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Westsahara: Internationales Recht und politische Perspektiven

Marokko verweigert Referendum - UNO mit ihrem Latein am Ende?

Am 28. September 2000 fanden in Berlin direkte Gespräche zwischen den beiden Konfliktparteien Frente POLISARIO und dem Marokkanischen Königreich statt. Die Gespräche standen unter der Schirmherrschaft des persönlichen Gesandten des UN-Generalsekretärs Kofi Annan, James Baker (früherer US-Außenminister), der schon vor drei Jahren die Verhandlungen über die Modalitäten des Referendums geleitet hatte. Nach Angaben aus dem UNO-Hauptquartier in New York sollten die Berliner Gespräche helfen, die "vielfältigen Probleme zu lösen, die mit der Umsetzung des Besiedlungsplans für Westsahara" zu tun haben. Es sollte versucht werden, ein "Abkommen zu erzielen über eine beiderseitig akzeptierte Lösung des Streits" (un newservice, 22.09.2000). Als Beobachter sind Mauretanien und Algerien zu den Verhandlungen eingeladen. - Die Zeit ist knapp, da das Mandat für die UNO-Mission MINURSO am 31. Oktober 2000 abläuft. Die Aufgabe von MINURSO bestand darin, ein Referendum über die Unabhängigkeit Westsaharas durchzuführen. Über die Modalitäten dieses Referendums wird indessen seit Jahren zwischen den Konfliktparteien gestritten, wobei die Verzögerungen regelmäßig von marokkanischer Seite inszeniert wurden.

Die folgenden Gedanken von Werner Ruf, Professor für Internationale Politik an der Universität Kassel, der sich seit langem mit den Problemen Westsaharas beschäftigt, befassen sich weniger mit dem Inhalt der Berliner Verhandlungen, sondern sie kreisen vor allem um die Frage, welche Folgen sich aus ihnen für das Völkerrecht und für die Vereinten Nationen ergeben können. Rufs Befürchtung geht dahin, dass sich die UNO aus der ihr übertragenen Verantwortung stiehlt und die Lösung des Konflikts den streitenden Parteien zuschiebt, die Konfliktlösung also "privatisiert". Beim folgenden Text handelt es sich um einen Manuskriptentwurf für einen Diskussionsbeitrag auf einer internationalen Konferenz.

Dass die Befürchtungen gut begründet waren, zeigte sich an dem Ergebnis bzw. dem Nicht-Ergebnis der Berliner Verhandlungen. Auch die spätere Mandatsverlängerung für MINURSO bringt keine Entscheidung. Hierzu dokumentieren wir weiter unten zwei aktuelle Zeitungsmeldungen.

Westsahara: Internationales Recht und politische Perspektiven

Von Werner Ruf

Seit 1965 appelliert die Generalversammlung der Vereinten Nationen jährlich an Spanien, der UN-Resolution 1514 aus dem Jahr 1960 zu entsprechen und ein Referendum über die politische Zukunft seiner Kolonie durchzuführen. Konfrontiert mit den Ansprüchen Marokkos auf das Territorium beauftragten die VN den Internationalen Gerichtshof mit einer gutachterlichen Stellungnahme. Am 15. Oktober 1975 wies der Internationale Gerichtshof die marokkanischen Ansprüche zurück. Trotz dieser rechtlichen Klärung schloss Spanien am 14. November desselben Jahres ein dreiseitiges Abkommen mit Marokko und Mauretanien ab, in dem es die Souveränität über das Territorium diesen beiden Staaten übertrug. Beide Länder fielen in das Gebiet ein und annektierten es. Nachdem 1978 Mauretanien seine Truppen aus dem Territorium zurückgezogen und einen Friedensvertrag mit der Demokratischen Arabischen Republik Sahara - sie war am 27. Februar 1976 von der Befreiungsfront Polisario ausgerufen worden - marschierte Marokko in den ehemaligen mauretanischen Teil ein und annektierte ihn - eine klare Verletzung sowohl des Völkerrechts als auch des problematischen dreiseitigen Abkommens.

