"Wir werden regieren"
Gewerkschaften in Nordzypern wenden sich gegen ökonomische und politische Abhängigkeit von der Türkei
Von Christiane Sternberg *
Die Türkei diktiert der nationalen Regierung in Nordzypern rigide Sparmaßnahmen. Gegen diese Einmischung Ankaras protestieren die Gewerkschaften mit Streiks, Demonstrationen und Druck in Brüssel.
Am 28. Januar haben die Gewerkschaften in Nordzypern der großen Türkei den Kampf angesagt. 50 000 Demonstranten versammelten sich auf dem Fazil-Kücük-Platz und feuerten die Redner auf der Tribüne an. Am 2. März legten wieder so viele Menschen für vier Stunden ihre Arbeit nieder und demonstrierten in Nikosia. Doch bei den Streiks ging es nicht nur um Lohnforderungen. Die Losung der Demonstranten ist eindeutig: »Unser Land gehört uns, wir werden regieren!«
Die Türkei diktiert der nationalen Regierung in Nordzypern rigide Sparmaßnahmen. Gegen diese Einmischung Ankaras machen die Gewerkschaften mobil. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wirft den türkischen Zyprern Undankbarkeit vor. Die Türkei zahlt der Türkischen Republik Nordzypern jährlich um die 450 Millionen Euro Zuschüsse. Fast 80 Prozent davon werden für Gehälter und Pensionen aufgewendet. Seit der türkischen Invasion 1974 und der Teilung der Insel hängt die türkisch-zyprische Gesellschaft ökonomisch und politisch am Tropf der Türkei, die den Staatshaushalt zu einem Drittel subventioniert. Die Türkische Republik Nordzypern ist international nicht anerkannt und unterliegt daher einem Wirtschaftsembargo. Private Investitionen sind rar, eine Industrie existiert praktisch nicht. Der Staat ist in Nordzypern der größte Arbeitgeber.
»Der Öffentliche Dienst ist von den geplanten Sparmaßnahmen am härtesten betroffen«, sagt Ibrahim Genca, Generalsekretär der Gewerkschaft der Staatsangestellten (KTAMS): »Anhebung des Rentenalters von 55 auf 65 Jahre, Senkung des Einstiegsgehalts für Regierungsbeamte von umgerechnet 1,90 auf 680 Euro und Abschaffung der quartalsmäßigen Teuerungszulagen.« Ankara verlangt außerdem die Privatisierung unrentabler Staatsbetriebe. Die Gewerkschaftsplattform, in der sich 28 Arbeitnehmervertretungen zusammengeschlossen haben, wollen Arbeitsplätze und Gehaltsstandards erhalten. Das erreichen sie nicht ohne politische Forderungen. »Das Nahziel wären Wahlen für eine Regierung, die nicht den Anweisungen der Türkei folgt. Aber die Mutter aller Probleme ist die Teilung Zyperns«, erklärt Genca. »Die muss überwunden werden, dann endet auch die Vorherrschaft der Türkei.«
Der politische Charakter der nordzyprischen Gewerkschaften hat eine lange Tradition. Während in den 1920er Jahren Zyperntürken und Zyperngriechen noch gemeinsame Gewerkschaften gründeten, organisierten sie sich seit der Separationsbewegung in den 1950er Jahren nicht mehr nur nach Berufen, sondern auch nach Nationalität. Zwischen 1963 und 1968, als die Zyperntürken in Enklaven lebten, war die Gründung von Parteien verboten. Aber über die Gewerkschaften war politische Einflussnahme möglich. Nach der Teilung der Insel 1974 drifteten die ideologischen Interessen der türkisch-zyprischen Gewerkschaften auseinander – pro Wiedervereinigung oder contra. Bis heute reicht das Spektrum der insgesamt 45 Gewerkschaften von links nach rechts und ihre Mitglieder pflegen entweder eine Doppelmitgliedschaft oder zumindest Sympathie mit einer Schwesterpartei. Aus ihren Reihen gingen schon viele ambitionierte Politiker hervor.
Die Vertretungen der Arbeiter und Angestellten im Öffentlichen Dienst sind die zahlenmäßig stärksten und einflussreichsten. Vorreiter beim Vorstoß gegen die übermächtige Türkei ist die links gerichtete Lehrergewerkschaft KTÖS. Ihr Generalsekretär Sener Elcil gerät immer wieder ins Visier des nationalistischen Lagers. »Die Londoner Zweigstelle der Nationalen Einheitspartei (UBP) hat mich sogar wegen Verrats an der Türkei verklagt.« Dieser persönliche Angriff ist nur die Spitze des Eisberges. Vergangenes Jahr wurden sämtliche Gewerkschaftspräsidenten während einer friedlichen Demonstration vor dem Parlament in Nikosia für eine Nacht in Gewahrsam genommen – wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt.
Die Gewerkschaften wenden sich nicht nur gegen die ökonomische und politische Herrschaft der Türkei in Nordzypern, sondern auch gegen die demografische. Elcil nennt die systematische Ansiedlung der Türken vom Festland eine »zivile Invasion«. »Wir sind im eigenen Land nur noch eine Minderheit. Es gibt etwa 130 000 Zyperntürken bei einer ungefähren Bevölkerungszahl von 800 000. Niemand weiß genau, wie viele Einwohner Nordzypern wirklich hat«, klagt Elcil. »Die Zuwanderer sind nicht an einer Wiedervereinigung mit dem griechisch-zyprischen Süden interessiert und sie stülpen uns ihre Kultur über. Wir sind säkulare Muslime, aber inzwischen existieren hier tatsächlich mehr Moscheen als Schulen.«
Derzeit verlagern die Gewerkschaften den Kampf von der Straße in die Institutionen, senden Delegationen nach Brüssel, um auf die Zustände im Land aufmerksam zu machen. Aber die nächsten Großdemonstrationen sind schon in Planung.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Juni 2011
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