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Die Pfählung

Vor fünfzig Jahren wurde Ivo Andric in Stockholm der Literaturnobelpreis überreicht – als bisher einzigem Jugoslawen. Sein Zauberland existiert längst nicht mehr. Doch es gibt Hoffnung

Von Gerd Schumann *

Am 10. Dezember 1961, nachdem ihm in Stockholm der Literaturnobelpreis überreicht worden war, charakterisierte Ivo Andric (1892–1975) in seiner Dankesrede knapp und bedrückend präzise die tragisch-bittere Geschichte Jugoslawiens. »Meine Heimat ist in der Tat ›ein kleines Land zwischen den Welten‹, wie ein Dichter unserer Zunge gesagt hat; es ist ein Land, das in raschen Etappen und um den Preis großer Opfer und außerordentlicher Anstrengungen bemüht ist, in allen Bereichen, auch in der Kultur, das aufzuholen, was uns eine ungewöhnlich stürmische und schwere Vergangenheit vorenthalten hat.« Dieses »Aufholen« gelang nach 1945 lediglich in einem relativ kurzen Zeitraum, der jugoslawischen Zwischenkriegsperiode. Entgegen Andric’ Hoffnungen war die stürmische und schwere Vergangenheit längst nicht vergangen. Mit dem ab etwa 1980 einsetzenden ökonomischen Verfall begann die Geschichte des neuerlichen Niedergangs Jugoslawiens bis zu dessen gewaltsamer Zerstörung.

Nun ist aus der ostbosnischen Provinzstadt Višegrad zu hören, daß Emir Kusturica Quartier nehmen wird, um Andric` Hauptwerk »Die Brücke über die Drina« zu verfilmen. Vielleicht wird der Regisseur (»Time of the Gypsies«, »Arizona Dream«, »Underground«, »Schwarze Katze, weißer Kater«, »Maradona«, »Das Leben ist ein Wunder«), wie schon in den 1990ern der große Gerechtigkeitssucher Peter Handke, im ockerfarbenen Hotel am städtischen Aufgang zur Drina-Brücke wohnen. Fest steht jedenfalls, daß der 1954 in der damaligen Vielvölkerstadt Sarajevo geborene Kusturica für »das größte und spektakulärste Projekt meines Lebens« den denkbar besten Ort gewählt hat: Ebendort in Višegrad spielt der Andric-Roman, ein monumentales Epos über den Balkan als ewig umkämpfte Region, Verbindung zwischen Orient und Okzident, wo einander die Kulturen, die Religionen und Sprachen treffen und auch zusammenfinden. In Jugoslawien galt das Bauwerk, das sich in elf Bögen über den mächtigen Fluß spannt, als steinernes Symbol für »Brüderlichkeit und Einheit« des Vielvölkerstaats.

Auf der Drina-Brücke

Als Kind ging Andric um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hier, in Višegrad, allmorgendlich den Hang hinunter über die kopfsteingepflasterte Brücke, passierte das Hotel der schönen Jüdin Lottika und die beiden Moscheen mit den schlanken Minaretten, schnupperte tausend Düfte in einer der vielen Garküchen links und rechts der Hauptstraße und erreichte schließlich die Schule, die er bis zu seinem elften Lebensjahr besuchte. »Mir öffneten sich die Augen vor dieser Brücke über die Drina (…), wo ich als Kind auf dem Schulweg immer zurückblieb. Und während meine Kameraden am Fluß spielten, lauschte ich hier in der Mitte der Brücke auf der Steinbank stundenlang den Geschichten der alten Leute.«