Trotz der sich geringfügig widersprechenden Resolutionen 3453 A und 3453 B (vom 10. Dezember 1975) der VN-Generalversammlung, bestanden die Vereinten Nationen auf dem "unveräußerlichen Recht auf Selbstbestimmung ..., das auf der Grundlage eines freien Referendums unter der Aufsicht der Vereinten Nationen hergestellt werden soll". Zusammen mit den vorangegangenen Beschlüssen (gutachterliche Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs, Resolution des UN-Sicherheitsrats 380 vom 6. November 1975), die Marokko aufgefordert hatten, die Teilnehmer am so genannten "grünen Marsch" zurückzuziehen, übernahmen damit die Vereinten Nationen die volle Verantwortung für eine Lösung des Konflikts - und zwar in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Völkerrechts und auf der Grundlage der eigenen Resolutionen. Dennoch vergingen fast sechzehn Jahre, bis, am 19. April 1991, der Sicherheitsrat die Resolution 690 verabschiedete, die ein detailliertes Programm zur Durchführung eines freien und gerechten Referendums und die Aufstellung der UNO-Blauhelmtruppe MINURSO enthielt. Seither wird der Friedensprozess blockiert durch das Problem der Identifizierung der Menschen, die zur Abstimmung berechtigt sein sollen. Marokko hat immer wieder versucht neue Wählergruppen zu benennen, die weit über das hinaus gingen, was die Registrierungsmission der VN festgestellt hat.

Im September 1997 schien in Bezug auf die Registrierungsmission eine prinzipielle Übereinkunft erreicht worden zu sein, und zwar auf der Grundlage von Verhandlungen, die unter Vermittlung von James Baker, dem persönlichen Gesandten des VN-Generalsekretärs zwischen beiden Seiten stattfanden. Dem Bericht des Generalsekretariats vom 31. Mai 2000 zufolge (S/2000/131) legte Marokko Ende 1999 etwa 139.000 Einsprüche gegen die Ergebnisse der Kommission vor.

Das entscheidende neue Element dieses und des jüngsten Berichts des Generalsekretärs (S/2000/683 vom 12. Juli 2000) ist aber der Vorschlag an beide Parteien, über eine "politische Lösung des Konflikts zu verhandeln", ein Vorschlag, der von der letzten Resolution des Sicherheitsrats vom 25. Juli 2000 /S/RES/1301) aufgegriffen wurde, wonach entschieden wurde, "das Mandat von MINURSO bis zum 31. Oktober 2000 zu verlängern in der Erwartung, dass die beiden Parteien ... versuchen werden, sich über eine beiderseitig akzeptierte Lösung ihrer Streitigkeiten über West-Sahara zu verständigen."

Was bedeutet das? Soll damit, nach mehr als 25 Jahren, das Recht auf Selbstbestimmung eines Volks, immerhin eines der Grundpfeiler der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts, den Entscheidungen von zwei Parteien überantwortet werden, die keine Legitimation besitzen, welche von einem frei geäußerten Mandat der betroffenen Bevölkerung herrühren würde? Wer kann sicher behaupten, dass die Polisario die rechtmäßige Vertreterin des Sahrauischen Volkes ist? Wer möchte behaupten, dass das Königreich Marokko berechtigt ist, im Namen des Sahrauischen Volkes zu sprechen und zu verhandeln? Bedeutet das vom Sicherheitsrat vorgesehene Verfahren, dass die Vereinten Nationen den Wesensbestand der grundlegenden Resolution 1514 der Generalversammlung (aus dem Jahr 1960) aufgibt, wonach den ehemaligen Kolonialvölkern das Recht auf Selbstbestimmung garantiert wurde? Ist es denkbar, dass die Vereinten Nationen, die - zusammen mit der OAU (Organisation Afrikanische Einheit) - für diesen Konflikt ein Vierteljahrhundert verantwortlich waren, sich nun aus ihrer eigenen Verantwortung stehlen? Und was ist mit der gutachterlichen Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofes? Sind nicht die Sicherheitsrats-Resolutionen 380 und 690 bindend - und zwar auch für den Sicherheitsrat?

Diese Flucht aus der Verantwortung der Vereinten Nationen ist nicht nur ein Schlag gegen die Prinzipien des Völkerrechts, es ist ein gefährlicher Schlag gegen die Vereinten Nationen selbst. Denn damit treten sie eine Frage höchster Wichtigkeit, die den internationalen Frieden und die Sicherheit bedroht, an dritte Parteien ab. Ist dies ein Präzedenzfall dafür, dass solche Angelegenheiten künftig gewissermaßen privatisiert, d.h. an die streitenden Parteien selbst übergeben werden? Die Vereinten Nationen und ihr Sicherheitsrat untergraben damit die Charta und die Standards des Völkerrechts und schaffen einen gefährlichen Präzedenzfall für die Rolle der VN in zukünftigen Konfliktlösungsaufgaben.

