Atatürk auf Zypern
Unterwegs mit Ahmed Cavit im von der türkischen Armee besetzten Nordteil der Mittelmeerinsel
Von Karin Leukefeld *
Der Kinderarzt Ahmed Cavit steuert seinen Wagen entlang der »grünen
Linie«, die quer durch die zypriotische Hauptstadt Nikosia verläuft.
Cavit ist türkischer Zypriot und kennt die Stadt wie seine Westentasche.
»Hier lebten früher Armenier. Sie flohen bei den Auseinandersetzungen
nach den Unruhen zwischen den Volksgruppen 1963 hinüber, auf die andere
Seite vom Pediosfluß. Danach wohnten türkische Zyprioten hier, doch in
der letzten Zeit kommen immer mehr Siedler.«
Die zweistöckigen Armenierhäuser im Arabahmet-Viertel setzen sich
deutlich ab von den Neubauten, die erst nach 1974 unter der türkischen
Besatzung entstanden. Der Eingang zum armenischen Friedhof, nur wenige
hundert Meter entfernt, liegt jenseits der Grenze, im südlichen Teil von
Nikosia, in der Republik Zypern. Dazwischen ist »Niemandsland«, das von
der türkischen Armee gelegentlich für militärische Übungen genutzt wird.
Die einzigen, die sich ungehindert zwischen beiden Teilen der Hauptstadt
Zyperns bewegen, sind die Katzen der Stadt und die Vögel.
Seit die türkische Armee den Norden der Mittelmeerinsel besetzt hält,
habe sich das Gesicht im türkisch-zypriotischen Teil des Landes enorm
verändert, erzählt Ahmet Cavit. Am sichtbarsten werde dies an dem
ungebremsten Bauboom, sagt er und deutet auf die Überreste einer
ehemaligen Mehlfabrik, die einem Casino weichen mußte. Das wiederum
gehört zu einer Hotelkette, die in Nordzypern ein Hotel nach dem anderen
baut. »Erst waren sieben Etagen genehmigt, nun sind es 13«, sagt Cavit.
»Niemand kümmert sich hier um Vorschriften unserer Verwaltung. Geld,
verstehen Sie?!«
Die Wohnviertel tragen ausschließlich türkische Namen: Hürriyet,
Ortaköy, Göcmenköy, zählt Cavit auf, während die Fahrt weiter in die
Außenbezirke des nördlichen Nikosia geht. »Göcmenköy ist das »Dorf der
Flüchtlinge«, hier wohnen seit 1963 türkische Zyprioten«, erläutert
Cavit. Viele kamen im Zuge eines Bevölkerungsaustausches Ende der 1970er
Jahre in den Norden. Die Einwohnerzahl der türkischen Zyprioten betrage
zwischen 80000 und 100000 Personen, die der inzwischen hinzugezogenen
Festlandtürken sei zwei- bis dreimal so hoch. Viele Siedler kämen aus
ländlichen Gebieten der Türkei, seien arm, Analphabeten und mit der
zypriotischen Kultur und Geschichte weder vertraut noch daran interessiert.
Für Cavit gibt es nur eine Lösung: »Die Siedler sollen gehen, die Armee
soll weg, damit wir wissen, wie viele türkische Zyprioten übrig
geblieben sind, und wie wir für uns weiter planen können.« Neben den
nach 1974 entstandenen Siedlungen Göcmenköy, Taschkenköy, Hamidköy
werden auch Moscheen und Ausstellungshallen für Autos gebaut, in einem
Industriegebiet, gleich neben dem alten Friedhof. Das Geld für die
Moscheen kommt aus der Türkei, Libyen und Saudi-Arabien, sagt Cavit, dem
der Ärger anzumerken ist. »Früher hat es das hier nicht gegeben.«
In der Altstadt
Wir fahren zurück in die innere Altstadt von Nikosia, kreuz und quer
durch alte türkische und griechische Wohnviertel mit den aus Sandstein
gebauten Häusern der britischen Kolonialzeit. Dicht beieinander liegen
griechisch-orthodoxe Kirchen, muslimische Grabmäler und venezianische
Paläste. Es ist, als sei die Zeit stehengeblieben. Die meisten Häuser,
die direkt an die »Grüne Linie« grenzen, sind in schlechtem Zustand.
Einschüsse haben den Putz aufgeblättert, herunterhängende Fensterläden
klappern im Wind. Die ursprünglichen Bewohner, oft griechische
Zyprioten, sind geflohen. Heute leben dort Familien aus dem tiefsten
Anatolien.
