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"Befreit die Westsahara"

In Al-Ayoun sind Proteste gegen die Besatzungsmacht Marokko nahezu an der Tagesordnung

Von Martin Lejeune, Al-Ayoun *

Über 35 Jahre dauert der Konflikt um die Westsahara zwischen Marokko und der von Algerien unterstützten Befreiungsbewegung Frente Polisario. Ungezählte Friedensinitiativen sind bisher gescheitert. Das Königreich hatte die an Bodenschätzen reiche Westsahara 1975 annektiert, nachdem die spanischen Kolonialtruppen abgezogen waren.

Mesbah, ein 24-jähriger Arbeiter in einer der Phosphatminen in der Wüste, geht am Abend durch die dunklen Straßen seines Viertels Maatalla in Al-Ayoun. An jeder Straßenkreuzung steht eine Gruppe aus mehreren Sicherheitsmännern. Sie tragen dunkelblaue Uniformen und Automatikwaffen. »Maatalla ist das heißeste Viertel in Al-Ayoun«, erklärt Mesbah die Präsenz der Sicherheitskräfte auch in den Nebenstraßen im Inneren des Viertels. »Hier wohnen die Familien vieler Widerstandskämpfer. Jede Woche, in Zeiten wie diesen auch täglich, gibt es in Maatalla Proteste gegen Marokko und Ausschreitungen zwischen Sahrauis und den Sicherheitskräften.«

Großer Rückhalt für Frente Polisario

Al-Ayoun, eine Küstenstadt am Atlantischen Ozean, ist die Hauptstadt der von Sahrauis bevölkerten Westsahara, die seit November 1975 von Marokko besetzt wird. 100 000 marokkanische Soldaten bekämpften in den 70er Jahren in der Westsahara die Milizen der Frente Polisario, die nach ihrer militärischen Niederlage nach Algerien geflüchtet sind und seither dort im Exil leben. In der von Marokko besetzten Westsahara agiert die Frente Polisario im Untergrund und verfügt über großen Rückhalt in der Bevölkerung.

»Es lebe die Frente Polisario« und »Befreit die Westsahara« steht in schwarzer Schrift neben gemalten Fahnen der Westsahara an vielen der roten Hauswände in Maatalla. Die Fahne der Westsahara ist schwarz-weiß-grün mit einem roten Dreieck auf der linken Seite und einem roten Halbmond und Stern in der Mitte des weißen Streifens. »Sobald wir die Westsahara befreit haben«, erklärt Mesbah, »ändern wir unsere Fahne. Dann wird das Schwarz unten und das Grün oben sein.« Doch solange das noch nicht der Fall ist, glänzt überall an den roten Hauswänden Al-Ayouns von den Sicherheitskräften neu aufgetragene rote Deckfarbe. Immer wieder aufs Neue versuchen sie die Parolen und die Westsahara-Fahnen aus dem Stadtbild zu tilgen.

In welches dieser roten Häuser in Maatalla in Al-Ayoun oder in Ad-Dakhla, der zweitgrößten Stadt der Westsahara, man auch kommt: Überall läuft DARS TV in den Wohnzimmern, der Fernsehsender der Frente Polisario, dessen Studios sich östlich der Mauer in Rimani befinden. Marokko besetzt den gesamten Küstenstreifen, vom Atlasgebirge bis zur mauretanischen Grenze, und hat mitten in der Wüste eine Mauer gebaut, um das Eindringen von Polisario-Kämpfern in die besetzten Gebiete zu verhindern. Westlich der Mauer liegen die Phosphat- und Erdölvorkommen, vor der Küste liegen große Fischvorkommen.

»All die Erlöse aus dem Export der Fische und der Bodenschätze gehen nach Marokko. Die Sahrauis sehen davon nichts«, klagt Mesbah bei einer Tasse starkem grünen Tee im Haus seiner Familie. Bei der Zubereitung des Tees lässt sich Mesbahs Mutter viel Zeit. Auf einem silbernen Tablett stehen acht Gläser, zwischen denen sie ungezählte Male Tee hin- und her schüttet, bevor ein erster, bitterer Schluck, nur wenig gesüßt, gereicht wird. Nach weiterem Hin- und Herschütten wird ein zweiter, gesüßter Schluck, serviert.

Auf der Samarastraße, die an das Viertel Maatalla angrenzt, ist - nicht nur an diesem Abend - die Präsenz der Sicherheitstruppen massiv. Weiße Polizeiautos patrouillieren auf der Straße. Auf den Bürgersteigen parken große dunkelblaue Truppentransporter, deren Fenster vergittert sind. Es sind die martialischen Wagen der Aufstandsbekämpfungstruppen, die sich über Hunderte Meter aneinanderreihen. In mehreren Seitenstraßen parken olivgrüne gepanzerte Militärfahrzeuge.

Die Straßen sind nach Sonnenuntergang in Dunkelheit gehüllt, da es an Straßenbeleuchtungen fehlt. Auf den Straßen und Bürgersteigen sind allgegenwärtige Schlaglöcher und herumliegende Steine ständige Stolperfallen. Am Straßenrand und auf Plätzen türmen sich Mülltüten. Öffentliche Verkehrsmittel wie in allen anderen Städten Marokkos gibt es nicht. Wer sich fortbewegen will, muss das Taxi nehmen.

