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Dien Bien Phu, nirgendwo sonst

Glorreicher Sieg und doch noch kein Frieden

Von Hellmut Kapfenberger *

Am 7. Mai 1954 endete eine zu Recht in die Annalen der Militärgeschichte eingegangene Schlacht mit dem weltweit Aufsehen erregenden Sieg der vietnamesischen Volksarmee. Die Erstürmung der gewaltigen Festung auf dem Hochgebirgsplateau von Dien Bien Phu brach Frankreichs Militärmaschinerie auf der Halbinsel das Genick. Der teuer bezahlte vietnamesische Sieg markierte zugleich das schmähliche Ende jahrelangen Mühens, ein altes Kolonialregime zu neuem Leben zu erwecken.

Vietnams Augustrevolution 1945 hatte der französischen Kolonialmacht und dem seit 1940 währenden japanischen Besatzungsregime den Todesstoß versetzt. Mit britischer logistischer Unterstützung und US-amerikanischem materiellen Segen begann aber 1946 ein großangelegter Rückeroberungsfeldzug. Paris unterlag dem tragischen Irrglauben, mit einem 70 000 Mann starken Expeditionskorps die junge Demokratische Republik Vietnam (DRV) binnen kurzem in die Knie zwingen zu können. Doch die stetig erstarkenden, von der Bevölkerung landesweit nach Kräften unterstützten Befreiungstruppen und Partisanenverbände leisteten unter der Führung der kommunistischen Partei um Ho Chi Minh den Aggressoren heftigen Widerstand. Auch die permanente Verstärkung seiner Truppen bewahrte das französische Oberkommando in Hanoi nicht vor verlustreichen Niederlagen.

Ende 1953 zählte das Corps Éxpeditionnaire Francais en Éxtrême-Orient (CEFEO) inzwischen 250 000 Mann, Franzosen, Nordafrikaner und zu einem großen Teil deutsche Fremdenlegionäre. Hinzu kam eine rund 300 000 Mann zählende Armee der in Hue installierten Marionettenverwaltung unter Ex-Kaiser Bao Dai. Frankreichs Militärausgaben für den Feldzug überforderten längst seinen Haushalt. 1951 trugen die amerikanischen Steuerzahler zwölf Prozent der Kriegskosten, 1953 waren es schon 60, 1954 gar 80. Per Schiff sowie über Luftbrücken aus Europa, auch der Bundesrepublik, gelangten aus amerikanischen Depots 340 Kampfflugzeuge, 1400 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, eine große Anzahl Lastwagen, Hunderte Flussschiffe und Landungsboote, die Ausrüstung mehrerer Artillerieregimenter, 150 000 Tonnen Infanteriewaffen sowie gewaltige Mengen Munition einschließlich Napalmbomben nach Vietnam.

Um die Jahreswende 1953/54 suchten beide Seiten die Entscheidung. Frankreichs Oberkommando beschloss, Vietnams Volksarmee im Raum Dien Bien Phu in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Laos die alles entscheidende Schlacht aufzuzwingen. Man begann mit dem demons-trativ ungetarnten Bau eines riesigen Stützpunktes auf dem Gebirgsplateau. Über eine Luftbrücke, wie sie Indochina noch nicht erlebt hatte, wurden riesige Mengen Baumaterial und -gerät, schwere Waffen und Tausende Soldaten herangeschafft. Auf der von dschungelbedeckten Bergkämmen gesäumten Fläche von 18 Kilometer Länge und einer Breite bis zu acht Kilometer entstand eine waffenstarrende Festung mit zwei Feldflugplätzen, nach außen hin gesichert durch tiefgestaffelte Sperranlagen und Stellungen auf umliegenden Höhen – der größte und am stärksten befestigte Stützpunktkomplex in Indochina.