Er hatte den Alten genau zugehört. Indem er deren Erzählungen zu Papier brachte und zur Lebensweisheit verdichtete, folgte er historischen Entwicklungen über bald dreieinhalb Jahrhunderte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Nobelkomitee zeichnete ihn aus »für die epische Kraft, mit der Sie Motive und Schicksale aus der Geschichte Ihres Landes gestaltet haben« – so ein Teil der Begründung. Diese »epische Kraft« trägt bis heute, wie die neu entbrannten Auseinandersetzungen um Andric anschaulich demonstrieren. Sie treffen zunächst Kusturica, mit dessen geplantem Film sich die Wiederentdeckung des Schriftstellers verbindet. Derzeit finanziert er in Višegrad zusammen mit der Gemeinde und der bosnisch-serbischen »Republika Srpska« eine aufwendige, dem historischen Original nachempfundene Kulisse aus fünfzig Steinhäusern, die in einigen Jahren, nach Abschluß der Dreharbeiten, von der Bevölkerung genutzt werden sollen – darunter Kino und Theater.

Wie Andric wird der international anerkannte Filmregisseur, der einst als »transjugoslawisches Idol« gefeiert wurde, nicht zum ersten Mal zum fanatischen Nationalisten erklärt. »An allen Fronten« kämpfe er »für Großserbien«, so Zeit online (22.10.2010). Kusturica vereinnahme den »Kroaten Andric« verlautet derweil aus Zagreb. Aus Sarajevo kommt die Kritik, daß das Geld zur Realisierung des »Brücken«-Projekts doch besser im Stadtsäckel aufgehoben wäre. Kusturica sei zudem »aus bosnischer Sicht ein Überläufer«. Er habe schließlich während des Krieges die bosnische Hauptstadt verlassen und sei nach Belgrad gezogen, beschreibt der Südosteuropa-Korrespondent des Schweizer Hörfunks (DRS2) am 7.3.2011 Stimmungen. Nunmehr müsse befürchtet werden, daß sich »die bosnischen Serben« mit dem Film »das kulturelle Erbe Višegrads aneignen«.

Kusturica selbst bemerkte zur Frage, ob er »Nationalist« sei: »Wenn Nationalismus damit beginnt, daß einer Hamburger haßt, so bin ich ein Nationalist, denn ich liebe Pleskavica.« Darüber hinaus empfehle er seinen Kritikern, »meine Filme zu sehen, um mich zu beurteilen«. Nicht nur, was das Werk des Regisseurs angeht, bleibt der Rat ungehört. Man könne »Kusturicas nationalistische Verblendung genausowenig deuten wie die von Peter Handke« (Welt online am 17.6.2011). Fast scheint es so, als sei »Jugoslawien« eine rein serbische – oder gar großserbische – Angelegenheit. Dabei bleibt wie vor zwanzig Jahren die Idee von einem südslawischen Vielvölkerstaat – wider die historische Wahrheit – ethnisch zugeordnet.

Signal zum Völkerschlachten

Den Auftakt zum erbärmlichen Gezerre an Andric bildete 1991 ein Attentat. Damals erzählte mir in Višegrad Hazira Kapidzija, Leiterin der städtischen Andric-Bibliothek, von Drohanrufen in der Nacht, von Angst, Sprachlosigkeit und Mißtrauen, die sich wie die Pest in der Stadt verbreiteten. »Es beginnt damit, daß Denkmale zerstört werden. Dann werden Bücher verbrannt und schließlich Menschen. So sieht die Inquisition aus.« Zuvor war die Andric-Büste am rechten Ufer der Drina mit Vorschlaghämmern zertrümmert worden – sozusagen als Signal zum Völkerschlachten in der bosnischen Republik. Der Schriftsteller sei ein Verräter, Serbe, Jugoslawe, auf alle Fälle kein Bosnier und also »antitürkisch«, erklärten die muslimischen Fanatiker, die ihre makabre Tat auf Video festgehalten hatten.

Als Pseudobelege für Andric’ vorgeblich islamfeindliche Haltung mußten seine Doktorarbeit in Philosophie von 1924 zur »Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft« ebenso wie Passagen aus dem »Brücken«-Roman herhalten. Herausgerissen aus dem Kontext dienten sie zur Polemik gegen die Idee vom friedlichen Zusammenleben der südslawischen Völker. Angesichts eines irrationalen, sich rasant entwickelnden Ethnizismus’ mußte ausgerechnet der bekennende Jugoslawe Andric für die Vorbereitung des Bosnien-Kriegs (1992–1995) herhalten.