»Die Städte der Westsahara sind nach 36 Jahren Besatzung in einem erbärmlichen Zustand«, sagt Mesbah, während er durch eines der heruntergekommenen und tristen Wohnviertel außerhalb des Zentrums führt. »Schulen, Krankenhäuser, alles ist hier in einem schlechteren Zustand als im Norden Marokkos. Marokko ist es egal, wie wir Sahrauis hier leben.«

Die Sahrauis wehren sich immer wieder mit dem Mittel des Hungerstreiks. So auch im marokkanischen Menschenrechtszentrum in der Zaratonistraße. 19 »Mit der Besetzung protestieren wir gegen die marokkanische Menschenrechtspolitik in den besetzten Gebieten«, lautete die Parole der Besetzerinnen. Frauen verweigerten dort ab 21. November die Nahrungsaufnahme. Sie unterstützten damit die 24 politischen Häftlinge im Gefängnis Sale 2 in der Nähe Rabats, die zuvor am 31. Oktober in den Hungerstreik getreten waren. Der kombinierte Hungerstreik war von relativem Erfolg gekrönt: Gegen konkrete Zusagen von Verbesserungen der Haftbedingungen wurden sie am 9. Dezember beendet.

Die 24 Gefangenen gehören zu einer Gruppe von über 200 Sahrauis, die im November 2010 bei der Stürmung eines Protestcamps verhaftet wurden. Marokkanische Sicherheitskräfte zerstörten an diesem Tag gewaltsam das friedliche Protestlager gegen die Besatzung in Gadaym Izik, ein Ort in der Wüste, 15 Kilometer entfernt von al-Ayoun. Das Lager, in dem 20 000 Sahrauis aus al-Ayoun campierten, war einen Monat zuvor errichtet worden. Die Räumung kostete mehrere Demonstranten das Leben und forderte über 900 Verletzte. Heute ist eine Besichtigung von Gadaym Izik nicht mehr möglich. Die Gegend wird zwecks Verhinderung weiterer Aufstände vom Militär weiträumig abgesperrt.

»Wir Sahrauis waren die ersten, die in Nordafrika den Aufstand probten, noch vor den Tunesiern und den Ägyptern«, sagt Aliya Dafi (42), die sich am Hungerstreik im Zentrum beteiligte. In ihrem Schoß liegen Bilder ihres Bruders Dich Dafi (33) und ihres Cousins Mohammed Mabara (32), die beide in Gadaym Izik verhaftet wurden.

Neben Aliya Dafi sitzt Mabaraka Bani (31), die Bilder ihres Bruders Mohammed Bani (42) und ihres Freundes Hassan al-Zawi (35) in den Händen hält, Leidensgenossen von Dafis Verwandten. »Jeden Tag und jede Nacht sorge ich mich um das Wohl meines Bruders und meines Freundes. Ich fordere Marokko auf, sie und alle Gefangenen aus Gadaym Izik sofort freizulassen, denn sie haben nur friedlich in ihrem Zelt in der Wüste für ihre Menschen- und Bürgerrechte demonstriert.«

Hayat Buhale (22), vor der ein Foto ihres 23-jährigen Bruders liegt, der ebenfalls wegen seiner Teilnahme an den Protesten in Gadaym Izik »ohne Gerichtsverhandlung«, wie sie sagt, in dem während der spanischen Kolonialzeit gebauten Gefängnis Lahabes Lakhal in al-Ayoun sitzt, meint: »Die Opfer der marokkanischen Polizeigewalt belegen die Unterdrückung des sahrauischen Volkes. Doch die internationale Gemeinschaft schaut weg. Frankreich verhindert sogar in der UN eine Mission zum Schutz der Zivilbevölkerung in der Westsahara.«

»Kämpft solange, bis wir unsere Freiheit haben«

Auch nach dem Ende des Hungerstreiks gibt es noch genügend Anlass zu Demonstrationen, wie sie währenddessen immer wieder stattgefunden haben. An der Aktualität der Forderungen hat sich nichts geändert. »Ich möchte meinen Vater zurück!«, rief ein junger Mann in ein Megafon, andere riefen gemeinsam: »Sahrauische Frauen, sahrauische Männer, kämpft so lange, bis wir unsere Freiheit haben.« Eine Frau spreizte ihre Finger zu einem Victory-Zeichen und rief »Viva Frente Polisario.« Dann lösten anrückende Sicherheitskräfte die Demonstration auf. Einer der Männer wurde festgenommen und abgeführt. »Jetzt kommt er nach Lahabes Lakhal, wo schon die Spanier die für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Sahrauis eingesperrt haben«, sagte eine Demonstrantin. Die Frente Polisario hat einen langen Weg hinter sich und das Ziel ist fern. Der künftige Kurs wird gerade beim bis kommenden Montag dauernden 13. Kongress in Tifariti diskutiert.

* Aus: neues deutschland, 17. Dezember 2011


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