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Valmy in Vietnam

Vor 60 Jahren: Dien Bien Phu fällt, die französische Kolonialherrschaft endet

Von Gerhard Feldbauer *

Der Fall der Festung Dien Bien Phu am 7. Mai 1954 besiegelte die Niederlage in einem achtjährigen Kolonialkrieg, den Frankreich im Herbst 1946 begonnen hatte, um die mit dem Sieg der Augustrevolution proklamierte Demokratische Republik Vietnam (DRV) zu beseitigen und sein 1884 errichtetes Kolonialregime wiederherzustellen. Die Unabhängigkeitserklärung, die Ho Chi Minh am 2. September 1945 in Hanoi vor dem ehemaligen Gouverneurspalast vor einer halben Million Einwohnern verlas, endete mit den Worten: »Das vietnamesische Volk ist entschlossen, all seine geistigen und materiellen Kräfte aufzubieten, Leben und Besitz zu opfern, um sein Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit zu behaupten.« Diese Worte motivierten in den folgenden Jahren tatsächlich die große Mehrheit der Vietnamesen, ihre nationale Autonomie gegen den erneuten Einfall der Kolonialherren zu verteidigen.

Nach Überfällen in Südvietnam provozierte Paris am 23. November 1946 in Haiphong bewaffnete Zusammenstöße und forderte den Abzug der Volksarmee aus der Hafenstadt. Als die DRV das Ansinnen ablehnte, beschoß französische Artillerie Haiphong. Etwa 6000 Zivilisten wurden dabei getötet. Danach rückten französische Truppen in die Stadt ein, stießen auf Hanoi vor und griffen es am 19. Dezember an. Ho Chi Minh rief zum bewaffneten Widerstand auf: »Laßt uns mutig sein, liebe Landsleute. Wer Ihr auch seid, ob Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge, welcher Religion und welcher Nationalität Ihr auch angehört; wenn Ihr Vietnamesen seid, erhebt Euch zum Kampf gegen die französischen Kolonialisten und zur Rettung des Vaterlandes.« Die Hauptstadt verteidigte sich bis zum 17. Februar 1947 gegen eine erdrückende Übermacht, die mit schweren Waffen, Panzern und Artillerie angriff. Während der Kämpfe wurden Betriebe und die zentralen Regierungsstellen in die nordwestlichen Bergregionen des Viet Bac evakuiert.

Im Oktober schlug die Volksarmee 100 Kilometer nordwestlich von Hanoi die Offensive der französischen Truppen zurück. Die Illusion von einem Blitzsieg scheiterte. Zur Verhüllung seiner kolonialen Eroberung setzte Paris am 8. März 1949 den gestürzten Kaiser Bao Dai an der Spitze eines Marionettenregimes wieder auf den Thron.

Siegespfeiler Bodenreform

Im Herbst 1950 befreite die Volksarmee die Grenzgebiete zu der am 1. Oktober 1949 entstandenen Volksrepublik China. Die DRV erhielt jetzt militärische Unterstützung durch die Volksregierung in Peking und über deren Gebiet auch sowjetische Hilfe umfangreicher als bisher.

Im November 1953 führte die DRV die allgemeine Wehrpflicht ein. Die Volksarmee zählte sechs Infanteriedivisionen, eine sogenannte schwere Division sowie mehrere selbständige Regimenter. 350000 Soldaten standen unter Waffen. Im Monat darauf beschloß die Nationalversammlung das Dekret über eine Bodenreform. Das Land der französischen Kolonialisten und derjenigen vietnamesischen Großgrundbesitzer, die sich als Feinde der DRV erwiesen hatten, wurde entschädigungslos enteignet und an fünf Millionen arme Bauern verteilt. Großgrundbesitzer, die sich im Befreiungskampf auf die Seite der Volksmacht gestellt oder sich auch nur loyal verhalten hatten, wurden für Grund und Boden, Vieh und Technik entschädigt und durften ihr übriges Eigentum behalten. Die Bodenreform festigte die Volksmacht nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch militärisch. Sie stellte das Bündnis der Arbeiter mit den Bauern, welche die Hauptlast des Kampfes trugen, auf feste politische und wirtschaftliche Grundlagen.

So gerüstet begann die Volksarmee am 10. Dezember 1953 ihre Offensive gegen die waffenstarrende französische Dschungelfestung Dien Bien Phu in den Bergen des Nordwestens. Um eine Kommandozentrale gruppierten sich dort auf einem Hügel sechs selbständige Stützpunkte und ein Flugplatz mit 170 Kampfflugzeugen. Kommandant der Festung war der Oberst der Panzertruppen Ferdinand de la Croix de Castries. Er verfügte über 16000 Mann zählende kriegserfahrene Kolonialbataillone, darunter die Hälfte Fallschirmjäger und viele Fremdenlegionäre, von denen nicht wenige während des Zweiten Weltkrieges der deutschen Waffen-SS-Division »Charlemagne« oder der Freiwilligeneinheit »Légion des volontaires français contre le bolchevisme« angehört hatten.

