Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Jugoslawien nach dem Regimewechsel: Zerstückelung Jugoslawiens geht weiter

War das Jahr 2000 gut - war es schlecht? Die Zukunft ist ungewiss

Das herausragende Ereignis des Jahres 2000 war für Jugoslawien zweifellos die Präsidentenwahl und die ihr folgenden Entwicklungen. Bis dahin schienen die Verhältnisse im Land relativ stabil - wenn man das für einen Staat, der unter internationalem Bann steht und entsprechenden Embargomaßnahmen ausgesetzt ist, überhaupt sagen kann - und es bleibt Milosevics Geheimnis, warum er auf die Idee vorgezogener Neuwahlen kam. Die Aussicht auf diese Wahl motivierte die verschiedenen Oppositionsgruppen zur neuerlichen Zusammenarbeit, wovon sich lediglich der kaum auszurechnende Vuk Draskovic ausschloss, und waren für die meisten NATO-Regierungen Anlass zu hektischen Aktivitäten und massiven Einmischungsversuchen. Auch wenn wir vielleicht nie erfahren werden, wie hoch der Stimmenanteil für den Gegenkandidaten Vojislaw Kostunica am 24. September war: Dass er die Wahl für sich entscheiden konnte und Milosevic um glatte 10 Prozent hinter sich ließ, ist von keiner Seite bezweifelt worden. Umso undurchsichtiger die Weigerung der Opposition in eine Stichwahl zu gehen: Hier hätte Kostunica nach Lage der Dinge die absolute Mehrheit der Stimmen bequem auf sich vereinigen und auf ganz legale Weise neuer Präsident werden können. Stattdessen nahmen Teile der Opposition, die sich um den Führer der Demokratischen Partei, Zoran Djindjic, scharten, das "Recht" in die eigene Hand und putschten am 5. Oktober die alte Regierung, das alte Parlament und den schon so gut wie besiegten alten Präsidenten Milosevic aus dem Amt. Die nachfolgende Neuwahl des Parlaments Ende Dezember brachte mit einer Zweidrittelmehrheit für das Oppositionsbündnis DOS (176 von 250 Sitzen) eine deutliche Bestätigung dafür, dass sich auch die Masse der Bevölkerung nach einem klaren Kurswechsel in Serbien/Jugoslawien sowohl hinsichtlich einer außenpolitischen Öffnung zum Westen als auch hinsichtlich einer innenpolitischen Überwindung festgefahrener Strukturen sehnte. Beides wird sie zweifellos bekommen, allerdings steht der Preis noch nicht fest, der dafür bezahlt werden muss. Auch muss gesehen werden, dass der überzeugende Wahlsieg auf einer für jugoslawische Verhältnisse extrem niedrigen Wahlbeteiligung (58 %) beruht und mit dem Rückenwind einer vollkommen gewendeten Medienlandschaft erzielt wurde.

Wer verdient am "Balkan-Stabilitätspakt"?

Ob die Wende in Jugoslawien mehr sein wird als ein Auswechseln des alten serbisch-nationalistischen Machtapparats durch einen neuen, ebenfalls nationalistischen Machtapparat, der allerdings seine wirtschaftlichen Strukturen noch in ganz anderer Weise westlichem Zugriff feilbieten wird, bleibt dahingestellt. Die Aussicht auf den Gewinn eines weiteren Weggefährten der EU und der NATO auf dem Balkan reichte dem Westen und der "Staatengemeinschaft", die meisten Sanktionen, die seit Jahren gegen Jugoslawien in Kraft waren und eine zum Teil verheerende Wirkung auf Ökonomie und Gesellschaft ausübten, umgehend auszusetzen. Jugoslawien wurde wieder gleichberechtigtes Mitglied in der UNO (2. November) und wurde in den "Balkan-Stabilitätspakt" einbezogen. Genau dies dürfte auch ein Grund für viele Menschen in Serbien gewesen sein, sich gegen den verfemten Milosevic und für die Öffnung des Landes zu entscheiden.

