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Zur Lage in der Westsahara

Von Gabriel Hartmann *

Das Territorium der Westsahara war bis 1975 eine spanische Kolonie. Im Gegensatz zu den Kanarischen Inseln, die der Küste dieses Territoriums vorgelagert sind und sich früher einer hohen seefahrerischen Bedeutung erfreuten, welche später von zunehmendem touristischen Wert abgelöst wurde, haben sich die spanischen Kolonialherren aus dem weitläufigen, rohstoffarmen Gebiet der Westsahara ganz zurückgezogen. Ihnen waren in den Jahrhunderten zuvor mehrere andere Kolonialherren vorausgegangen, darunter Portugal, die Niederlande und England. Wegen der geringen Rohstoffvorkommen – neben einigen Phosphatvorkommen kommt nur dem Fischfang eine gewisse Bedeutung zu – hat die dünn besiedelte Westsahara für die europäischen Kolonialmächte kaum wirtschaftliche oder geostrategische Bedeutung. Sie alle haben wenig in die Infrastruktur der Region investiert und auch für das Bildungssystem wenig von bleibendem Wert hinterlassen. Anders sieht das Interesse der afrikanischen Regionalmächte an der Westsahara aus, welche von den europäischen Okkupatoren teilweise geschickt gegeneinander ausgespielt wurden.

Das durch den Abzug der Spanier ausgelöste Machtvakuum mündete in einen Krieg zwischen Algerien, Marokko und Mauretanien, aus dem das Königreich Marokko als Sieger hervorging, Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag hat Marokko seinen Anspruch auf das gesamte Territorium der Westsahara geltend gemacht und diesen durch geschichtliche Verbindungen begründet. Algerien strebt seinerseits über die Westsahara einen direkten Zugang zum Atlantik an, da Algeriens Seezugang über das mediterrane Binnenmeer von Marokko kontrolliert werden kann. Das militärisch vergleichsweise schwache Mauretanien hat dagegen seinen Anspruch auf das südliche Drittel der Westsahara schon bald aufgegeben.

Das Königreich Marokko sieht sich als integrierende Regionalmacht des gesamten Maghreb. Marokkanische Schulkinder unterscheiden interessanterweise nicht zwischen den Worten „Marokko“ und „Maghreb“. Marokko und der Maghreb sind auf arabisch ein und dasselbe. Die Region, die von Marokko „Le Grand Maghreb“ (arabisch: „Al Magrib Kabir“) genannt wird, umfasst 5 Länder: Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien. Ein sechstes Land mit dem Namen Westsahara ist im Grand Maghreb nicht vorgesehen.

Eine ausgeprägte eigene Nationalität gibt es für das Gebiet der Westsahara anscheinend nicht. Wie von einem in der Westsahara stationierten Mitarbeiter der Vereinten Nationen zu vernehmen war, stößt es bei der lokalen Bevölkerung, den Sahari, oft auf Erstaunen, wenn davon die Rede ist, dass es neben Algerien, Marokko und Mauretanien auch einen Staat Westsahara geben soll. Die kollektive Identität geht bei vielen kaum über die Stammeszugehörigkeit hinaus.

Effektiv wird die Westsahara heute vom Königreich Marokko verwaltet. In den Abendnachrichten des marokkanischen Fernsehens wird die Westsahara regelmäßig mit Marokko als zusammenhängendes Staatsgebiet ohne Grenze dargestellt und als “Provinces du Sud“ bezeichnet. In allen größeren Städten der Westsahara weht die marokkanische Flagge. Marokko betreibt eine aktive Siedlungspolitik auf dem Gebiet der Westsahara und schafft Anreize für die Zuwanderung von Familien aus dem Norden. Während in den großen Städten des Nordens Kriminalität und Drogenkonsum bis in die Schulen vordringen, geht es in den Städten der Südprovinzen ruhig und geordnet zu. In Dakhla und in Laayoune, der Hauptstadt der Westsahara, werden mehrspurige Prachtalleen mit pompösen Bürgersteigen angelegt, die hohen symbolischen Wert haben, jedoch kaum dem geringen Verkehrsaufkommen entsprechen. Das Königreich Marokko investiert riesige Geldsummen in den Süden. Überall wird gebaut, selbst in kleinen Orten mitten in der Wüste. Hunderte Wohnungen stehen anschließend leer.