Verlustreicher Krieg

De Castries wollte die Volksarmee zu verlustreichen, kräftezehrenden Angriffen auf seine Festung provozieren, um sie dann vor deren Toren in einer Feldschlacht zu vernichten. Der Plan ignorierte völlig die gewachsenen militärischen Möglichkeiten der DRV. Verteidigungsminister General Vo Nguyen Giap, der die Schlacht leitete, verfügte inzwischen in ausreichender Zahl über schwere Artillerie, Feldhaubitzen und Kanonen, der Zeit entsprechende Flak und rückstoßfreie Geschütze. Die Vietnamesen transportierten die schweren Geschütze – jedes wog über zwei Tonnen – in Einzelteile zerlegt ohne Zugmittel über die zerklüfteten Berge und brachten sie gegenüber der Festung in Höhlen in Stellung. In der Endphase der Schlacht konnte die eingeschlossene Festung von Hanoi aus nicht einmal mehr minimal mit Nachschub versorgt werden. Die vietnamesische Flak schoß die meisten Transportmaschinen ab. Und das, obwohl viele der eingesetzten US-amerikanischen B-26 von Air-Force-Piloten mit Koreaerfahrung geflogen wurden. Die Volksarmee eroberte die einzelnen Stützpunkte nacheinander. Das erste, Béatrice genannte Fort, wurde nach schwerem Artilleriebeschuß innerhalb nur eines Tages und einer Nacht gestürmt.

Am 1. Mai nahm die Volksarmee die letzten beiden Stützpunkte »Claudin« und »Junon« ein. Um den Mythos von der heldenhaft kämpfenden Besatzung in Dien Bien Phu hochzuhalten, wurde Oberst de Castries zum Brigadegeneral befördert. Er selbst und seine Besatzung wurden in einem Tagesbefehl »leuchtende Beispiele« bei der Verteidigung der »Ehre Frankreichs« genannt. Gleichzeitig gingen über den letzten Stellungen der Festung weiße Fahnen hoch. Dann stürmten die Vietnamesen, ohne noch auf Widerstand zu stoßen, zum Bunker de Castries’ vor, auf dem ebenfalls ein großes schneeweißes Bettlaken lag. Ein vietnamesischer Zugführer nahm ihn und seine Offiziere gefangen. Auf dem Bunker wurde die rote Fahne mit dem gelben Stern aufgezogen.

Während des Kolonialkrieges fielen etwa 92000 französische Soldaten. Zusammen mit Verwundeten und Gefangenen waren es, die Verluste der Marionettenarmee mitgerechnet, 466172 Mann. Auf Seiten der DRV kamen über 800000 Menschen ums Leben, ein großer Teil davon Zivilisten, die Vergeltungsaktionen und Bombardements zum Opfer fielen. Nach den Ursachen des Sieges befragt, erklärte Giap gegenüber Le Monde: »Rufen Sie sich die Französische Revolution in das Gedächtnis zurück, erinnern Sie sich an Valmy und Ihre schlecht bewaffneten Soldaten gegenüber der preußischen Berufsarmee. Trotzdem siegten Ihre Soldaten. Um uns zu verstehen, denken Sie an diese historischen Stunden Ihres Volkes. Suchen Sie die Realität. Ein Volk, das für seine Unabhängigkeit kämpft, vollbringt legendäre Heldentaten.«

Der »große Knüppel«

Am 8. März 1950 schloß Washington mit Paris ein Abkommen über Militärhilfe in Vietnam. Seitdem unterstützten die USA den Kolonialkrieg Frankreichs mit umfangreichen Waffenlieferungen. Mitte März ersuchte der französische Generalstabschef, Paul Ely, in Washington den Chef der Vereinigten Stabschefs, Admiral Arthur W. Radford, um eine »entscheidende Aufstockung« der US-Hilfe. Selbst den »Abwurf der Atombombe auf Ho Chi Minhs rückwärtige Gebiete« brachte Ely vor. Auch Radford war dafür, den »großen Knüppel« (die Atombombe) einzusetzen. Er hatte schon nach dem Eingreifen der Volksrepublik China in Korea über der Mandschurei ein paar Atombomben ausklinken wollen. Präsident Eisenhower wollte auch diesmal ein derartiges Risiko, das Moskau hätte auf den Plan rufen können, nicht eingehen, sagte aber den Abwurf von Napalm durch C-119 zu, außerdem die Verstärkung bereits eingesetzter B-26 mit US-Piloten, sowie Hilfslieferungen an Waffen und Nachschub. Eisenhower wartete in Wirklichkeit auf die Niederlage der Franzosen, damit die USA ihre Stelle einnehmen konnten.

* Der Autor ist Verfasser des Buches »Vietnamkrieg«, in der Reihe »Basiswissen« im Papyrossa Verlag, Köln 2013 – auch im jW-Shop erhältlich

Aus: junge Welt, Samstag 3. Mai 2014



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