Ob die Mittel für Jugoslawien so reichlich fließen, wie es sich die Menschen erhoffen, ist zweifelhaft. Zwar wurde zunächst eine Soforthilfe für den Winter in Höhe von 400 Mio. DM zugesagt (davon Deutschland 200 Mio. DM), ansonsten hieß es aber, es werde keine "Sondersituation" für Jugoslawien geben. Alle Projekte des Stabilitätspakts, so erklärte dessen "Koordinator" Bodo Hombach, bleiben wie vereinbart; der "Kuchen werden nicht neu verteilt" (FR. 21.10.2000). Die Hilfe für Jugoslawien müsse also zusätzlich zu den bereits zugesagten Mitteln aus dem EU-Haushalt finanziert werden. Die besondere Generosität Deutschlands (200 Mio. DM für die Soforthilfe) verliert etwas an Glanz, wenn man bedenkt, dass die Bundesregierung mit der serbischen Regierung zugleich einen Vertrag aushandelte, wonach bis zum 1. Januar 2001 aus Deutschland Strom im Wert von 35 Mio. DM geliefert wird. Da Serbien auch darüber hinaus auf deutsche Stromimporte angewiesen sein wird, dürften die 200 Mio. DM im Laufe des Jahres 2001 wieder nach Deutschland zurück transferiert worden sein - allerdings nur zu einem Teil (über Steuern) in den Staatshaushalt, zum größeren Teil in die Taschen der privaten deutschen Energiekonzerne. Auch sonst dürfte die deutsche Wirtschaft von der Wende in Belgrad am meisten profitieren, stehen doch die Wiederherstellung der im Krieg von NATO-Bomben zerstörten Donaubrücken und damit der Wiederöffnung der Donauschifffahrt auf dem Programm. Hierfür soll es u.a. Kredite des Internationalen Währungsfonds geben. Die Donau war vor dem NATO-Krieg bevorzugtes Transportmedium für deutsche Reeder. Im November verkündete außerdem der deutsche Großverlag Gruner + Jahr seinen Einstieg (49 %) bei dem Belgrader Blic-Verlag, der u.a. die auflagenstärkste Zeitung ("Blic") herausgibt. Gruner + Jahr beherrscht bereits den rumänischen, ungarischen und slowakischen Zeitungsmarkt.

Auch ohne Milosevic: Montenegro will raus aus Jugoslawien - Albaner zündeln in Südserbien

Dennoch behält Belgrad Probleme, die eigentlich nach herrschender Lesart mit dem Verschwinden von Milosevic auch hätten verschwinden müssen. Dazu gehört das dringende Bedürfnis der Regierung der Teilrepublik Montenegro, sich aus der Bundesrepublik Jugoslawien zu verabschieden. Nachdem der kleine Teilstaat bereits 1999 die DM als gleichberechtigte Währung (neben dem Dinar) eingeführt hatte, ging er im November 2000 noch einen Schritt weiter und beschloss die Gründung einer eigenen Zentralbank. Außerdem wurde die Währung des jugoslawischen Dinar für illegal erklärt. Im Sommer 2001 solle schließlich eine Volksabstimmung über den Austritt aus dem Bundesstaat stattfinden. Dies wird nicht ohne Konflikte mit Belgrad und mit der serbischen Bevölkerungsminderheit in Montenegro abgehen.

