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Doppelzüngigkeit

Kämpferin für Selbstbestimmung der marokkanisch besetzten Westsahara, Aminatou Haidar in Bremen geehrt. Gleichzeitig vertieft Berlin Wirtschaftsbeziehungen mit Rabat

Von André Scheer *

Der vergangene Donnerstag war in Berlin ein schöner Herbsttag. Die Sonne schien durch die großen Fensterscheiben im Bundestagsgebäude. Aminatou Haidar jedoch hielt sich die Hand vor die Augen und bat darum, die Jalousien zu schließen. »Ich habe vier Jahre mit verbundenen Augen in Isolationshaft zubringen müssen. Seither kann ich kein Sonnenlicht mehr vertragen«, entschuldigte sie sich bei den Teilnehmern eines Fachgesprächs, zu dem die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen eingeladen hatte.

Haidar stammt aus der Westsahara. Als sie 1987 von der marokkanischen Polizei verschleppt und ohne Anklage in ein Geheimgefängnis geworfen wurde, war sie zwanzig Jahre alt. Ihr Verbrechen: Sie hatte an einer friedlichen Demonstration gegen die damals schon zwölf Jahre dauernde Besetzung ihres Landes durch Marokko teilgenommen und die Durchführung eines Referendums über die Unabhängigkeit gefordert.

Annektiertes Gebiet

Die Westsahara war bis 1975 spanische Kolonie. Nach dem Tod des Diktators Francisco Franco zog sich Madrid aus dem Streifen an der Westküste Nord­afrikas zurück. Marokko und Mauretanien besetzten das Gebiet, obwohl der Internationale Gerichtshof zuvor den Wunsch der Bevölkerung nach Unabhängigkeit festgestellt hatte. Und obwohl schon 1960 die Vereinten Nationen in ihrer Resolution 1514 auch mit Blick auf die Westsahara gefordert hatten, »alsbaldige Schritte (…) in den Treuhandgebieten und den Gebieten ohne Selbstregierung sowie in allen anderen Gebieten, welche noch nicht die Unabhängigkeit erlangt haben, zu unternehmen, um den Völkern dieser Gebiete alle Hoheitsbefugnisse zu übertragen«. Während sich Mauretanien 1979 aus der Westsahara zurückzog, annektierte Marokko ab 1976 das gesamte Gebiet, obwohl die Befreiungsfront Polisario im selben Jahr die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) ausgerufen hatte, die von mehr als 80 Staaten weltweit – vor allem in Afrika und Lateinamerika – anerkannt wurde und Mitglied der Afrikanischen Union ist.

1991 unterzeichneten Marokko und die Befreiungsfront einen Waffenstillstand, in dem auch die Durchführung einer Volksabstimmung im folgenden Jahr vorgesehen war. Im Zuge dieser scheinbaren Entspannung kamen auch Aminatou Haidar und Dutzende weitere Gefangene frei. Seither halten sich mehrere hundert Blauhelmsoldaten der UN-Mission MINURSO in dem von Marokko annektierten Gebiet auf, um die Waffenruhe und das Referendum zu überwachen. Doch dessen Durchführung ist seither von Marokko verhindert worden, ohne daß dies für Rabat nennenswerte Folgen gehabt hätte. Statt dessen ratifizierte der Europäische Rat der EU am vergangenen Mittwoch eine Neuauflage des »partnerschaftlichen Fischereiabkommens« mit Marokko. Die geschäftsführende deutsche Bundesregierung stimmte zu.

»Alle in dieser Region getätigten Investitionen gehen zu Lasten des sahrauischen Volkes«, beklagte Haidar am Donnerstag die gegen massiven Widerstand unter anderem aus dem EU-Parlament durchgesetzte Vereinbarung mit dem Königreich, die ihrer Ansicht nach eindeutig das Völkerrecht mißachten. »Dieses Abkommen ermutigt Marokko, weiter die Menschenrechte zu verletzen.« Zumal bis heute die Blauhelme der MINURSO nicht deren Einhaltung in den besetzten Gebieten kontrollieren dürfen. Ein Vorstoß der USA, das Mandat der aktuell gut 200 UN-Soldaten auszuweiten, wurde von Spanien und Frankreich blockiert. Speziell Paris wirft Haidar deshalb »blinden Gehorsam« gegenüber dem Königshaus in Rabat vor.

