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Riskantes Wachstum in Vietnam

Streikwelle, Inflation und Überhitzung machen der KP zu schaffen

Von Rosso Vincenzo *

Einer Studie der Unternehmensberatung Pricewaterhouse Coopers zufolge gilt Vietnam gegenwärtig als attraktivstes Investitionsziel unter 20 ausgewählten Schwellenländern, deren Spektrum von China bis Polen reicht.

Vietnams stellvertretender Ministerpräsident Nguyen Sinh Hung rechnet bis 2020 mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von acht bis zehn Prozent. In den ersten neun Monaten 2007 wuchsen die Exporte im Jahresvergleich um 19,4 Prozent. Damit hat Vietnam nach China die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft in der Region. Allein in diesem Jahr rechnet die Regierung mit ausländischen Investitionen in Höhe von 15 Milliarden Dollar. Das wäre die Größenordnung, die auch Indien erreicht, nur hat Vietnam 84 Millionen Einwohner, Indien etwa 12 Mal so viele. Neben Textil-, Bekleidungs- und Schuhproduzenten planen inzwischen auch Unternehmen aus der Computerbranche Großinvestitionen: Chiphersteller Intel will eine Milliarde Dollar investieren, der taiwanische Elektronikkonzern Hon Hai Precision 5 Milliarden und Taiwans Laptop-Produzent Compal 500 Millionen.

Doch »Asiens jüngster Wachstumsstar« hat sich mit seiner »Doi Moi« (Erneuerung) genannten Hinwendung zur »sozialistisch orientierten Marktwirtschaft« im Jahr 1986 auch erhebliche Probleme eingehandelt. Die Auswirkungen der Inflation, die im Dezember auf zwÖlf Prozent schnellte, versuchte die Regierung zum Jahreswechsel mit einer Anhebung des Mindestlohns auf 540 000 Dong (23,50 Euro) in vietnamesischen Unternehmen und 800 000 Dong (35 Euro) in ausländischen Firmen zu dämpfen. Dennoch war eine Welle von Streiks für höhere Löhne und Fahrkostenzuschüsse die Folge: Anfang Dezember streikten 14 000 Beschäftigte der Schuhfabrik in Dong Nai, eines südkoreanischen Großbetriebs, der Sportschuhe für Nike produziert. Anfang Januar traten 2000 Arbeiter der taiwanischen CCH Top Company in Ausstand. Zeitgleich legten 1500 Textilarbeiter in der südkoreanischen SH Vina Company in Long An, 1200 Beschäftigte im taiwanisch-vietnamesischen Gemeinschaftsunternehmen Duc Tanh und Beschäftigte anderer ausländischer Firmen die Arbeit nieder. Sie setzten Lohnerhöhungen oder Fahrkostenzuschüsse von umgerechnet 3 bis 6,50 Euro monatlich durch.

Der Gewerkschaftsverband VNGCL ist an diesen Konflikten in der Regel nicht beteiligt. Er schwankt zwischen schüchternen Versuchen einer Anpassung an die Realitäten und Rückfällen in die Rolle des Transmissionsriemens. So rief der stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende Nguyen Hoa Binh die Beschäftigten bei Post, Telekommunikation, Banken und Handel Anfang Dezember dazu auf, Produktqualität und Konkurrenzfähigkeit zu verbessern, um »den internationalen Integrationsprozess« nicht zu gefährden.

Seit Beginn der Doi-Moi-Politik hat die Sozialistische Republik Vietnam eine tief greifende soziale Veränderung durchgemacht. Die Staatsunternehmen tragen inzwischen nur noch 39 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt, 37 Prozent zur Industrieproduktion und 35 Prozent zu den Exporten (außer Rohöl) bei. Jonathan Pincus vom UN-Entwicklungsprogramm stellt kopfschüttelnd fest: »Derzeit werden Unternehmen sogar dazu ermutigt, mit Immobilien und Aktien zu spekulieren, mit denen sie schnelle Gewinne realisieren können. Das hilft der vietnamesischen Volkswirtschaft wenig.« Es ruft vielmehr eine gefährliche Spekulationsblase hervor.

Zudem ist die Reform der verbliebenen 3200 Staatsunternehmen das oberste Ziel der Regierung. Wichtigste Hindernisse auf diesem Weg sind die Furcht vor sozialen Unruhen und der Widerstand »orthodoxer« Kreise in der 2,8 Millionen Mitglieder zählenden KP Vietnams. Der Leiter der Auslandsabteilung des ZK der KPV, Tran Van Hang, gestand unlängst in einem Interview für die australische Wochenzeitung »Left Green Weekly«, dass kapitalistische Entwicklung in Vietnam gegenwärtig die Realität sei. Und er ergänzte: »Theoretisch verstehen wir sehr genau, warum wir diese Phase kapitalistischer Entwicklung durchmachen müssen, wir arbeiten allerdings noch an unserem theoretischen Verständnis des Weges, der uns von hier aus zum Sozialismus führt. Wir müssen konkreter werden, was den sozialistischen Weg anbelangt. Solange wir in diesem Punkt nicht konkreter werden, werden andere Parteien denken, dass alles, was wir jetzt vorzuweisen haben, ein Weg zum Kapitalismus ist. (…) Wir müssen den Staat weiter reformieren und ihn rechtsstaatlicher machen. Verwaltungsreform und Korruptionsbekämpfung sind allerdings die wichtigsten Herausforderungen.«

Das entspricht sogar weitgehend den Vorstellungen der Deutschen Bank. Sie fordert, »das Rechtssystem Vietnams und das gesamte Rahmenwerk politischer Entscheidungen zu verbessern«. Vorsicht sei allerdings geboten, denn es bestehe »das Risiko sozialer Unruhen aufgrund der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich«.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Januar 2008


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