Ein militärischer Konflikt der besonderen Art hat ebenfalls die Ära Milosevic überlebt. Anfang des Jahres trat in der südserbischen Presevo-Region in der Nähe zum Kosovo eine so genannte "Befreiungsarmee von Presevo, Bujanovac und Medeva (UCPMB)" auf den Plan. Nach dem Vorbild der UCK (die sich 1999 offiziell aufgelöst hatte) organisiert diese Untergrundtruppe Anschläge und Abgriffe auf serbische Einrichtungen. Angeblich vertritt sie knapp 100.000 Albaner, die in diesem Teil Serbiens leben. Als Emblem verwenden sie - wie die UCK - den schwarzen Adler auf rotem Grund, das albanische Wappen. "In Südserbien droht sich der aus Kosovo bekannte Teufelskreis von albanischen Provokationen und serbischer Repression zu wiederholen", schrieb hierzu die Frankfurter Rundschau am 29. Februar. Da die Terrorgruppe vom Kosovo aus operiert, wurde auch die KFOR tätig und hob u.a. einige Waffenlager der UCPMB aus. Im Herbst kam es zu verstärkten Zusammenstößen zwischen UCPMB und serbischer Polizei. Die neue Regierung in Belgrad forderte die Vereinten Nationen im Dezember auf, unverzüglich den Rückzug albanischer Kämpfer aus der entmilitarisierten Zone durchzusetzen. Diese fünf Kilometer breite Sicherheitszone war 1999 im Rahmen des Abkommens zwischen NATO und Belgrad eingerichtet worden und verbietet den Aufenthalt bewaffneter Einheiten mit Ausnahme leicht bewaffneter serbischer Polizei. In dieser Zone hält sich aber vornehmlich die UCPMB auf und unternimmt von hier aus ihre militärischen Aktionen gegen serbische Sicherheitskräfte und Infrastruktureinrichtungen. Serbische Behörden registrierten im Jahr 2000 insgesamt 313 Überfälle, zumeist auf Polizeitstationen, bei denen mindestens 17 Menschen getötet und 41 verletzt wurden. 14 Menschen wurden gekidnappt, 10 von ihnen aber wieder frei gelassen. Von den übrigen vier fehlt bisher jede Spur. Auf der Gegenseite gab es nach Auskunft der Behörden sieben tote und 23 verwundete Rebellen. (Radio B2-92, FreeB92 News, 10 January 2001)

UN-Protektorat Kosovo: "Nie wieder mit Serbien"

Aus der von KFOR-Truppen besetzten und unter UN-Verwaltung stehenden serbischen Provinz Kosovo kamen auch wenig beruhigende Nachrichten. Die ethnische Säuberung, d.h. die Vertreibung von Serben, Roma, Juden und anderen Minderheiten hat sich fortgesetzt. Insgesamt haben rund 200.000 Serben und 150.000 Roma die Provinz verlassen müssen, sodass am Ende des Jahres nur noch wenige nicht rein albanische Enklaven übrig waren.

Im August übernahm die UN-Verwaltung, die ihren antiserbischen Kurs nur schwer verbergen kann, im Handstreich die Zentrale des jugoslawischen Trepca-Bergbaukombinats im Norden der Stadt Kosovska Mitrovica. Als Begründung für den Coup, dem schließlich die dauerhafte Enteignung ("Privatisierung") des Bergwerks folgte, führte UNMIK-Chef Bernard Kouchner die Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung an, die von den Emissionen des Schmelzofens ausgingen. Sie überschritten angeblich die zulässigen Höchstwerte um das 200-fache. Mit der Übernahme des Trepca-Komplexes entsprach Kouchner in Wirklichkeit den Wünschen der albanischen Nationalisten, denen das von Serben geführte Kombinat schon lange ein Dorn im Auge war. Im Übrigen dürfte die auf 10 Mrd. DM geschätzte Industrieanlage, die nicht nur Erze, darunter auch Gold, fördert, sondern auch weiter verarbeitet, auch zu den begehrten Objekten westlicher Investoren gehören. Hellsichtig schrieb die Berliner Zeitung zur plumpen Begründung für den Coup: "Das Umweltargument wirkt in dem Zusammenhang lächerlich. UNO und KFOR hätten mehr als genug zu tun, kümmerten sie sich konsequent um die Beseitigung der durch das NATO-Bombardement verursachten Umweltschäden. Erinnert sei nur an die von US-Jets abgefeuerten 31.000 Uran-Geschosse." (BZ, 15.08.2000)