Tatsächlich schildert der Autor in seinem Roman die grausame Pfählung des Serben Radisaw auf Befehl der osmanischen Besatzungsmacht während des Brückenbaus Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Dem Bauern Radisaw war die Rolle des ersten Freiheitskämpfers gegen die Fremdherrschaft Konstantinopels auf dem Balkan (1492–1887) zugefallen. Er forderte die in Fronarbeit gepreßten Bauern zum Widerstand auf und riß in mehreren Nächten das tagsüber Gebaute wieder ein. Nach seiner Gefangennahme wurde er zur Abschreckung öffentlich gefoltert: Ein angespitzter Pfahl wurde ihm vom Anus durch den Körper getrieben – und zwar so, daß Radisaw keine tödliche Verletzung dabei erlitt und längere Zeit überlebte. Die leidende Kreatur, ausgestellt auf der Brücke, wurde zur weithin sichtbaren Mahnung.

Sein Widerstand wie sein grausames Ende wurden zum Mythos, der im Bewußtsein der Unterdrückten weiterlebte – ob zu Zeiten der Osmanen, Habsburger oder Deutschen. Die ­Andric-Kritiker allerdings werteten das vom Schriftsteller geschilderte Unterdrückungsverhältnis als ethnisches Gegeneinander. Lange vor dem ersten Schuß in Bosnien hatte der Nationalitätenkonflikt Kunst und Kultur erfaßt. Weltliteratur geriet unter die Dampfwalze nationalistischer Interpretationen. Andric, der bekennende Jugoslawe, wurde von den bosnischen Muslimen – wie schon kroatischerseits während des Sezessionskriegs – kurzerhand zum Serben erklärt und verbannt. Doch Tatsache blieb, »daß die Osmanen Besatzer Bosniens waren. Das ist nicht zu leugnen«, erläuterte Divna Vasic, damals Lehrerin für jugoslawische Sprache und Literatur, im Gespräch in Višegrad. »Er hat nie irgendein Volk beleidigt. Seine Meinung war vielmehr, daß ein Erzähler, der über Menschen schreibt und sie damit verletzt, kein guter Erzähler ist.«

»Yugoslavia tot«

Etwa zeitgleich mit dem Ende des sowjetisch geprägten Sozialismus in Europa und der weltweiten Wende zur unipolaren Globalisierung, versank das jugoslawische Projekt in Krieg und Chaos. »Yugoslavia tot« antwortete Alija Izetbegovic schon 1991 auf meine Frage, wie es mit dem Vielvölkerstaat weitergehe. Entschieden forderte der Vorsitzende der bosnisch-muslimischen Partei SDA und spätere Präsident von Bosnien-Herzegowina (BiH) die sofortige Unabhängigkeit der ehemals Sozialistischen Republik von Belgrad und forcierte bewußt – gemeinsam mit den Führern der kroatischen Bosnier – das ethnische Gegeneinander der Muslime, Serben, Kroaten. Das »Jugoslawien en miniature«, wie Bosnien-Herzegowina damals auch genannt wurde, starb auf den innerbosnischen Schlachtfeldern, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Als »ethnische Säuberungen« ging das Massenmorden im Bosnien-Krieg (1992–1995) in die Geschichte ein.

Bis heute ist die »Republik« zerstückelt, ein fragiles, fremdbestimmtes Wesen, de facto verwaltet von einem »Hohen Repräsentanten« der UNO, der zugleich als EU-Sonderbeauftragter für BiH fungiert, gestützt auf 2500 ausländische Soldaten. Sechs oder sieben Republiken – je nach Bewertung des Status’ der serbischen Provinz Kosovo – befinden sich auf dem postjugoslawischen Territorium. »Jugoslawien tot« – sollte der islamische Fundamentalist Izetbegovic dauerhaft Recht behalten?

