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Stimmen aus Belgrad: Mit Kostunica aus der Krise?

Notizen von Ilina Fach (Marburg)

Ilina Fach (Marburg) hielt sich vor und während der Wahl in Belgrad auf und hatte die Gelegenheit, mit vielen Menschen in der Stadt über die Wahl, die Kandidaten und die Zukunft des Landes zu sprechen. Über ihre Eindrücke schrieb sie einen Bericht, den sie uns zur Verfügung stellte. Wir dokumentieren eine paar Auszüge:

Kurz vor und während der Kommunal-, Bundes- und Präsidentenwahlen war die Atmosphäre in der Zweimillionen Stadt Belgrad politisiert. Überall diskutierten Menschen über die Vorteile eines Jugoslawien, das sich der EU öffnet, und über die Isolation des aktuellen Regimes. Die öffentlichen Diskussionen machten deutlich, daß es sich bei diesem System nicht um klassische Merkmale einer Diktatur handelte, wohl aber um ein autoritäres, zentralistisch orientiertes Mehrparteien-System, das nicht mehr kommunistisch und noch nicht vollständig kapitalistisch funktioniert. Eine stagnierende Übergangssituation, in der die Mängel des einen und anderen Systems sich niederschlugen."
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"Ein früher im Hoch- und Tiefbau beschäftigter Facharbeiter, heute Rentner, erzählte mir: er sei von der westlichen Demokratie enttäuscht. Deren Politiker überträten ihre ethischen und demokratischen Gesetze, um Kriege zu führen. Die Massenmedien hätten beim Angriff auf ihr kleines, autonomes Land, nur unkritisch Regierungsmeinung vertreten. Ein weiteres Wahlpotential von Milosevic sind Flüchtlinge aus dem Kosovo, die sich eine Rückkehr mit seiner Hilfe erwarteten; desgleichen Arme, die von einer stärkeren Kapitalisierung keine Verbesserung ihrer Lage erhoffen. Wer allerdings Milosevic wählte, den warnte das westliche Ausland vor einer für November 2000 von den USA und der NATO geplanten militärischen Intervention."
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"Intellektuelle der demokratischen Opposition versprachen sich mit der Wahl Vojislav Kostunicas als Präsidenten
  • die Garantie des Prinzips der Abwählbarkeit des Präsidenten
  • die von Westeuropa versprochene Aufhebung der Sanktionen
  • die von der EU versprochenen 2,3 (nach der Wahl 400 Millionen DM Soforthilfe) Milliarden Euro Wiederaufbauhilfe
  • Eine Reform des Rechtssystems
  • Eine Öffnung nach Europa
  • daß Spezialisten und die Jugend nicht mehr das Land verlassen."
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"Die von der NATO bombardierten Industrien sind noch nicht oder nur in beschränktem Umfang funktionsfähig. Deren Beschäftigte hofften auf eine Rückkehr zu den Arbeitsplätzen, wenn durch Aufhebung der Sanktionen wieder ein Handel mit Ersatzteilen ins Land kommt. Nur die Landwirtschaft und Elektro- und Computerindustrie waren bis jetzt funktionsfähig. Deren gut ausgebildete Spezialisten erwarteten, daß ihre Arbeitskraft wieder im Ausland gefragt sein wird."
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"Westeuropa profitierte jahrelang von dem sozialistischen Bildungssystem in Jugoslawien. Schüler können dort mit 17 Jahren ihr Abitur machen. Mit 21 oder spätestens 23 Jahren stehen sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Darauf bauen auch heute viele Familien. In Belgrad sah ich in vollkommen übermüdete Gesichter. Väter und Mütter arbeiten teilweise in zwei Berufen, um ihren Kindern ein Auslandsstudium zu ermöglichen, weil inzwischen viele Professoren ins Ausland abgewandert sind. Die Green-Card könnte für sie einen Ausweg aus der Misere darstellen und für den Westen Milliarden an langfristigen Bildungskosten einsparen. Slavica S., eine 16-jährige Schülerin einer Klasse aus Belgrad, übersetzte den Wunsch ihrer Klassenkameraden in Englisch: "fast alle ihrer Klasse wollen alle ins Ausland gehen, falls Milosevic bleibt. Sie wollen ein weltoffenes Land, aus dem sie heraus- und hereinreisen können, wann sie möchten."

Vor der Wahl plädierten beinahe alle Taxifahrer in Belgrad, mit denen ich sprach, gegen Milosevic, "weil der Tourismus durch die Isolation Serbiens verloren gegangen ist." Einer meinte: "Nur die Dummen wählen noch Milosevic. Er hat uns in Bürgerkriege und Isolation geführt. Aber nicht nur er, sondern auch die NATO gehört bestraft." Nur ein Taxifahrer war sich unsicher, weil er nach dem Wahlsieg Kostunicas befürchtete: "Die verstärkte Einführung kapitalistischer Strukturen wird, wie im Westen, die bestehenden sozialen Disproportionen verschärfen".

Risto J., ein ehemaliger Widerstandskämpfer gegen den Faschismus, der heute Rentner ist, trat 1990 aus der SPS aus, als diese seinen Vorschlag einer Demokratisierung nicht angenommen hatte. Er und viele seiner Freunde wählen nun "Kostunica wegen seiner Integrität, weil er weder in die Finanzmachenschaften des Regimes verwickelt ist, noch sich für die NATO-Angriffe aussprach. Zwar verspricht er wenig und ist konservativ, aber eine Isolation, Intervention und Fortsetzung der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Stagnation sind noch unannehmbarer." Dragutin M-Z., ein bekannter Künstler, der aus Protest gegen die NATO-Bomben Collagen gefertigt hatte, wollte "erst wieder öffentlich ausstellen, wenn Milosevic abgetreten" sei. Der Bauer, Voijlaw J., "möchte seine ökologischen Produkte in EU-Ländern verkaufen" und wählt deshalb Kostunica."

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