Es ist fast unglaublich, dass der Generalsekretär - zu Recht - auf die Tatsache hinweist, dass es keinen Durchführungsplan für die Resolution 690 gibt. Aber dies darf nicht der Grund dafür sein, sich von ihr zu verabschieden. Es müsste vielmehr Aufforderung sein, einen solchen Plan zu erstellen! Die Ereignisse in Osttimor haben doch nachdrücklich gezeigt, wie notwendig ein solcher Plan ist, wenn es darum geht, den Entscheidungen der Vereinten Nationen Wirkung und Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Welche politischen Folgen wird es haben, wenn sich die Vereinten Nationen aus ihrer Verantwortung für internationalen Frieden und Sicherheit zurückziehen? Was passiert mit den 150.000 Flüchtlingen in den Lagern bei Tindouf? Wer kann wissen, ob sie sich der marokkanischen Verwaltung übergeben? Sie können schließlich nicht ewig in einer feindlichen Umwelt leben, ohne jede Hilfe nach einer solchen "Lösung" des Konflikts. Höchst wahrscheinlich werden sie - auch wegen der existierenden familiären Verbindungen - nach Mauretanien auswandern, in eins der ärmsten Länder der Welt. Wird das die nächste Gefährdung des internationalen Friedens und der Sicherheit sein - hervorgerufen durch Entscheidungen der Sicherheitsrats? Es fällt schwer sich vorzustellen, dass die Vereinten Nationen selbst zur Wiederherstellung der Anarchie in den internationalen Beziehungen beitragen.
(Aus dem Englischen übersetzt von Peter Strutynski)

Über die - mageren - Ergebnisse der Berliner Konferenz veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen Artikel, der auf einem Gespräch mit dem Vertreter der Polisario, Jamal Zakari, beruht.

"Wir wissen jetzt, woran wir sind"

Polisario-Vertreter Zakari: Marokko lehnt UN-Plan offen ab
Von Judith von Sternburg (Frankfurt)


Immerhin, sagt Jamal Zakari, immerhin habe Marokko jetzt Farbe bekannt. Die direkten Verhandlungen zwischen Rabat und der Unabhängigkeitsbewegung für Westsahara, Polisario, seien zwar ohne jede Annäherung verlaufen. "Aber Marokko leugnet nicht mehr, dass es dem UN-Referendum für die Unabhängigkeit niemals freiwillig zustimmen wird", erklärt der Polisario-Vertreter im Gespräch mit der FR.

Von einem völligen Scheitern der Verhandlungen möchte Zakari nicht sprechen. Solange der Sonderbeauftragte von UN-Generalsekretär Kofi Annan, James Baker, noch zugange sei, gebe es auch eine Chance, das Referendum durchzusetzen. Allerdings: Bei den eintägigen Gesprächen in Berlin habe die marokkanische Delegation zum ersten Mal klipp und klar signalisiert, dass eine Volksabstimmung unter den Saharaouis, den Bewohnern der Westsahara, für sie nicht zur Debatte steht. Bei der von den Vereinten Nationen geplanten Befragung sollen die Saharaouis selbst darüber entscheiden, ob sie die Unabhängigkeit von Marokko wünschen. "Vieles ist bei dem Treffen klarer geworden", sagt Zakari, der die Polisario in Deutschland vertritt: "Wir wissen jetzt, woran wir sind."

Technische Probleme - vor allem mit Blick auf die Frage, welche Westsahara-Bewohner abstimmungsberechtigt sein sollten - hatten bisher von marokkanischer Seite als Haupthindernis für das immer wieder verschobene UN-Referendum gegolten. "Wir waren darauf eingestellt, erneut über diese Schwierigkeiten zu sprechen", erklärt Zakari. Rabat habe die Verhandlungen aber ganz anders aufgezogen. "Die Delegation fragte nur, ob wir bereit seien, über Alternativen zu sprechen."

Im Raum stehen - schon seit den 80er Jahren - Autonomiepläne für die 1975 von Marokko besetzte Region. Eine Autonomie wäre der Regierung lieber, als die Ausrufung eines unabhängigen Staates. Zakari: "Rabat weiß genau, dass wir diese so genannte Alternative nicht akzeptieren." Davon, dass inzwischen auch Saharaouis, zermürbt von den Verzögerungen, auf diesen Kurs einschwenken, will die Polisario nichts hören. "Die Abstimmung wird zeigen, wie die Menschen denken."

Zakari rechnet damit, dass der Sonderbeauftragte Baker die Parteien noch in den kommenden Wochen erneut zusammenbringen wird. Bleibe Marokko beim Nein, werde Annan einen entsprechenden Bericht erhalten. "Dann müssen sich die UN dazu stellen, wie mit einem von ihnen gewollten und organisierten Vorhaben umgegangen wird."
Aus: Frankfurter Rundschau, 30.09.2000

Der folgende Artikel (vom 11. November 2000) geht auf die "neue" Situation nach der Mandatsverlängerung von MINURSO ein. Die UNO scheint das Problem aussitzen zu wollen. Die Leidtragenden sind die Sahrauis.