Anders sieht die Sichtweise der Vereinten Nationen aus. Nach dem Verständnis der internationalen Staatengemeinschaft muss aus dem ehemaligen Kolonialgebiet ein eigener Staat hervorgehen, gleichsam um das westfälische Prinzip aufrecht zu halten. Die Befreiungsbewegung der Westsahara, die nach dem Abzug der Spanier am Rio d’Oro in Dakhla ihren Ursprung nahm und sich „Frente Polisario“ nennt, rief eine eigenständige Republik Westsahara aus, deren Souveränität heute von 27 Staaten der Welt anerkannt wird. Aufgabe der UN-Mission MINURSO ist es, die Republik Westsahara von der völkerrechtlich illegitimen marokkanischen Besetzung zu befreien. Vorgesehen ist schon seit langem, ein Referendum durchzuführen, durch das die Bevölkerung der Westsahara über eine eigene Regierung und Zukunft bestimmen soll. Dieses Referendum wird von Marokko immer weiter herausgezögert und gestaltet sich inzwischen als sehr schwierig, weil nicht mehr unterschieden werden kann, wer „einheimisch“ ist und wer aus dem Norden zugezogen ist. „Die Sahara wird von Marokko zivilisiert und das wird so hingenommen“, so die Einschätzung eines UN-Mitarbeiters vor Ort.

Das Gebiet der Westsahara wurde im Zuge des „grünen Marsches“ von der marokkanischen Armee in mehreren Etappen eingenommen. Bei jeder Etappe wurde der Gebietszuwachs mit einer „Mauer“, genauer einem Sandwall, der auf beidseitig vermint ist, vor Rückschlägen der Polisario geschützt. Dieser Sandwall wurde mehrfach erweitert und verlegt, dadurch sind heute große Teile der Westsahara vermint. Selbst unter den einheimischen Nomaden, die sich auf dem Gebiet auskennen, haben diese Minen schon etliche Todesopfer und Verstümmelungen gefordert. Auf dem Gebiet westlich des Walls wurden alle Polisario-Sympathisanten in Kampfhandlungen eliminiert.

Laut UN-Angaben sind entlang des 2500 km langen Sandwalls marokkanische Truppen mit einer Stärke von 100'000 Mann stationiert. Etwa alle 10 km befindet sich ein Camp mitten in der Wüste, wo 10-15 Soldaten Wache halten. Daneben gibt es größere Camps, beispielsweise in Aousard, wo Panzerkolonnen stationiert sind. Zivile Besucher müssen sich dort bei der lokalen Gendarmerie registrieren. Vor dem Verlassen der Strassen wird ausdrücklich gewarnt, weil überall Minen im Boden vergraben sind. Auf marokkanischen Touristenkarten sind diese Grenzposten und der Sandwall aus politischen Gründen nicht markiert – es sieht so aus, als ob die Strassen dort weiter befahrbar wären, aber in Wirklichkeit gibt es dort kein Durchkommen. So findet auch die große Teerstrasse N3 von Dakhla Richtung Osten auf halber Strecke ein plötzliches Ende beim Militärstützpunkt in Aousard. Grundsätzlich sind die marokkanischen Sicherheitskräfte freundlich und zuvorkommend, auch wenn Korruption an den Polizei- und Grenzposten oft beobachtet werden kann, beispielsweise durch die Forderung der Herausgabe von Zigaretten oder von Schmiergeldzahlungen bei Händlern, die Schmuck oder Mobiltelefone mit sich führen. Bei der Einreise in die Westsahara müssen Ausländer eine Kopie des Reisepasses abgeben, der an die Botschaft des entsprechenden Landes geschickt wird, um diese über den Verbleib ihrer Buerger zu informieren, falls jemand gekidnapt wird oder verschwindet.

Die Vereinten Nationen führen von Aousard und mehreren anderen Außenposten entlang des Sandwalls täglich Kontrollfahrten in einem Radius von 150 km auf beiden Seiten des Walls aus, um die Bewegung der marokkanischen Truppen zu dokumentieren. UN-Fahrzeuge haben auf dem gesamten Grenzgebiet Bewegungsfreiheit und können den Sandwall an mehreren Stellen überqueren, die für den zivilen Verkehr gesperrt sind. Wenn Marokko mehr Truppen in das Gebiet verlegt als nach dem Abkommen zwischen Marokko und den Vereinten Nationen erlaubt sind, wird dies nach New York gemeldet. Zweimal wöchentlich werden zudem Überwachungsflüge per Hubschrauber durchgeführt, um einen Überblick aus der Luft zu bekommen.