Komplizenschaft Europas

Aminatou Haidar weiß, wovon sie spricht. 2005 verlor sie ihren Arbeitsplatz und wurde sieben Monate unter einer falschen Anklage inhaftiert, weil sie zum ersten und bislang einzigen Mal in der Westsahara eine Feier zum Internationalen Frauentag organisiert hatte. 2009 verweigerte Marokko ihr die Einreise, als sie nach einem Aufenthalt in den USA nach Hause zurückkehren wollte, weil sie in ihren Papieren als Nationalität nicht »marokkanisch«, sonder »sahrauisch« angegeben hatte. Sie wurde auf die zu Spanien gehörende Insel Lanzarote abgeschoben, wo ihr die spanischen Behörde mit der Begründung die Reise in die Westsahara verweigerten, sie sei nicht im Besitz eines gültigen Passes. Erst durch einen mehrwöchigen Hungerstreik gegen die »spanische Komplizenschaft« konnte sie die Rückkehr in ihre Heimat durchsetzen.

Vor diesem Hintergrund beklagte Axel Goldau vom Verein »Freiheit für die Westsahara e.V.« in Berlin die »absurde Situation«, daß die EU und die Bundesregierung einerseits dem sahrauischen Volk in den Rücken fallen, während Aminatou Haidar zugleich am vergangenen Montag in Bremen mit dem vom Senat der Freien Hansestadt verliehenen und mit 10000 Euro dotierten Solidaritätspreis geehrt wurde. Mit ihr »zeichnen wir eine für die Einhaltung von Menschenrechten engagierte Frau aus«, sagte Bremens Bürgermeisterin Karoline Linnert (Grüne) in ihrer Laudatio. »Sie setzt sich mit friedlichen Mitteln und in stetigem Dialog mit internationalen Institutionen im Maghreb, aber auch in den Unterstützerländern – in den USA und in Europa – für die Unabhängigkeit der Westsahara, für die Rechte von Frauen und die Befreiung ihrer Heimat und ihrer Landsleute, besonders in den Flüchtlingslagern, ein«.

Aminatou Haidar ist sich indes der widersprüchlichen Haltung der deutschen Politik bewußt. Sie kritisierte in Berlin die »Doppelzüngigkeit« der Europäer.

* Aus: junge Welt, Montag, 4. November 2013


»Wir fühlen keinen Haß«

Die Jugend der Westsahara verliert die Geduld. Gespräch mit Aminatou Haidar **

Aminatou Haidar ist Menschenrechtsaktivistin. Sie setzt sich für die Selbstbestimmung der Westsahara ein.

Seit Jahrzehnten leisten die Sahrauis gewaltfreien Widerstand gegen die marokkanische Besatzung. Fortschritte gibt es aber praktisch nicht. Wie lange halten Sie diese Form des Widerstands durch?

Das ist eine große Sorge, die wir Aktivisten haben. Die Jugendlichen rufen immer mehr danach, wieder zu den Waffen und zur Gewalt zu greifen. Sie glauben, daß dies der einzige Weg ist, damit die internationale Gemeinschaft aufmerksam wird. Dabei sind wir ein friedliches Volk, und ich möchte nicht, daß das, was in Syrien und in anderen arabischen Ländern vor sich geht, auch auf uns übergreift. Aber die sahrauische Jugend glaubt nicht mehr an den friedlichen Weg, sie ist ohne Hoffnung und die ständige Unterdrückung leid. Zugleich versucht das marokkanische Regime durch den Einsatz seiner Milizen, einen Bürgerkrieg zwischen unseren beiden Völkern zu provozieren. Wir fühlen jedoch keinen Haß gegen das marokkanische Volk. Es ist nicht dafür verantwortlich, was wir erleiden müssen.

Könnte ein Boykott wie seinerzeit gegen südafrikanische Waren nun gegen marokkanische eine Unterstützung Ihres Kampfes sein?

Als Menschenrechtsaktivistin wünsche ich dem marokkanischen Volk nichts Schlechtes. Durch einen Boykott würden sich dessen Lebensumstände verschlechtern. Wir müssen endlich dazu kommen, daß die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Westsahara beendet wird. Die Rolle, die das deutsche Volk und andere in Europa spielen können, ist, Druck auf ihre jeweiligen Regierungen auszuüben, damit die illegale Ausbeutung ein Ende hat.