Bei einer Blitzvisite in Dien Bien Phu zeigte sich der Oberkommandierende der US-Landstreitkräfte im pazifischen Raum, General John O'Daniel, hinsichtlich der Perspektiven der geplanten Schlacht »enthusiastisch«. Auch Vizepräsident Richard Nixon und Außenminister John Foster Dulles kreuzten in Nordvietnam auf. Im Golf von Bac Bo (Golf von Tonkin) gingen auf der Höhe der Hafenstadt Haiphong zwei Flugzeugträger der 7. USA-Flotte vor Anker. Expeditionskorpschef General Henri Navarre tönte angesichts zu erwartender gewaltiger logistischer Probleme des Gegners: »Nur in Dien Bien Phu und nirgendwo sonst werden wir den Sieg erringen.«

Französischer Plan war, Vietnams Armeeführung zur hastigen Verlegung der Hauptkräfte der Volksarmee in diesen Raum zu provozieren, um sie in einem Gebirgsterrain, das kaum Manövriermöglichkeiten bot, mit Luftschlägen und konzentriertem Artilleriefeuer zermalmen zu können. Was das französische Oberkommando in Hanoi nicht wusste: Die vietnamesische Armee rüstete zeitgleich zum entscheidenden Kampf. Im Dezember hatte das Politbüro des ZK der Partei der Werktätigen Vietnams (PWV) unter Ho Chi Minhs Vorsitz beschlossen, eine »Schlacht von strategischer Bedeutung« im Raum Dien Bien Phu vorzubereiten. Mit der Leitung der Operation wurde der Oberkommandierende der Volksarmee, Politbüromitglied General Vo Nguyen Giap, betraut.

Von den Franzosen unbemerkt, wurden noch im Dezember unter meisterhafter Tarnung und gedeckt von dichtem Gebirgswald die ersten vietnamesischen Einheiten herangeführt. Den Eindringlingen blieb ebenso verborgen, dass an den überwucherten Hängen umliegender Berge Haubitzenstellungen angelegt wurden. Meist in wochenlangen Fußmärschen zu Bereitstellungsräumen und Ausgangsstellungen legten vietnamesische Einheiten Hunderte Kilometer durch Gebirge und Urwald zurück. Schier endlose Trägerkolonnen, zumeist junge Freiwillige aus den Reihen der im Gebirge siedelnden ethnischen Minderheiten, brachten vor und dann auch während der Schlacht, oft aus der Luft attackiert, Tausende Tonnen Munition, Proviant, Verbandsmaterial und andere Güter in das Umfeld des Stützpunkts. Transportmittel waren mehr als 10 000 Lastenfahrräder, Boote und Flöße, Pferderücken und die Schultern der Träger.

Anfang März waren in den mit Bunkern gespickten, von Grabensystemen durchzogenen, mit Minenfeldern und kilometerlangem Stacheldraht gesicherten drei inneren Sektoren der Festung und in den Bergforts 17 Infanterie- und drei Artilleriebataillone, Pioniertruppen, Panzereinheiten, Kampf-, Transport- und Aufklärungsflugzeuge konzentriert. Das Expeditionskorps hatte rund 20 000 Mann seiner schlagkräftigsten Einheiten zusammengezogen. Ihnen standen, so westliche Quellen, etwa 50 000 Mann der Volksarmee gegenüber.

Mit einem völlig überraschenden Artillerieschlag auf eines der Bergforts und die beiden Flugplätze leitete die Volksarmee am 13. März die Offensivhandlungen ein. Der erste Außenposten, Fort Beatrice, fiel nach wenigen Stunden; binnen vier Tagen wurden drei der großen peripheren Befestigungen gestürmt. Damit war eine Bresche in den vordersten Verteidigungsring geschlagen. Mitte April waren die Angreifer trotz verbissener Gegenwehr und teils in blutigen Nahkämpfen bis zum zentralen Flugplatz vorgestoßen, über den der Stützpunkt versorgt wurde. Dulles machte, wie erst später bekannt wurde, am 23. April Frankreichs Außenminister Georges Bidault die ungeheuerliche Offerte, zwei Atombomben einzusetzen. Paris schreckte zurück. In der zweiten Aprilhälfte zog die Volksarmee den Ring immer enger. Am 1. Mai begann ihr finaler Sturm; der Führungsbunker des Stützpunktkommandanten Oberst de Castries fiel am 7. Mai.

