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"Viele verlangen die Rückkehr zu den Waffen"

Lage in der besetzten Westsahara spitzt sich zu, gewaltloser Widerstand hat offenbar wenig gebracht. Ein Gespräch mit Saleh Sidi Mohammed *


Saleh Sidi Mohammed ist Internationaler Sekretär des Studentenverbands der Westsahara (UESARIO).

Am vergangenen Montag gab es in Laayoune, der größten Stadt der Westsahara, mehrere Verletzte, als die marokkanische Polizei eine Demonstration gegen Menschenrechtsverletzungen niederschlug. Was war der Hintergrund der Proteste?

Der Weltsicherheitsrat der UNO tagt jedes Jahr Ende April, um über das Mandat der UN-Mission MINURSO zu entscheiden. Die überwacht den seit 1991 gültigen Waffenstillstand zwischen der marokkanischen Monarchie und der Volksfront zur Befreiung der Westsahara (POLISARIO). Dieses Jahr beantragten die USA, die Überwachung von Menschenrechtsverstößen in das Mandat der MINURSO aufzunehmen. Dieser Antrag scheiterte jedoch an den wichtigsten Unterstützern Marokkos, also an Spanien und der Vetomacht Frankreich. Dabei hat die Zahl der Menschenrechtsverletzungen in den vergangenen Jahren enorm zugenommen, und die POLISARIO hatte zugestimmt, auch das von ihr gehaltene Territorium der Westsahara überprüfen zu lassen.

Und was ist in den vergangenen Wochen passiert?

Die Menschen zogen in mehreren größeren Städten auf die Straße, um den Weltsicherheitsrat auf die Situation aufmerksam zu machen. Seither dauern die Proteste an, noch am 1. Mai wurde eine Sitzblockade von Arbeitern geräumt.

Welches Ziel verfolgen die Demonstranten jetzt noch?

Es geht nicht nur um die Menschenrechte, sondern vor allem darum, daß endlich das Referendum über die Unabhängigkeit der besetzten Westsahara abgehalten wird.

Bereits vor zehn Jahren ist der UN-Sondergesandte James Baker von seinem Amt zurückgetreten, weil Marokko sich geweigert hatte, die ursprünglich vereinbarte Volksabstimmung jemals anzusetzen. Können Sie diese Blockadehaltung mit Demonstrationen wirklich überwinden?

Der Widerstand hat eine lange Tradition. Vor 40 Jahren, am 10. Mai 1973, gründete sich die Befreiungsfront POLISARIO, um die spanischen Besatzer zu vertreiben und später die einmarschierten Mauretanier und Marokkaner. Während Mauretanien sich zwischenzeitlich zurückgezogen hat, hält Marokko nach wie vor 80 Prozent des Gebietes besetzt.

Nach 22 Jahren Waffenstillstand ohne Fortschritte in Richtung nationaler Selbstbestimmung ist die Ungeduld unseres Volkes gewachsen. Die Menschen fühlen sich isoliert und von der internationalen Gemeinschaft vernachlässigt. Obwohl der erste Funke des arabischen Frühlings im Jahr 2010 in der Westsahara sprang, wie es der US-Friedensaktivist Noam Chomsky formulierte, sind dessen Früchte unserem Volk nicht zugekommen. Nach 38 Jahren marokkanischer Besatzung haben die Menschen einfach genug.

Das Motiv ist verständlich, aber wie wollen Sie das Ziel der Unabhängigkeit erreichen, wenn sich seit Jahrzehnten nichts gebessert hat?

Die Lage in Nordafrika hat sich sehr verändert, seit durch den arabischen Frühling viele Länder demokratischer geworden sind. Das schlägt sich auch im Bewußtsein der Menschen nieder, die sich fragen, wann sie ihre Freiheit erringen sollen, wenn nicht jetzt. Politisch ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen.

Marokko reagiert auf Demonstrationen regelmäßig mit Gewalt. Hat sich die Rolle des Besatzers trotzdem gewandelt?

Die Lage ist sehr angespannt. Marokko hat Tausende Soldaten vom Grenzwall zu den befreiten Gebieten abgezogen und in die Städte geschickt, um die Proteste niederzuschlagen. Teilnehmer an Demonstrationen werden von Militärgerichten abgeurteilt und in die Gefängnisse geschickt.

In Libyen und Syrien sind die Proteste zu Bürgerkriegen eskaliert. Besteht diese Gefahr auch in der Westsahara?

Der amtierende UN-Sondergesandte hat die Situation wegen der Gewalt in Mali und anderen Gebieten Nordafrikas als sehr explosiv dargestellt. Viele Menschen sind der Ansicht, daß der gewaltlose Widerstand, der sich in drei Intifadas äußerte, sie nicht weitergebracht habe und verlangen die Rückkehr zu den Waffen. Als Bürger der Westsahara kann ich das gut verstehen.

Also denken Sie, daß der bewaffnete Kampf wieder aufgenommen werden muß?

Mit Sicherheit. 15 Jahre bewaffneter Kampf haben uns weiter gebracht als 22 Jahre friedlicher Widerstand.

Interview: Mirko Knoche

* Aus: junge Welt, Montag, 6. Mai 2013


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