Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Milosevic außer Landes geschafft - die Probleme bleiben

Was brachte das Jahr 2001 für Jugoslawien?

Das herausragende Ereignis des abgelaufenen Jahres in Jugoslawien war zweifellos die Verhaftung und Auslieferung des ehemaligen Staatspräsidenten Milosevic. Milosevic ist vielfacher Kriegsverbrechen, ja sogar des Völkermords angeklagt - nicht in Jugoslawien, wohl aber beim Internationalen Sondertribunal in Den Haag. Das Problem für deren Chefanklägerin Carla del Ponte bestand darin, dass ihr Arm nicht bis Belgrad reicht und die Milosevic zur Last gelegten Verbrechen von der jugoslawischen Justiz niemals als Verbrechen eingestuft worden wären. Schließlich hat Milosevic jahrelang als gewählter Präsident und Vollstrecker der Staatsräson in Übereinstimmung und mit Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung die territoriale Integrität Jugoslawiens - und nach Dayton vor allem Serbiens - zu verteidigen gesucht. Selbst die Wahl seiner politischen und militärischen Mittel entsprach in den Augen vieler seiner Landsleute durchaus der kriegerischen Gesamtsituation. Nach dem im Oktober 2000 herbeigeführten Regimewechsel in Belgrad, der einen verhalten nationalistischen Präsidenten Kostunica und einen haltlos prowestlichen Ministerpräsidenten Djindjic an die Schalthebel der politischen Macht brachte, verlor dieses kollektive Einverständnis an Zugkraft. Der Westen, der die Auflösung Jugoslawiens und den Sturz Milosevics seit Jahren auf seine Fahnen geschrieben hatte, legte sich mächtig ins Zeug, um den wenig überzeugenden militärischen Sieg 1999 nun doch noch in einen vollständigen politischen Sieg umzumünzen. Dazu musste Belgrad nur noch die ehemalige Staatsführung mit Milosevic an der Spitze an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausliefern.

Um dies zu erreichen, zeigte man Belgrad die gängigen Folterwerkzeuge, die der Westen unterhalb der Schwelle der Kriegsdrohung anzuwenden beliebt: Finanzielle und ökonomische Erpressung. Die US-Administration hatte der serbischen Führung ein Ultimatum gestellt: Entweder Milosevic wird bis zum 1. April verhaftet, oder die in Aussicht gestellte Finanzhilfe von 100 Millionen US-Dollar wird nicht überwiesen. Ministerpräsident Djindjic drohte seinen eigenen Landsleuten damit, die Regierung würde stürzen und das Land in Chaos versinken, wenn die amerikanische Finanzhilfe nicht käme.

In den frühen Morgenstunden des 1. April gelang es der neuen Staatsmacht, Milosevic in seiner Villa festzusetzen und ins Zentralgefängnis zu überführen. Der Verhaftung war eine 26-stündige Belagerung voran gegangen, in dessen Verlauf sich Leibwächter und Anhänger des ehemaligen Präsidenten mit Sondereinheiten der Polizei einen Schusswechsel lieferten. Erst nach langen Verhandlungen hat sich Milosevic bereit erklärt sich freiwillig der Justizbehörde zu stellen. Präsident Kostunica soll zuvor das Versprechen abgegeben haben, Milosevic nicht an das Haager Tribunal auszuliefern. Damit befolgte Kostunica nur die Verfassung Jugoslawiens, die eine Auslieferung von Staatsbürgern nicht vorsieht. Hinzu kommt, dass die gegen Milosevic erhobenen Anklagepunkte einen Prozess im eigenen Land erforderlich machen, geht es doch um ihm zur Last gelegte Delikte wie "Amtsmissbrauch" und "Wirtschaftskriminalität" bzw. Korruption. Wäre Milosevic wegen solcher Delikte verurteilt worden, hätte er mit einer Höchststrafe von fünf Jahren rechnen können. Nicht genug in den Augen des serbischen Innenministers Dusan Mihajlovic, der die martialische Aktion maskierter Sicherheitskräfte in der Nacht vom 30. auf den 31. März angeordnet hatte. Nicht genug natürlich auch in den Augen des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic, der schon immer den Standpunkt vertrat, Milosevic gehöre als Hauptkriegsverbrecher vor das Sondertribunal in Den Haag. "Djindjic, der Pragmatiker", so kommentierte die Süddeutsche Zeitung, "sucht die Nähe zum Westen. Er weiß um die Abhängigkeit seines Landes von internationalen Aufbaugeldern, und er ist bereit, diese Finanzhilfe auch als Kopfgeld auf Milosevic zu akzeptieren. Deshalb scheute er sich nicht einmal vor der Pikanterie, die seinem serbischen Innenministerium unterstellten Polizeikräfte just an dem Tag zuschlagen zu lassen, an dem ein an Washingtoner Hilfsgelder geknüpftes Ultimatum ablief. Djindjic selbst dürfte, auch wenn er das nicht offen zu sagen wagt, kein Problem damit haben, Milosevic wie gefordert an das Haager Tribunal auszuliefern." (SZ, 02.04.2001)