Trotz aller Argumente wird weiter um ethnische Zugehörigkeiten gestritten. Zwar befinden sich alle – nun »unabhängigen« – jugoslawischen Nachfolgerepubliken inmitten schwerer ökonomischer Turbulenzen. Doch gerät die Abhängigkeit von folgenreichen Gaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) bestenfalls zur Randnotiz in der öffentlichen Debatte zur wirtschaftlichen Misere. Vergessen scheint die maßgeblich von Weltbank und IWF mitverfaßte Vorgeschichte der Jugoslawien-Kriege. Ausgespart die Daumenschrauben, die dem Land angelegt wurden, und deren Folgen – Hyperinflation, massiver Lohnverfall, sozialer Notstand –, die den bellizistischen Nationalismus erst ermöglichten.

Brutale Zwangsverarmung

Wie Ende der 1980er Jahre, als sich die innerjugoslawische Krise dramatisch zuspitzte, wird darüber hinweggesehen, daß eine »schwerwiegende Wirtschaftskrise« (…) »dem Krieg vorherging«, konstatierte der kanadische Ökonom Michel Chossudovsky 1999 – eine Mahnung für heute. Weitgehend unerwähnt geblieben seien »die strategischen Interessen der Bundesrepublik (Deutschland) und der Vereinigten Staaten (von Amerika) an der Destabilisierung Jugoslawiens« ebenso wie »der Einfluß der ausländischen Kreditoren und der internationalen Finanzorganisationen«. Damals trieben Weltbank wie IWF die Auslandsschulden des südslawischen Staates ein und verwandelten den Balkan »in ein Paradies für die freie Marktwirtschaft«.

Mit der Erhöhung von Schuldentilgungsraten durch den IWF etablierte sich eine »Phase brutaler Verarmung« mit Massenarbeitslosigkeit, rigoroser Privatisierung der staatlichen oder genossenschaftlichen Betriebe sowie einer – in Euro-Land derzeit noch – unvorstellbaren Geldentwertung, wie die Massenenteignung genannt wurde. Ich erinnere mich, daß ein Taxichauffeur während der Fahrt durch Belgrad auf dem Klebebandstreifen neben dem Taxameter eine Null hinzufügte – eine im Fahren vorgenommene Preiserhöhung. Etwa ein Dutzend Jahre nach der militärischen Zerschlagung Jugoslawiens wird das bisher Unvorstellbare auf EU-Ebene denkbar: Der im Zuge der Zwangsverarmung gepushte Nationalismus ebenso wie die folgenden Kriegsszenarien.

Mehr als Nostalgie

Indes wird Ivo Andric, der – wie Kusturica – »ebenfalls aus Bosnien stammt, von der Ethnie her aber Kroate war«, von »allen Teilen Ex-Jugoslawiens beansprucht« – allerdings nicht als Jugoslawe, stellt Welt online fest (17.6.2011). In Sarajevo, Belgrad und Zagreb wird der absurde Streit um seine Herkunft gar juristisch ausgetragen. Serbe oder Kroate – darüber soll ein Gericht entscheiden. Die taz nähert sich dem eigenartigen Geschehen mit Ironie, um sich dann doch wieder auf die Ethno-Schiene zu begeben. »Alle wollen Ivo« (27.8.2011) titelt das einstiges Organ des Separatismus, das sich schon vor dem NATO-Überfall 1999 auf die Bundesrepublik Jugoslawien als Propagandistin für die »rot-grüne« Kriegsbeteiligung hervortat. Derzeit breche »die ganze Welt der nationalistischen Vorurteile und Feindschaften wieder auf. Als bräuchten die jungen Staaten den Nobelpreisträger, um sich ihrer Eigenständigkeit zu vergewissern – oder den Beweis dafür, daß die anderen immer schon die Bösen waren.« Die einen »beanspruchen ihn als serbischen Schriftsteller, die anderen als Kroaten, wieder andere würden ihn am liebsten verbieten«. Dabei sei er Jugoslawe gewesen. Das ist es, »worauf man sich einigen kann – aber das reicht nicht mehr«, meint die taz und reduziert die aktuelle Debatte um Andric auf nationalistisch geprägte Zwistigkeiten.

