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Die letzte Kolonie

Zurück zum bewaffneten Kampf? In den befreiten Gebieten der Westsahara beginnt am heutigen Freitag der 12. Polisario-Kongreß

Von Gerd Schumann, Tifariti/DARS *

Das größte unter den derzeit von den Vereinten Nationen weltweit noch verzeichneten 16 »abhängigen Gebieten und Territorien« liegt in Afrika und heißt Westsahara. Es ist die letzte verbliebene Kolonie des Kontinents. Geht es nach der »Frente Polisario«, soll der archaisch anmutende Zustand nun endlich beendet werden. Die Befreiungsorganisation sei zwar nach wie vor einer »friedlichen Beilegung« des Konflikts verpflichtet, erklärte die »Frente«, die Befreiungsbewegung der Westsahara jüngst in Algier. Um zugleich einzuschränken, daß die etwa 1700 Delegierten auf ihrem 12. Kongreß, der ab dem heutigen Freitag (14. Dezember) fünf Tage lang in Tifariti in den »befreiten Gebieten« tagen soll, auch über Alternativen am Rande oder jenseits des Verhandlungswegs beraten werden.

»Zwei Optionen werden dem Kongreß vorgeschlagen«, skizzierte Mohamed Beissat die politische Kontroverse innerhalb der Polisario: »Sollen wir die Friedensverhandlungen weiterführen oder den bewaffneten Kampf wiederaufnehmen, um den Prozeß zu beschleunigen?« Die Fragestellung des Sahraui-Botschafters in Algier wirft ein Licht auf die tiefe Misere, in der sich die Polisario (Frente Popular para la Liberaciòn de Saguia al Hamra y Rio de Oro) nicht erst seit gestern befindet. Zwar existieren seit Jahrzehnten eindeutige, international verbindliche Festlegungen, wonach über die Unabhängigkeit des Landes abgestimmt werden soll – erstmals 1966 von der UNO gefordert und mehrfach ausdrücklich von derselben Institution bestätigt. Doch wird eben dieses Referendum bis heute mit Penetranz und Roßtäuschertricks vom marokkanischen Königshaus sabotiert.

Dabei standen die historischen Signale auf Sieg, damals, am 10. Mai 1973, als die Polisario mit ihrem Aufruf »Die Freiheit kommt aus den Gewehrläufen« erstmals den bewaffneten Widerstand gegen »Imperialismus und das faschistische Spanien« propagierte und keine zwei Jahre darauf bereits größere Teile der Westsahara kontrollierte. Die ­Periode war von einer formellen Entkolonisierung des Trikont und insbesondere Afrikas geprägt, die europäische Herrschaft schien am Ende, und auch die Unabhängigkeit des Landes lag zum Greifen nah. Doch sah sich Spanien zwar gezwungen, das ab 1884 okkupierte Gebiet zu räumen, nicht ohne es jedoch im Madrider Abkommen von 1975 »Nachfolgern« in Gestalt des Königreichs Marokko und der Islamischen Republik Mauretanien zu »übertragen«.

Insbesondere das marokkanische Militär – Mauretanien zog sich später aus der Westsahara zurück – zerschlug die Polisario-Hoffnung auf eine eigene, sozialistischen Ideen aufgeschlossene, an Gleichheit und sozialen Rechten orientierte »Republik« in der Sahara. Die Bevölkerung floh ins Landesinnere. 25000 Menschen starben Anfang 1976 im Phosphor- und Napalmbeschuß von Rabats königlicher Luftwaffe. Am Rande eines eigenen Staats, auf algerischem Gebiet, entstanden um die Oasenstadt Tindouf vier Flüchtlingslager, in denen etwa 165000 Menschen leben, selbstverwaltet, aber doch abhängig von ausländischer Hilfe und immer hoffend auf Rückkehr in die »Demokratische Arabische Republik Sahara« (DARS). Diese war von der Polisario am 27. Februar 1976 proklamiert worden. Ein an Bodenschätzen reiches Wüstengebiet mit nomadischer Tradition, begehrt vor allem wegen der weltweit größten Phosphorvorräte und vermuteter Ölvorkommen ebenso wie wegen der fischreichen Atlantikküste.

Nun soll im Wüstenort Tifariti, der 1976 von den Truppen des damaligen Herrschers Hassan II. dem Erdboden gleichgemacht worden war und mittlerweile als Zentrum der »befreiten Gebiete« im Osten der DARS gilt, erneut über Wege aus dem völkerrechtlichen Ausnahmezustand diskutiert werden. Botschafter Beissat meint, daß die Polisario versuchen wolle, andere Staaten für eine Verurteilung Marokkos zu gewinnen und so den Druck auf Rabat zu erhöhen.

Auf welches Land, auf welche internationale Kräftekonstellation, kann die Befreiungsbewegung hoffen? Auf George W. Bushs ölorientierter Supermacht bleibt ebensowenig zu hoffen wie auf Nicolas Sarkozys marokkonahe Diplomatie oder José Luis Zapateros postkoloniales Königreich, das sich auch mit dem Selbstbestimmungsrecht der Basken, Katalanen und Galicier so unendlich schwer tut. Angela Merkels machtarrogante »Menschenrechtspolitik« greift lediglich dort, wo sie imperialistische Interessen befördert. Und das Gewicht der Afrikanischen Union reichte in der Vergangenheit nicht, um den vom Westen hofierten König in Rabat zu bremsen.

Doch mögen sich die Zeiten geändert haben. Polisario zumindest baut darauf: Tagte ihre höchste Instanz, der Kongreß, normalerweise alle drei Jahre, verstrichen diesmal vier – eine im Statut als »einmalig« vorgesehene Möglichkeit. Man habe davon, so Jamal Zakari, Frente-Sprecher in Deutschland und Delegierter in Tifariti, »aufgrund der Aufnahme der direkten Verhandlungen zwischen Marokko und der Frente Polisario Anfang dieses Jahres Gebrauch gemacht«. Guten Willen zeigte bisher lediglich eine Seite. Belohnt wurde sie dafür nicht.

* Aus: junge Welt, 14. Dezember 2007


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