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Wirtschaftswunder in Vietnam

Auch ohne WTO-Mitgliedschaft betrug das Wachstum acht Prozent

Von Marina Mai*

Seit Jahren verzeichnet Vietnam hohe Wachstumsrtaten. Ein Ende des Wirtschaftsbooms ist nicht abzusehen.

Die Verhandlungen über den Beitritt Vietnams zur Welthandelsorganisation (WTO) sind gescheitert. Das räumten Regierungsmitglieder in Hanoi gegenüber vietnamesischen Medien ein. Grund sei ein negatives Votum der USA gewesen. Der einstige Kriegsgegner, der das südostasiatische Land bis 1994 mit einem Handelsembargo belegt hatte, verhandelt bilateral erfolglos mit Vietnam über eine weitere Öffnung des boomenden Landes für amerikanische Produkte. Insbesondere Energie und Telekomprodukte können US-Firmen nicht wie gewünscht auf dem vietnamesischen Markt absetzen. Ein anderes Hindernis für den WTO-Beitritt des Landes zwischen Rotem Fluss und Mekong war im Jahr 2005 zumindest formal beseitigt worden: Vietnam, angeblich Weltmeister in der Produktpiraterie, erkannte erstmals das Urheberrecht an und ist dabei, Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums zu erlassen. Experten schätzen, dass 92 Prozent der in Vietnam genutzten Software illegal kopiert wurde. Auch bei Musik, Druckerzeugnissen und Markentextilien dominieren die Raubkopien. Bis die Urhebergesetze greifen, wird es aber dauern, denn auch die Mentalität, zur kostenlosen Kopie von Software, Zeitungstexten, internationaler Literatur, Filmen usw. zu greifen, muss sich ändern.

Aber auch ohne WTO-Mitgliedschaft setzte Vietnams Wirtschaft 2005 ihre jahrelange Erfolgsgeschichte fort. Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes betrug 8,1 Prozent. Seit 1993 betrug der Anstieg im Jahresdurchschnitt rund 7 Prozent. Und auch für die kommenden Jahre sehen die Prognosen gut aus. Die Weltbank hält Wachstumsraten von acht Prozent für wahrscheinlich und schließt sogar zweistellige Raten nicht aus.

Hauptexportgüter sind Textilien, Schuhe und Lederwaren sowie Reis, Kaffee, Meeresfrüchte, Pfeffer und Rohöl. Neuerdings exportiert Vietnam auch Computer und Möbel. Ausländische Industriefirmen weisen mit 19,6 Prozent deutlich höhere Wachstumsraten aus als inländische, während Zahl und Produktion der Staatsunternehmen sinken. Inzwischen wird in den 4000 verbliebenen Staatsbetrieben weniger als die Hälfte des Bruttoinlandproduktes erwirtschaftet. Sie dominieren die Bereiche, in denen die Hanoier Regierung auf eine politische Kontrolle nicht verzichten möchte – vor allem die Medien- und Internetbranche.

Als Erfolgsrezept des vietnamesischen Wirtschaftswunders gilt die junge, motivierte und gut ausgebildete Arbeiterschaft. Rund die Hälfte der 84 Millionen Einwohner sind jünger als 27 Jahre. Weil es den Menschen spürbar besser geht als vor einigen Jahren, sind immer mehr Vietnamesen bereit, für eine gute Ausbildung Zeit und Geld zu investieren. Schon jetzt ist die Analphabetenrate mit sieben Prozent ungewöhnlich niedrig. Bildung ist allerdings nicht kostenlos. Ab der 6. Klasse wird Schulgeld verlangt, und auch zuvor müssen Eltern die Investitionskosten für Schulbauten und Lernmittel tragen. Teure Privatstunden sind quasi Pflicht. Auch ein Studium kann man ohne Gebühren nicht aufnehmen.

Die Bevölkerung des Landes ist zudem sehr arbeitswillig. Urlaubsreisen – das ist für die meisten Vietnamesen ein Fremdwort. Wenn junge Hauptstädter neuerdings die Strände der Ha-Long-Bucht bevölkern, dann beginnen sie sich nach wenigen Tagen zu langweilen. Zudem hat ein Arbeitnehmer nur fünf bis sieben Tage pro Jahr frei, um Familienfeste zu feiern, und noch einmal so viele Tage für Behördengänge.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Januar 2006


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