Den vielen Kindern sind die engen Gassen der Altstadt nur ein schlechter
Ersatz für die frühere Weite der anatolischen Felder und Dörfer. Weil
sich die Bauern vom Ertrag ihrer Landwirtschaft in der Türkei nicht mehr
ernähren konnten, wurden sie zu Landarbeitern im türkischen
Besiedlungsplan auf Nordzypern und verdingen sich heute als Tagelöhner
auf einer der vielen Baustellen. Unweit des Paphos Tors in der
venezianischen Stadtmauer verfällt das armenische Benediktinus-Kloster
aus dem 14. Jahrhundert, dessen Kirche fast vollständig zerstört ist. In
den Wipfeln der hohen Bäume des verwilderten Kirchhofs schaukeln Krähen
im Wind, das Dach über dem einstigen Hauptportal wird nur noch von zwei
Giebelsteinen gehalten. »Wenn sie sich lösen, bricht alles zusammen«,
sagt Ahmet Cavit.
Geschichtsdiskussion
Der Kinderarzt ist ein scharfer Gegner der türkischen Besatzung, was ihm
schon viele Probleme bereitet hat. Seine medizinische Fachausbildung
absolvierte er Ende der 1970er Jahre an der Kinderklinik Leipzig. Neben
seiner Tätigkeit in einem Krankenhaus Nikosias eröffnete er 1982 eine
private Praxis, die er aber wieder schließen mußte. Seine politische
Heimat war lange Zeit die Sozialistische Arbeiterpartei der Türkei
(TSIP), die er beim Studium 1969 bis 1975 in Istanbul kennengelernt
hatte. Was von der Partei übrigblieb, wird heute von einem Abgeordneten
der türkischen Freiheits- und Demokratiepartei (ÖDP) im Ankaraer
Parlament vertreten. »Die Teilung Zyperns ist für die ÖDP kein Thema«,
kritisiert Cavit. »Die türkische Besetzung ist ein zu heißes Eisen.«
In der »Neuen Zypern-Gesellschaft«, die gleich nach dem Krieg 1974
gegründet wurde, engagiert sich Cavit seit 1982. »Unsere Ideologie war
immer der Zypriotismus, also Zypern für die Zyprioten«, erklärt er die
Ausrichtung der Organisation. »Die griechisch-zypriotischen Freunde
kämpften gegen die griechischen Fahnen auf öffentlichen Gebäuden im
Süden, so wie wir hier im Norden gegen die türkische Fahne antraten.
Doch wir sind zu schwach.« Um wirklich etwas verändern zu können,
»braucht man viele intellektuelle Köpfe und Geld«, meint Cavit.
Die zypriotische Presse ignoriere Veröffentlichungen der Organisation,
wer sich offen dazu bekenne, werde als »Verräter« abgestempelt, und zwar
»auf beiden Seiten«. Man brauche eine Massenorganisation und
entsprechende Medien, derzeit sei beides völlig unrealistisch. Bei einer
Wiedervereinigung beider Teile dürfe sich auf keinen Fall die Kirche
einmischen, fordert Cavit. Besonders die griechisch-orthodoxe
Kirchenführung im Süden müsse sich zurückhalten.
Mit der Wahl des Kommunisten Dimitris Christofias zum Präsidenten der
Republik Zypern bestehe die Chance, daß sich das ändere. Immerhin habe
mit dem neuen Erziehungsminister eine Geschichtsdiskussion angefangen.
»Vielleicht muß man mehr historische Bücher zu Zypern übersetzen«,
schlägt Cavit vor. »Werke von türkischen Zyprioten müßten ins
Griechische und Bücher von griechischen Zyprioten müßten ins Türkische
übersetzt werden.« Leider gebe es nur wenige Dolmetscher, die beide
Sprachen beherrschten, doch das wäre notwendig, so Cavit: »Damit wir uns
besser kennenlernen.«
Am Grenzübergang
Die Jugend beider Volksgruppen findet derweil einen eigenen Weg, sich
einander anzunähern. Im Zentrum von Nikosia, auf der Ledrastraße,
arbeiten einige Seite an Seite bei Starbucks oder McDonald's in den
Ledra-Arkaden. Seit April 2008 gibt es hier einen Grenzübergang zwischen
dem Norden und dem Süden. Hassan (28) und seine Freundin Gizem (22) aus
der nordzypriotischen Hafenstadt Kyrenia (türkisch: Girne), machen
einmal im Monat einen Ausflug zu McDonald's, um Hamburger zu essen.