In der Vergangenheit wurde das sahrauische Volk vor allem von Algerien unterstützt.

Algerien unterstützt auch weiterhin den Freiheitskampf des sahrauischen Volkes. Es hat immer den unterdrückten Völkern geholfen.

Im Dezember finden in Ecuador die 18. Weltfestspiele der Jugend und Studenten statt. Auch eine Delegation des sahrauischen Jugendverbandes UJSARIO wird teilnehmen. Welche Bedeutung hat das Festival für Sie?

Aus der Westsahara werden Jugendliche zu diesem internationalen Forum reisen und ihre Botschaft überbringen. Dieses Festival wird der Stimme der sahrauischen Jugend ein weltweites Echo verleihen. Das ist sehr wichtig.

Bei der Vorbereitung der Weltfestspiele kam es auch diesmal zu Konflikten mit linken Organisationen aus Marokko, die eine Selbstbestimmung der Sahrauis ablehnen …

Leider haben die Parteien in Marokko keine Unabhängigkeit und keine Prinzipien. Unabhängig von ihrer Ideologie hören sie auf die Weisungen des Königshauses. Daran hat auch der sogenannte arabische Frühling nichts geändert, denn in Marokko wurde die demokratische Bewegung unterdrückt, verfolgt und fast ausgerottet. Die Mehrheit der Jugendlichen der Bewegung des 20. Februar sitzt im Gefängnis.

Interview: André Scheer

** Aus: junge Welt, Montag, 4. November 2013


Stichwort: Abkommen zwischen EU und Marokko

In der vergangenen Woche hat der Europäische Rat das jüngste Fischereiabkommen mit Marokko ratifiziert. Unterzeichnet worden ist es schon im vergangenen Juli von EU-Fischereikommissarin Maria Damanaki und dem marokkanischen Minister für Landwirtschaft und Seefischerei, Aziz Akhannouch. »Die Vereinbarung sichert dem marokkanischen Fischereisektor eine nachhaltige Zukunft und bietet ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis«, freute sich Damanaki damals und rechnete vor, daß der Vertrag die EU 30 Millionen Euro koste, von denen die vornehm als »Schiffseigner« umschriebenen Fischereikonzerne lediglich ein Drittel bezahlen müssen. Marokko erhält jährlich 16 Millionen Euro als Ausgleich für den Zugang zu von ihm beanspruchten Fischereiressourcen und 14 Millionen Euro zur Unterstützung der Branche.

Obwohl das Gremium in diesem Zusammenhang von »verantwortungsvoller Politik und Achtung des Völkerrechts« spricht, ist das Gegenteil der Fall. Denn das Abkommen erstreckt sich auch auf die Gewässer vor der 1100 Kilometer langen Küste der von Marokko annektierten Westsahara. Schon 2010 zitierte die Zeitschrift Mare aus einem Gutachten des Juristischen Dienstes des Europaparlaments, das die Verträge mit Marokko als rechtswidrig brandmarkt. Wer die natürlichen Ressourcen eines Autonomiegebiets ausbeuten wolle, dürfe das nur zum Wohl und mit Zustimmung der dortigen Bevölkerung tun. »Es zeigt sich aber nicht, daß die finanziellen Zuwendungen zum Wohl der Bevölkerung in Westsahara verwendet werden«, zitierte Mare aus der elfseitigen Studie.

Am heutigen Montag steht das Abkommen mit Marokko noch einmal auf der Tagesordnung des Fischereiausschusses des Europäischen Parlaments. Nachdem die Abgeordneten den Vertrag in der Vergangenheit mehrfach blockiert hatten, soll er nun offenbar durchgewunken werden. Das geht aus dem von Berichterstatterin Carmen Fraga Estévez vorgelegten Beschluß hervor, der dem Parlamentsplenum die Annahme empfiehlt. Normalerweise folgen die Abgeordneten solchen Empfehlungen. Doch die für die spanische Rechtspartei PP im Europaparlament sitzende Fraga Estévez ist nicht irgend jemand. Ihr Vater Manuel Fraga Iribarne war unter Franco Informationsminister. Die einstigen Kolonialherren entscheiden über die weitere Ausplünderung des Gebietes. (scha)




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