Auch die Vereinigten Staaten und die deutsche Bundesregierung zeigten sich hoch zufrieden mit dem Verlauf der Staatsaktion. Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien vor zwei Jahren war schließlich nicht um den Kosovo geführt worden, sondern um den widerspenstigen Machthaber in Belgrad endgültig los zu werden. Die bürgerkriegsähnliche Situation im Kosovo hatte nur als Vorwand gedient, um das letzte "sozialistische" oder sagen wir besser: "nicht westliche" Regime in Europa zu beseitigen. Auch um von den eigenen Kriegsverbrechen abzulenken (und der Krieg selbst war schon ein Verbrechen gegen das Völkerrecht), musste das ideologische Kesseltreiben gegen den zum "Hitler des Balkan" dämonisierten Milosevic aufrecht erhalten werden. Ein Prozess gegen Milosevic - und nur gegen Milosevic - sollte auch das dem Westen ungelegene Auftreten der terroristischen UCK in Mazedonien vergessen machen. Dabei war es zunächst unerheblich, ob der Prozess ausschließlich in Belgrad oder - wie es Djindjic versprach - "zunächst" in Belgrad und "später" in Den Haag stattfinden würde.

In ersten Reaktionen haben Kroatien und die Vertreter der Kosovo-Albaner eine sofortige Auslieferung an das Kriegsverbrecher-Tribunal gefordert. Russland warnte dagegen vor einem solchen Schritt. Die Chefanklägerin des Tribunals, Carla del Ponte, und Vertreter von EU und Nato werteten die Festnahme als ersten Schritt hin zu einer Auslieferung Milosevics nach Den Haag und als wichtigen "Beitrag für die Stabilität" auf dem Balkan. Auch Bundesaußenminister Fischer, Frankreichs Staatspräsident Chirac und der britische Außenminister Robin Cook begrüßten die Entwicklung in Belgrad. Außenminister Fischer machte in Berlin deutlich, dass Deutschland weiterhin auf einer Überstellung von Milosevic an das Kriegsverbrechertribunal bestehe. Ihnen allen scheint es allein auf das Ergebnis anzukommen: Ein Schuldspruch nicht nur wegen Amtsmissbrauch und Korruption, sondern auch wegen "Vertreibung" und "Völkermord" musste es sein!

Entsprechend groß war der Druck, der in der Folge auf Belgrad ausgeübt wurde. Am 28. Juni schließlich wurde der innenpolitische und juristische Streit um die Auslieferung mit einem Gewaltakt der Regierung beendet: Entgegen dem Veto des obersten jugoslawischen Verfassungsgerichts wurde Milosevic aus dem Gefängnis geschafft und in einem Autokonvoi zu einem US-Stützpunkt in Bosnien gebracht und von dort nach Den Haag geflogen. Nicht einmal Präsident Kostunica war über diese Entführung informiert worden. Wieder hatte Djindjic sein Spiel gespielt - auf Anweisung des Westens. "Dies war ein erstaunlich effektives Beispiel für richtig angewandten Druck", lobte der frühere US-Botschafter bei der UNO, Richard Holbrooke, den Coup (FR, 30.06.2001). Zwei Mal hatte in der Woche vor der Auslieferung US-Außenminister Powell mit Djindjic telefoniert und ihm unmissverständlich klar gemacht: Ohne eine Überstellung Milosevics gibt es kein Geld aus Washington! Einen Tag nach der Auslieferung begann in Brüssel eine "Geberkonferenz", bei der die EU und die USA 1,25 Mrd. US-Dollar für den Wiederaufbau Jugoslawiens zugesagt haben. Bundeskanzler Schröder nannte die nach jugoslawischem Recht illegale Auslieferung Milosevics einen "guten Tag für die Gerechtigkeit". Er wäre der Wahrheit näher gekommen, wenn er gesagt hätte: Einen "guten Tag für die Käuflichkeit".