Wegen des Embargos gegen den Norden gebe es McDonald's dort nicht, das
sei ungerecht, meint Hassan.
Beide passieren die Grenze mit Pässen der Republik Zypern, denn ihre
türkisch-zypriotischen Eltern stammen aus Paphos, an der Südküste. Mit
dem Bevölkerungsaustausch wurden sie nach Kyrenia umgesiedelt. Das alles
sei Geschichte, meint Gizem. Ihr Land sei die Türkische Republik
Nordzypern und das solle auch so bleiben. Beide Staaten sollten Mitglied
der Europäischen Union sein, fügt Hassan hinzu. Dann könnten sie mehr
Geld verdienen und das Embargo gegen den Norden würde aufgehoben werden.
Eine Wiedervereinigung Zyperns erscheint beiden »unmöglich«, und ihre
Zukunft sehen die zwei nicht sehr rosig: »Krieg überall«, meint Hassan.
»Keine Arbeit. Und Fremde kaufen unser Land auf.« Zwar ist ihnen die
Türkei mit ihrer Armee von 43000 Soldaten als Schutzmacht willkommen.Die
vielen Baumaßnahmen ausländischer Firmen vor allem auf der
Karpasia-Halbinsel aber lehnen sie ab. »Die Natur wird zerstört, die
historischen Stätten«, kritisiert Hassan. »Doch was können wir schon tun?!«
Türkischer Bauboom
Auf der Schnellstraße von Nikosia nach Famagusta und zur
Karpasia-Halbinsel im Nordosten Zyperns ist der Bauboom zu besichtigen,
den Hassan und Gizem meinen. Bildungszentren und angegliederter
Wohnanlagen mitten auf dem Land, kahle Hochhausgerippe und leerstehende
Siedlungsanlagen, für die auf großen Werbetafeln geworben wird. Land,
Villen, Appartements -- alles ist im Angebot. Luxushäuser mit Meerblick
und Sonnenschein, zu zahlen in Euro oder Britischen Pfund. Selbst neben
der Klosteranlage des Heiligen Barnabas bei Salamis, nördlich von
Famagusta, soll eine Wohnsiedlung entstehen.
Investoren, die über gute Beziehungen verfügen, erhalten Kredite der
türkischen Investitionsbank, um Land zu kaufen, erläutert Ahmet Cavit.
Über die oft ungeklärten Besitzverhältnisse von Grund und Boden nach der
Besatzung 1974, wissen die wenigsten der späteren, meist ausländischen
Käufer von Ferienvillen oder -wohnungen. Auf den vielen Baustellen
werden Gelder der türkischen Mafia oder andere Schwarzgelder gewaschen,
spricht Cavit ein offenes Geheimnis aus.
Hotels, die zu Tiefstpreisen Ferien an den Küsten von Kyrenia oder auf
der Karpasia-Halbinsel anbieten, seien selbst in einer guten Saison nur
zu 30 Prozent ausgebucht. Dennoch sollen in den kommenden fünf Jahren
noch 30000 weitere Hotelbetten für den Tourismussektor geschaffen
werden. Ahmet Cavit vermutet dahinter einen anderen Plan, denn ein
Hotel, das mehr als 200 Betten hat, darf ein Casino eröffnen: »Und das
ist eine gute Einrichtung, um illegal erwirtschaftetes Geld zu waschen.«
Kulturelles Erbe
»Die Schädigung von Kulturgut, gleichgültig, welchem Volke es gehört,
bedeutet eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit ...«.
So steht es in der Präambel der Haager Konvention von 1954 zum Schutz
von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. Doch Zypern, das mit seinem
kulturellen Erbe aus Jahrtausenden wie ein »großes, schwimmendes Museum«
war, konnte durch die Konvention nicht geschützt werden.
Nach der türkischen Besetzung 1974 wurden Kirchen, Friedhöfe, religiöse
und historische Denkmäler verwüstet und geplündert, sagt die Archäologin
und Kunsthistorikerin Anna Marangou: »Fast alle griechisch-orthodoxen
Friedhöfe wurden geschändet, Kreuze wurden entfernt, Gräber geöffnet,
vor den Augen der türkischen Armee.« Viele der alten aramäischen,
griechischen, römischen, byzantinischen Kulturstätten liegen im Norden
Zyperns, so Anna Marangou. 550 byzantinische Kirchen wurden ganz oder
teilweise zerstört -- die noch erhalten sind, werden als Ställe,
Lagerhallen, Kinos, Restaurants oder Moscheen genutzt.