Annan blockiert Referendum

Westsahara: Fauler UNO-Kompromiß.
Generalsekretär führt US-Weisungen aus

Der UNO-Sicherheitsrat hat Ende Oktober einstimmig das Mandat der »UN-Mission für die Organisierung eines Selbstbestimmungsreferendums in der Westsahara« (MINURSO), der ehemals spanischen Kolonie, die 1975 von Marokko annektiert wurde, um vier Monate verlängert. Grund für die Verlängerung sind die fortdauernden Differenzen zwischen der Besatzungsmacht und der lokalen Befreiungsbewegung, der »Volksfront für die Befreiung von Seqiat al-Hamra und Rio de Oro« (POLISARIO), über die Zahl der Abstimmungsberechtigten. Während die POLISARIO auf der Basis des letzten spanischen Zensus 90 000 Sahrauis als abstimmungsberechtigt anerkennt, fordert Marokko die Anerkennung von 230 000 Stimmberechtigten. Marokko hat inzwischen in den von ihm besetzten Gebieten, die die POLISARIO als »Demokratische Arabische Republik Sahara« (DARS) ausgerufenen hatte, Abertausende von Marokkanern angesiedelt.

Der UN-Sicherheitsrat, der nach dem Krieg zwischen POLISARIO und Marokko seit 1992 das unter seiner Aufsicht durchzuführende Referendum mit technischen Vorwänden immer wieder verschob, hat sich nun praktisch dafür ausgesprochen, das Referendum ganz zu umgehen. Er ist voll und ganz den Empfehlungen des UN- Generalsekretärs Kofi Annan gefolgt, Marokko einen Aufschub zu gewähren, damit das Land in der Westsahara »eine wichtige und den internationalen Normen entsprechende Autonomie« durchsetzen könne. Damit entspricht Annan, bekanntlich ein Mann der USA, die wiederum der engste Verbündete der alauitischen Monarchie in Rabat sind, einem von Marokko am 28. September offiziell unterbreiteten Vorschlag. Mit diesem sollte der POLISARIO »ein ernsthafter und offener Dialog« im Rahmen der Politik der »Dezentralisierung« eröffnet werden, die von König Mohamed IV. vertreten werde. Die POLISARIO hat den Vorschlag Annans natürlich umgehend zurückgewiesen. Für sie komme weiterhin nur ein Referendum über die staatliche Unabhängigkeit in Frage.

Der Präsident der DARS, Mohamed Abdelaziz, stellte in diesem Zusammenhang fest, daß sich zumindest in Hinblick auf das sahrauische Volk durch den neuen marokkanischen König nichts geändert habe - sehe man einmal davon ab, daß für die Unterdrückung in der Kolonie nun nicht mehr die Polizei des abgesetzten Innenministers Driss Basri, sondern direkt die Armee zuständig sei.

Mohamed Abdelaziz beschuldigte Marokko auch der Blockade. Ende September habe die marokkanische Seite auf einem Treffen, das unter der Ägide des früheren US- Außenministers James Baker in Berlin stattfand, erklärt, es sei an einer demokratischen Lösung der Sahara-Frage nicht interessiert. Die jetzt öffentlich angebotenen direkten Verhandlungen seien für die POLISARIO nichts Neues. Man verhandele nämlich bereits seit 1997 direkt miteinander.

Auf die Frage, ob die POLISARIO gegebenenfalls den bewaffneten Kampf wieder aufnehmen werde, hielt sich Abdelaziz eher bedeckt. Man werde den Waffenstillstand weiter respektieren, es aber nicht erlauben, daß die Blauhelme der UNO dazu dienten, entweder den Status quo aufrechtzuerhalten oder sogar eine Lösung durchzusetzen, die jenseits der vollständigen Respektierung der freien Wahl des sahrauischen Volkes angesiedelt sei. Mohamed Abdelaziz wies darauf hin, daß Marokko parallel zu den Verhandlungen mit Hilfe Frankreichs versuche, die DARS diplomatisch zu isolieren, wie zuletzt die Rücknahme der diplomatischen Anerkennung durch Indien gezeigt habe. Die DARS habe aber immerhin ihre Beziehungen zu Nigeria auf Botschafterebene angehoben und zu Guinea-Bissau diplomatische Beziehungen aufgenommen.

Anton Holberg

Aus: junge welt, 11. November 2000

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