Ein wichtiger Punkt, den UN-Fahrzeuge beim Überqueren des Sandwalls zu beachten haben, ist, dass sie auf der anderen Seite des Walls auf dem Gebiet der Polisario ihre Nummernschilder umdrehen müssen. Die Fahrzeuge der UN-Mission MINURSO haben beidseitig bedruckte Nummernschilder, auf der einen Seite mit marokkanischen Nummern und auf der anderen Seite mit mauretanischen Nummern. Die Gründe dafür sind psychologischer Art, denn die Polisario wollen nicht daran erinnert werden, dass auf der anderen Seite des Walls ein Staat Marokko existiert. Die Exilregierung der Republik Westsahara befindet sich in der Wüstenstadt Tindouf auf algerischem Territorium. Ursprünglich sei Tindouf eine marokkanische Stadt gewesen, die von den französischen Kolonialherren nach dem Prinzip „divide and rule“ nach Algerien abgespalten wurde, hört man in Marokko. De facto hat die UN-Mission MINURSO, welche die Flüchtlingslager der Polisario in Tindouf mit Lebensmitteln versorgt, jedoch keinerlei Abkommen mit Algerien. Die Stadt Tindouf liegt so weit weg von den anderen algerischen Städten am Mittelmeer, dass dort die algerische Regierungspräsenz so gut wie fehlt. Die Bevölkerung von Tindouf wird von der Polisario-Führung, die sozialistisch geprägt ist, wie in einem Gefängnis gehalten. Obwohl von den UN ein Austausch zwischen Familienmitgliedern in Tindouf und Verwandten, die auf dem von Marokko verwalteten Teil der Westsahara leben, vorgesehen ist, wird dieser Austausch von den Polisario unterdrückt oder mit hohen Lösegeldsummen erpresst. Auch von den UN-Hilfslieferungen, die für die Flüchtlinge in Tindouf vorgesehen sind, zweigt die Polisario-Führung einen Grossteil ab und verkauft diese Lebensmittel weiter. Dessen sind sich die vor Ort arbeitenden UN-Mitarbeiter bewusst. Die Polisario-Führung profitiert vom Schwebezustand des ungelösten Konfliktes. Die UN ist nur so lange dort, wie sie von beiden Seiten gewollt wird. Wenn eine der Parteien die UN-Präsenz nicht mehr wünscht, wird die Mission aufgelöst (so wie dies z. B. bei der UN-Mission in Eritrea und Äthiopien der Fall war). „Das ist so, wie wenn Sie den Anwalt wechseln“ kommentiert ein Mitarbeiter der UN.

Marokko wirbt bei den wenigen Polisario-Angehörigen, die zum Besuch von Familienmitglieder nach Marokko ausreisen dürfen, damit, was für ein hoher Lebensstandard sie in den neuen Siedlungen erwartet und welche Wohnungen für sie bereitstehen. Tatsächlich wechseln einige Polisario-Angehörige aus wirtschaftlichen Gründen auf die marokkanische Seite und lassen ihre Familien zurück.

Auf dem Weg von der Westsahara nach Mauretanien muss man einen 4 km breiten Streifen Polisario-Gebiet durchqueren, der zwischen beiden Grenzposten liegt. Es gibt hier keine Teerstraße, nur eine Sandpiste, und das Gebiet ist hochgradig vermint, so dass das Durchfahren nicht ungefährlich ist. Dieser Streifen, der „internationale Zone“ genannt wird, gleicht einer großen Müllhalde. Hier stapeln sich Autowracks, Kühlschränke und allerlei sonstiger Müll. Das Müllproblem ist in allen Städten der Westsahara sehr groß. Alle Plastikabfälle werden einfach in die Wüste geworfen. Vom Baseler Abkommen hat hier noch nie jemand gehört.

Auf mauretanischer Seite ließ ein Polizeichef als Antwort auf die Frage nach der Beziehung zwischen Marokko und der Polisario eine Meinung verlauten, die selten so deutlich ausgesprochen wird: „C’est comme avec l’Israel et la Palestine.“ Der Vergleich der Siedlungs- und Besatzungspolitik Marokkos mit derjenigen Israels dürfte die arabische Welt kaum erfreuen, doch könnte dieser beide Seiten durchaus zum Nachdenken anregen.

Für eine ausgeglichene Einschätzung der Lage in der Westsahara wäre es notwendig, auch das Gebiet östlich des Sandwalls zu bereisen und die dort lebenden Menschen zu Wort kommen zu lassen. Dies war im Rahmen dieses Berichts nicht möglich. Hierfür wird auf die anderen Berichte zu diesem Thema auf dieser Website verwiesen, in denen die Lage aus der Sichtweise der Betroffenen, der Polisario und aus der Sichtweise von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen dargestellt wird.

* Master in Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg

Dakhla, 11. Juni 2010


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