Hat es Jugoslawien wenigstens genützt? Auf diese Frage antwortete Oscar Kovac, Wirtschaftsprofessor an der Universität Belgrad und Privatisierungsminister zwischen 1998 und 2000 in einem Interview für die Wochenzeitung "Freitag": Auf der Brüsseler Geberkonferenz im Sommer 2001 gab es Zusagen in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar. Davon kamen etwa 500 Millionen von einzelnen EU-Ländern, wovon wiederum 350 Millionen direkt an die Europäische Investmentbank gingen, um alte jugoslawische Schulden zu begleichen. Der IWF hat übrigens im September 2001 vorgeschlagen, das Stand-by-Agreement zu überarbeiten. Dort stand auch, dass Jugoslawien 2001 ganze 250 Millionen US-Dollar als nicht rückzahlbare Kredite erhält." Ansonsten seien Jugoslawien seither nur Kosten entstanden. Etwa durch den Brief des jugoslawischen Präsidenten UN, mit dem er um eine neue Mitgliedschaft für Jugoslawien ersucht hat. Allein dieser Antrag, so rechnet Kovac vor, "kostet uns indirekt Milliarden Dollar. Anstatt UN-Gründungsstaat zu sein, werden wir nun als deren 186. Mitglied eingestuft." Dies habe bittere Konsequenzen wegen der Nachfolgeregelung für den Staat Jugoslawien. Kovac: "Die Regierung Milosevic hatte auf dem Nachfolgestatus des alten Jugoslawien bestanden. Seit Kostunica diese Position offiziell aufgegeben hat, gilt zum Beispiel das frühere Eigentum in Kroatien, Slowenien, Bosnien und Herzegowina nicht mehr als jugoslawisch. Allein dadurch haben Milliarden US-Dollar von einem Tag auf den anderen keinen alten Eigentümer mehr. Was sind dagegen die mageren 1,3 Milliarden US-Dollar der Geberkonferenz, die dort versprochen worden sind? Und dazu kommt noch etwas: Die frühere jugoslawische Regierung hat beim UN-Gerichtshof in Den Haag - nicht zu verwechseln mit dem so genannten Kriegsverbrechertribunal - Klage gegen die NATO-Staaten erhoben, Kompensation für die Kriegsschäden zu leisten. Allein die sichtbaren Zerstörungen werden auf 37 Milliarden US-Dollar beziffert. Der Prozess darüber war anhängig, obwohl nicht automatisch davon ausgegangen werden konnte, dass ihn Jugoslawien gewonnen hätte. Der Entschädigungsforderung stimmte anfangs auch noch die neue Regierung zu. Doch mit dem Brief von Kostunica an die UN ist der Prozess hinfällig geworden. Nun gilt juristisch, dass mit dem alten Jugoslawien ein Land bombardiert wurde, das es heute gar nicht mehr gibt und das demzufolge auch keine Kompensationen fordern kann. Dabei wäre es um ein Vielfaches jenes Betrages gegangen, den Jugoslawien nun als Bittsteller bekommen soll." (Freitag, 08.02.2002)

Jugoslawien befindet sich am Ende des Jahres 2001 in einer tiefen Depression. Die Inflation betrug aufs Jahr berechnet über 100 Prozent, die Arbeitslosigkeit hat einen neuen Höchststand erreicht und der Lebensstandard ist weiter gesunken. Ohne Milosevic könne man zwar "freier atmen", sagte ein Journalist beim Lokalradio in Kragujevac, "doch nun droht uns die soziale Bombe" (FR, 2./3.10.2001). Eine andere Frage ist, ob denn mit der Überstellung von Milosevic wenigstens dem internationalen Recht Genüge getan ist. Vielleicht wird der Prozess, der im Februar 2002 begann, darüber eine endgültige Antwort geben. Vorerst sollte daran erinnert werden, dass die Kriege, derentwegen Milosevic angeklagt ist, weit mehr als nur einen Vater hatten. Ein Tribunal, vor dem sich nur Milosevic zu verantworten hat, nicht aber die Befehlshaber jener NATO-Bomber, die mit ihrem Krieg gegen geltendes Völkerrecht verstießen, die gezielt zivile Ziele in Jugoslawien angesteuert haben, die Brücken, Fabriken und Krankenhäuser bombardieren ließen und die die Parlamente und die Bevölkerung mit Lügen und Gräuelmeldungen zur Kriegsbereitschaft hin manipuliert haben - ein solches Tribunal wird wohl kaum der Gerechtigkeit dienen.

Peter Strutynski


Weitere Beiträge über Jugoslawien

Zurück zur Homepage