Übersehen – bewußt oder nicht – wird die Vielschichtigkeit der Entwicklung. Könnte es nicht sein, daß die Andric-Renaissance auf den wachsenden Wunsch in allen südslawischen Republiken hindeutet, die Wunden der jüngsten Vergangenheit zu schließen und verheilen zu lassen? Wäre es nicht möglich, daß in Slowenien und sogar in Kroatien ein vernünftiges Verhältnis zur jugoslawischen Vergangenheit entsteht? Die Wahlschlappe der ethnozentrierten Rechtskräfte in beiden Republiken am vergangenen Wochenende deutet diesbezüglich zumindest Tendenzen an.

»Von Slowenien bis Mazedonien« blühe »eine nostalgische Verehrung des ›Genossen Tito‹«, meinte jüngst Le Monde diplomatique (8/2011). »Die Erinnerung an die verlorene Einheit Jugoslawiens wird nicht nur in Serbien hochgehalten.« In Slowenien wurde im März eine Zwei-Euro-Gedenkmünze mit dem Konterfei des Partisanenführers Franc »Stane« Rozman und jugoslawischem Stern auf den Markt gebracht. Sie ist ein Verkaufsschlager.

Serbokroatisch sprechen oder schreiben zu wollen käme zwar immer noch »einem politischen Bekenntnis gleich«, doch sei »die nachträgliche Idealisierung der untergegangenen Föderation heute in allen Nachfolgerepubliken anzutreffen« – mit Ausnahme von Teilen des Kosovo. Von »Jugo-Nostalgie« ist die Rede, als sei die Erinnerung an bessere Zeiten etwas Verwerfliches. Fast scheint es, als dürfe »Jugoslawien« nicht mehr gedacht werden.

»Mlada Bosna«

In der laufenden Auseinandersetzung fällt dem Schriftsteller Andric nahezu automatisch eine zentrale Bedeutung zu, weil er, allen Vereinnahmungsversuchen zum Trotz, als Symbolfigur für die Idee eines friedlichen jugoslawischen Vielvölkerstaats steht. Geboren am 9. Oktober 1892 im bosnischen Travnik als Sohn kroatischer Eltern, römisch-katholisch getauft, aufgewachsen in der Brückenstadt Višegrad, wechselte er 1903 auf das Große Gymnasium nach Sarajevo, wo seine Mutter in einer Teppichfabrik arbeitete. Der Vater, ein verarmter Goldschmied, war früh verstorben. Der Student Andric gehörte zu den Gründern der konspirativen Jugendorganisation »Mlada Bosna« (Junges Bosnien), in der sich revolutionäre Denkweisen sammelten und der Widerstandsgedanke gegen die austro-ungarische Fremdherrschaft gepflegt und verbreitet wurde. In ihr waren Jugendliche aller Volksgruppen des Landes zusammengeschlossen. Mlada Bosna, so Andric, bemühte sich darum, »unter der serbischen und kroatischen Jugend die Idee der Befreiung und Vereinigung mit Serbien zu verbreiten und zu festigen«.

Nach dem Berliner Kongreß 1878, als sich das Osmanische Reich von großen Teilen des Balkans zurückziehen mußte, rückten Truppen der K.-und-K.-Monarchie in Bosnien ein. Es war eine Zeit des politischen Umbruchs. Der Kapitalismus begann sich durchzusetzen. Überkommene Machtstrukturen wurden in Frage gestellt. In Sarajevo griff der mit Andric gut bekannte Gavrilo Princip, ein führendes Mitglied von »Junges Bosnien«, zur Pistole und erschoß am 28. Juni 1914 den verhaßten habsburgischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand – ein Attentat, das dem deutschen und dem österreichischen Kaiser als Vorwand für die Entfesselung des ersten Weltkriegs diente.

