programm: Unabhängigkeit." Eine perverse Folge des Protektorats ist, dass die albanischen Parteien es nicht für nötig erachten, eine wie immer geartete politische Plattform auszuarbeiten. Denn die wichtigen Entscheidungen werden von der internationalen Übergangsverwaltung getroffen. Deshalb können sich die Parteien nur voneinander abgrenzen, indem sie sich in Demagogie übertreffen.
Der Chefredakteur der unabhängigen Tageszeitung Koha Ditore geht realistischerweise davon aus, dass "die UNO-Truppen zwischen zwei Illusionen gefangen sind: jener der Serben, die von ihrer Rückkehr überzeugt sind, und jener der Albaner, die fest davon ausgehen, ihre Unabhängigkeit erlangen zu können".(6)
(dt. Birgit Althaler)
Fußnoten:-
Vgl. "Albaner unter sich", Le Monde diplomatique, März 2000.
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Vgl. "Kein Platz für Roma im Kosovo", Le monde diplomatique, November 1999.
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Vgl. Llazar Semini, "Kosovo: Come back for Rugova", Institute for War and Peace, London, 23. Juni 2000.
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Vgl. "Elections in Kosovo, Moving towards Democracy?", International Crisis Group, Brüssel, 7. Juli 2000.
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Vgl. "What happened to the KLA?", International Crisis Group, Brüssel, 3. März 2000.
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Baton Haxhiu, Interview mit Emanuelle Rivičre, Le Courier des Balkans, Paris, Juni 2000, http://bok.net/balkans/.
Aus: Le Monde diplomatique Nr. 6269 vom 13.10.2000, Seite 9
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