Frankreichs Truppen hatten für den Wahnsinn einen hohen Preis gezahlt. 8200 Mann wurden als tot oder vermisst gemeldet, 10 300 mussten den Weg in weit entfernte Gefangenenlager antreten, etwa 1600 Mann – vorwiegend Nordafrikaner – waren übergelaufen. Sechs Bataillone der Fremdenlegion, zu 80 Prozent aus Deutschen bestehend, waren aufgerieben. Vietnams Armee machte enorme Kriegsbeute. Über ihre Verluste gibt es keine offiziellen Angaben; westliche Quellen beziffern sie auf etwa 20 000 Mann.

Nachdem der eskalierende Krieg Anfang 1954 auf sowjetische Initiative zum Thema internationaler Beratungen geworden war, begann am 8. Mai in Genf eine Indochina-Konferenz auf Außenministerebene. Teilnehmer waren die UdSSR, Großbritannien und die USA, die sich im Verlauf zum »Beobachter« der Konferenz degradierten, sowie Frankreich, die VR China, die DRV, die Bao-Dai-Verwaltung und die Königreiche Laos und Kambodscha. Die langwierigen, äußerst kontroversen Verhandlungen endeten am 21. Juli mit Abkommen über die Einstellung der Kampfhandlungen in Indochina und weiteren Dokumenten. Am selben Tag ließ US-Präsident Dwight D. Eisenhower wissen, die USA hätten »nicht teil an den von der Konferenz gefassten Beschlüssen und sind nicht an sie gebunden«. Die Dokumente sahen vor, die Beendigung der Kampfhandlungen »unter internationale Kontrolle und Überwachung« zu stellen. Die französische Seite sicherte zu, ihre Truppen innerhalb bilateral vereinbarter Fristen abzuziehen. Verboten wurde, künftig ausländische Truppen und anderes Militärpersonal, Waffen und Munition nach Indochina zu entsenden. Im Abkommen für Vietnam war vereinbart, die Streitkräfte der beiden kriegführenden Seiten zu separieren und dafür zwei »Umgruppierungszonen« zu fixieren. Festgelegt wurde eine »zeitweilige Demarkationslinie«, die »etwas südlich vom 17. Breitengrad« verlaufen sollte. Die Einheiten der Volksarmee waren nördlich und jene Frankreichs und der Bao-Dai-Verwaltung südlich dieser Linie zu konzentrieren.

In Vietnam sollten »im Laufe des Juli 1956 allgemeine Wahlen unter Kontrolle einer internationalen Kommission durchgeführt werden«. Den »zuständigen repräsentativen Behörden der beiden Zonen« wurde aufgetragen, ab 20. Juli 1955 darüber zu beraten. Die Genfer Beschlüsse stellten mit keiner Silbe die Einheit Vietnams in Frage. Festgeschrieben wurde nicht die Spaltung des Landes. Die Einrichtung der Umgruppierungszonen war ein rein organisatorischer Akt und hieß nicht, die am 2. September 1945 für das ganze Land proklamierte DRV auf den Landesnorden zu reduzieren und dem Süden eine separate staatliche Geburt zu verordnen. Westliche Lesart, dass Genf Vietnam geteilt und zwei Staaten mit unterschiedlichen Regierungssystemen gebärt habe, entbehrt jeder Grundlage.

Washington zögerte nicht, die Genfer Vereinbarungen zu hintertreiben. Mit seinem Segen durfte der katholische Intellektuelle Ngo Dinh Diem im Oktober 1955 in dem als Hauptstadt eines südlichen Separatstaats auserkorenen Saigon eine »Republik Vietnam« ausrufen. Diem lehnte wahlvorbereitende Gespräche mit dem Norden und die für Juli 1956 vereinbarten allgemeinen Wahlen ab. Massive finanzielle und materielle Hilfe der USA für das illegitime Regime und dessen Aufrüstung ließen nicht auf sich warten. Damit hatte Washington mit seinen Vasallen zu verstehen gegeben, dass an Frieden in Vietnam noch nicht zu denken war. Es sollten noch zwei Jahrzehnte Krieg, ab Frühjahr 1965 in Form direkter US- Aggression, vergehen. Am 30. April 1975 war dann auch Washingtons »Republik Vietnam« Geschichte.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 10. Mai 2014


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