Gesegnete Jungfrau
Boltasli ist ein kleines, unscheinbares Dorf auf Karpasia. Früher hieß
es Lythrágkomi, doch dieser Name ist auf keinem der heutigen
Straßenschilder mehr zu finden. Die alten Ortsnamen wurden von den neuen
Herrschern 1974 türkisiert. In Boltasli -- oder Lythrágkomi -- steht
»Panayia Kanakaria«, die »Kirche der Gesegneten Jungfrau«. Panayia
Kanakaria ist das älteste Gotteshaus auf Zypern. Der Journalist Michael
Jansen hat die Verwüstung und den Diebstahl historischer Kulturgüter
infolge von Krieg und Besatzung ausführlich dokumentiert. Es sei davon
auszugehen, daß man Panayia Kanakaria offensichtlich aufgeräumt, den
Kirchgarten mit antiken Steinen dekoriert, die aufgeschüttete Erde aus
dem Inneren der Kirche entfernt hat.
Bei seinem letzten Besuch mußte der Schlüssel beim Dorfvorsteher, dem
örtlichen Muchtar, geholt werden. Heute steht das Hauptportal weit
offen, ein freundlich lächelnder Wärter weist auf eine überdimensionale
Spendenbüchse und eine Informationstafel. Panayia Kanakaria sei eine
byzantinische Kirche, die vermutlich Ende des fünften, Anfang des
sechsten Jahrhunderts erbaut wurde, ist da zu lesen. Zerstört durch die
»arabischen Piraten« im achten Jahrhundert, später neu aufgebaut. Im
zwölften Jahrhundert erneut zerstört durch ein Erdbeben und wieder
aufgebaut, stabilisiert und mit einem neuen Dach versehen im 19.
Jahrhundert.
Die kostbaren Mosaikbilder, für die Panayia Kanakaria berühmt ist,
werden mit keinem Wort erwähnt. Die letzten Restaurierungsarbeiten waren
kurz vor der Invasion 1974 beendet worden, berichtet Michael Jansen und
zeigt an die Decke, wo noch Reste der Mosaiken aus dem sechsten
Jahrhundert zu sehen sind. Die kostbaren Bilder zeigten Maria mit Jesus
als Kind, die Erzengel Gabriel und Michael sowie die zwölf Apostel.
Diese waren ursprünglich aus Halbedelsteinen gefertigt und mit Silber
und Gold aus Palästina verfeinert. Die Diebe, die vermutlich 1979 die
Bilder stahlen, klebten Papier über die Mosaikmedaillons. Dann schnitten
sie das Mauerwerk dahinter aus und entfernten sie von der Decke. Niemand
stoppte die Diebe, bis heute hat die türkische Besatzungsmacht keine
Verantwortung für die Zerstörung der zypriotischen Kulturgüter übernommen.
Verwandlung der Fahne
Statt dessen präsentieren Schilder, Wachposten und Fahnen immer wieder
die Anwesenheit der türkischen Armee. Wie in der Türkei sind auch in
Nordzypern gigantische Inschriften und Embleme an Berghängen besonders
beliebt. »Gemeinsam für das Vaterland« ist da zu lesen, eingerahmt von
einer türkischen Fahne und der Fahne der TRNC, der Türkischen Republik
Nordzypern. Statuen des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk,
mal als Kopf, mal hoch zu Roß, schmücken fast jeden Ortskern.
Auch am großen Bergmassiv von Zypern, dem Pentadaktylos, dem
Fünffingerberg, der von jedem Dach in Nikosia zu sehen ist, wenn man
nach Norden blickt, prangt eine solche Botschaft. »Diese Fahne soll eine
große Provokation gegenüber den griechischen Zyprioten sein«, sagt Ahmet
Cavit. »Unsere Nationalisten sind ganz stolz darauf. Am Anfang war die
Fahne nur auf den Berg gemalt, jetzt wird sie nachts erleuchtet. Erst
sieht man die türkische Fahne und dann verwandelt sie sich in die
TRNC--Fahne. Manchmal fällt der Strom aus und wir sitzen im Dunkeln, aber
diese Fahne leuchtet immer noch.« So erzählt der türkische Zyptriot. Und
ergänzt dann noch: »Viele Leute sind natürlich wütend, aber es ist das
Werk der Armee, und die einfachen Leute können nichts gegen die Armee
unternehmen.«
* Aus: junge Welt, 24. Dezember 2008
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