Ivo Andric erlebte einen Großteil davon in österreichischer Haft. Ende Juli 1914 war er als Mitglied von »Mlada Bosna« verhaftet worden. Nach knapp einem Jahr Gefängnis lebte er unter Polizeiaufsicht in der Nähe von Travnik und in Zenica. Erst im Sommer 1917 wurde er begnadigt. Seit 1920 im diplomatischen Dienst, hießen seine Stationen Vatikanstadt, Bukarest, Triest, Graz, Paris, Madrid, Genf und schließlich 1939 Berlin. Dort setzte er sich über persönliche Kontakte und diplomatische Kanäle für von den deutschen Faschisten Verfolgte und in Konzentrationslager Gesperrte ein.

Krieg und Befreiung

Als die Naziwehrmacht im Morgengrauen des 6. April 1941 Belgrad bombardierte und Jugoslawien mit Unterstützung der kroatischen Ustascha-Truppen zerschlug, verließ Andric Berlin, wurde in die besetzte Hauptstadt Jugoslawiens deportiert. Zurückgezogen lebte er dort in den folgenden drei Jahre bei Freunden, lehnte jede Form der Kollaboration ab, sagte strikt Nein zur Unterzeichnung von Aufrufen gegen die Volksbefreiungsbewegung. Er mußte damit rechnen, daß nie etwas von dem, was er in diesen Jahren schrieb, veröffentlicht werden würde. Und das war nicht wenig. Die Romane »Das Fräulein« und »Wesire und Konsuln« entstanden, und im März 1945 erschien »Die Brücke über die Drina« in einer ersten 5000er Auflage.

Titos Partisanen und die Rote Armee kamen als Befreier nach Belgrad, über eine halbe Million Menschen – Juden und Serben vor allem – waren in kroatischen Konzentrationslagern ermordet worden. Als Lehre aus der Geschichte standen die politischen Zeichen auf Zusammenführung der südslawischen Volksgruppen zu einem vereinten, sozialistisch orientierten Jugoslawien. Ivo Andric engagierte sich für das neue Land, wurde Vorsitzender des Schriftstellerverbandes, später Parlamentsabgeordneter und erlebte – obwohl noch nicht Mitglied der KP, der er 1955 beitrat – wichtige Sitzungen des Bundes der Kommunisten wie den fünften Parteitag im Juli 1948, auf dem es zum Bruch innerhalb der kommunistischen Weltbewegung kam.

Über Privates redete Andric selten. Bekannt ist, daß er 1958 die Malerin und Kostümbildnerin Milica Babic heiratete. Er erlebte in diesen Jahren den internationalen Durchbruch seiner Arbeiten, die in aller Welt verlegt wurden, und wurde zum bekanntesten jugoslawischen Schriftsteller der Geschichte. Seine letzten Werke, »Der verdammte Hof« mit seinem Mosaik aus verschiedenen Erzählebenen, sowie die 17 Novellen umfassende Sammlung »Die Geliebte des Veli Pascha«, erschienen 1954 beziehungsweise 1960. Krankheiten und das Alter setzten ihm zu, er notierte Denkfragmente in seine immer mitgeführten verschiedenfarbigen Büchlein – geheime Gedanken von philosophischer Tiefe. Am 13. März 1975 erlag der 82jährige einem Schlaganfall.

Als sein hundertster Geburtstag 1992 in verschiedenen Städten Europas, vor allem aber in Belgrad, Sarajevo und Višegrad gefeiert werden sollte, machte der Krieg keine Pause. Das Literaturmuseum der bosnischen Hauptstadt brannte aus. Dort befand sich auch das handschriftliche Originalmanuskript von »Die Brücke über die Drina«, der großartigen Višegrader Chronik, die mit dem Ersten Weltkrieg endete. Längst hätte sie um etliche schreckliche Kapitel erweitert werden können –aus dem »kleinen Land zwischen den Welten«.

* Aus: junge Welt, 9. Dezember 2011


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