Ansonsten entwickelte sich das Kosovo ganz nach dem Geschmack ultranationalistischer UCK-Kämpfer und mafioser Kriegsgewinnler. Die UCK ist niemals vollständig entwaffnet worden und ihre führenden Kader spielen bis heute eine herausragende Rolle bei dem so genannten Kosovo Schutzkorps TMK, das in der Provinz zivile Polizeiaufgaben übernehmen soll. Allerdings ist es ein offenes Geheimnis, dass der TMK an zahlreichen Ausschreitungen gegen Minderheiten sowie an Schutzgelderpressung und am florierenden Frauenhandel beteiligt ist. Die Kriminalitätsrate im Kosovo liegt mittlerweile auf dem Niveau von Los Angeles! - Die von der UN-Verwaltung und der OSZE organisierten und von KFOR überwachten Kommunalwahlen brachten dennoch ein überraschendes Ergebnis: Nicht der harte Kern der ehemaligen UCK-Truppen, die um Parteiführer Thaci gescharte PDK-"Demokratische Partei des Kosovo", konnte sich durchsetzen, sondern es siegte die "Demokratische Liga"-LDK von Ibrahim Rugova. Die LDK siegt in 27 von 30 Wahlkreisen, teilweise mit absoluter Mehrheit, während die PDK nur drei Wahlkreise gewinnen konnte.

Übereinstimmend wurde in der internationalen Presse das Wahlergebnis als Sieg der "gemäßigten Kräfte" über die albanischen Scharfmacher begrüßt. Selten ist aber die Frage gestellt worden, ob nicht dieses Ergebnis im nachhinein den bewaffneten "Widerstandskampf" der UCK gegen die serbischen Machthaber in einem partiell anderen Licht erscheinen lässt. Der NATO-Krieg, so schrieb Mohsen Massarath nach der Wahl, "war vor allem nicht durch die angeblich zu schützenden Opfer legitimiert" (taz, 01.11.2000). Die UCK vertrat keineswegs die Mehrheit der albanischen Bevölkerung im Kosovo und war trotzdem Vertreter der "Kosovaren" bei den "Verhandlungen" von Rambouillet. Die NATO setzte auf Krieg und führte diesen Krieg schließlich auch, weil die UCK diesen Krieg unbedingt brauchte, um ihre Ziele durchzusetzen. Eines der Ziele war und ist die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien und damit gleichzeitig von Jugoslawien. Mittlerweile wird dieses Ziel uneingeschränkt auch von Rugova geteilt.

UN-Verwaltung und die Resolution 1244

Die UN-Verwaltung mit Kouchner an der Spitze und dem deutschen Tom Koenigs als Chef der Zivilverwaltung hat mehrfach übergroßes Verständnis für diese Haltung durchblicken lassen, obwohl sie der Resolution 1244 von 1999 widerspricht. Dort war die territoriale Integrität Jugoslawiens ausdrücklich bestätigt und das Kosovo als Teil Serbiens bezeichnet worden. Kurz vor der Kommunalwahl im Kosovo kam demgegenüber eine von Kofi Annan eingesetzte unabhängige internationale Kommission unter Leitung des Schweden Carl Tham und des südafrikanischen Verfassungsrichters Richard Goldstone zum Ergebnis, die Provinz müsse eine "bedingte Unabhängigkeit" erlangen. Es sei "undenkbar", sagte Goldstone bei der Präsentation des Kommissionsberichts am 24. Oktober, "dass die Kosovo-Albaner je wieder mit Serbien zusammenleben wollen." Da man aber nicht offen gegen die UN-Resolution argumentieren kann, heißt die brüchige Formel in dem Bericht: "Selbständigkeit unter Auflagen". Das heißt weitgehende Unabhängigkeit des Kosovo bei Überwachung der Rechte der Minderheiten durch internationale Organe. Ob eine solche Konstruktion indessen noch mit der Resolution 1244 in Übereinstimmung zu bringen ist und gegen Belgrad der Nach-Milosevic-Ära durchsetzbar erscheint, ist sehr fraglich. Jedenfalls türmen sich hier jede Menge destabilisierende Faktoren auf, welche die Zukunft der Region extrem unsicher machen.
Peter Strutynski

Vgl. auch: Friedens-Memorandum 2001, hrsg. vom Bundesausschuss Friedensratschlag, Kassel 2001, S. 25-29

Zur Jugoslawien-Seite

Zum "Friedens-Memorandum 2001"

Zur Seite "Regionen"

Zurück zur Homepage