Am Rand der Eukalyptuswälder
Von Wolfgang Sréter *
Agent Orange Der Vietnamkrieg ist seit mehr als drei Jahrzehnten
vorbei. Nur nicht für die Ta Oi, die bis heute gegen die
Folgen des Giftgases kämpfen. Unser Autor hat das Volk besucht
Manche Bilder begleiten
einen mehr als ein halbes
Leben lang. Bei mir
ist es eine Schwarz-Weiß-
Fotografie, die zwei Vietnamesen
zeigt. Den einen sieht man im
Profil. Er hat die Ärmel aufgekrempelt wie
ein Handwerker bei der Arbeit. Mit ausgestrecktem
Arm hält er in der rechten Hand
einen Revolver. Der andere ist dem Betrachter
zugewandt und trägt ein kariertes
Hemd, an dem einige Knöpfe ausgerissen
sind. Er sieht aus, als würde er einen Schrei
unterdrücken. Er wird gerade auf offener
Straße in Saigon vom örtlichen Polizeichef
mit einem Kopfschuss exekutiert. Die damalige
südvietnamesische Regierung behauptete,
bei dem Getöteten handele es
sich um einen Vietcong, und suggerierte,
Soldaten der vietnamesischen Befreiungsfront
dürfe man ohne Prozess und Verteidigung
erschießen. Der Fotograf Eddie
Adams, der für die Agentur Associated
Press den Vietnamkrieg (1965 – 1975) dokumentierte,
bekam für sein Foto den Pulitzer
Preis. Er sagte bei der Verleihung: „Der
General tötete einen Vietcong. Ich tötete
den General mit meiner Kamera.“
Dieses Foto sollte 1968 in den USA die
Sicht auf den Vietnamkrieg verändern. Es
erschien auf den Titelseiten von Zeitungen
und Magazinen, doch der Polizeigeneral –
er hieß Nguyen Ngoc Loan – wurde durch
die Kamera des Reporters weder verletzt
noch getötet noch in seinem Ruf beschädigt.
Nach Ende des Krieges konnte er dank
seiner guten Beziehungen zu den US-Streitkräften
als Emigrant eine Pizzeria im Bundesstaat
Virginia eröffnen. Der Mörder
überlebte sein Opfer um 30 Jahre.
Im Frühsommer 2012, auf dem Weg in
die alte Kaiserstadt Hue, sehe ich das Foto
wieder. Es hängt im Kriegsmuseum von
Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon.
Den Angaben daneben ist zu entnehmen,
es wurde am 1. Februar 1968 aufgenommen,
zwei Tage nach Beginn der Tet-Offensive.
Tet Nguyen Dan, das vietnamesische
Neujahrsfest, wurde 1968 am 31. Januar gefeiert.
Im Schutz des Feuerwerks, das die
bösen Geister verjagen sollte, begann die
Befreiungsfront mit Angriffen überall in
Südvietnam. Auch auf Hue, das bis dahin
von Gefechten verschont blieb. Dort stationierte
US-Marines waren im Häuserkampf
unerfahren. Auf die Frage eines amerikanischen
Fernsehreporters nach der Frontlinie,
antwortete ein Soldat, während er damit
beschäftigt war, sein Gewehr nachzuladen:
„Wir wissen nicht, wo sie sind. Sie
laufen über Dächer und springen aus Gräben.
Ich will nur am Leben bleiben und
wieder zur Schule gehen. Das hier stinkt
mir alles!“ Einen Monat später waren in
Hue die Brücken über den Parfümfluss und
der alte kaiserliche Palast zerstört. Vom
prächtigen Eingangsportal ragte nur noch
ein Skelett in den regenschweren Himmel.
Mehr als vier Jahrzehnte später sind die
Schäden von einst längst behoben und diese
Kriegsspuren verschwunden.
Ganze Landschaften zerstört
Gegen Ende des Hue-Festivals für Musik,
Tanz und Theater, dessen Gast ich bin, bietet
sich die Möglichkeit, in das Gebiet an der
laotischen
Grenze zu fahren. Um sechs Uhr
morgens holt mich Ho Dang Thanh Ngoc,
Vizepräsident des vietnamesischen Künstler-
und Schriftstellerverbandes, am Hotel
ab. Wir verlassen Hue in Richtung Südwesten
und kommen nach drei Stunden Fahrt
in den Ort A Luoi. Unterwegs hat der Fahrer
mehrfach versucht, Lastkraftwagen mit Eukalyptussetzlingen
zu überholen. Seit Ende
der siebziger Jahre wird diese Art der Aufforstung
in Regionen Südvietnams betrieben,
in denen der Regenwald von der USArmee
mit dem dioxinhaltigen Pflanzengift
Agent Orange besprüht wurde. Eukalyptusbäume
wachsen schnell.
An der Kahlheit der Hänge, die wir passieren,
lässt sich erkennen, dass die Schäden,
die das Entlaubungsmittel verursacht hat,
bis heute vorhanden und offenbar irreparabel
sind. Aber nicht nur ganze Biotope hat
das Gift zerstört. Nach Ende des Krieges
nahmen Fehlgeburten und Fehlbildungen
von Neugeborenen in der Region um A Luoi
unter der dort lebenden Minorität der Ta Oi
ungeheuer zu, wie es mein Begleiter Thanh
Ngoc in seinem Buch Ma beschrieben hat.
In A Luoi besuchen wir Frau Ho, deren
Sohn vor 23 Jahren mit schweren Missbildungen
zur Welt kam. Als wir ihn in einer
kleinen Hütte sehen, liegt er auf dem Rücken
und starrt in die Luft. Seine Beine sind
an den Hüften fast um neunzig Grad gespreizt,
seine Hände verkrümmt, er kann
sich nicht allein bewegen. Normalerweise,
sagt Thanh Ngoc, würden derart gezeichnete
Kinder nicht älter als drei oder vier, da
nicht nur ihr Körper, sondern auch das Immunsystem
stark geschädigt sei.
Blick nach draußen
Frau Ho erzählt, die Pflege des Sohnes gehe
über die Kraft einer Mutter. Würden die
Schmerzen zu groß, blieben nur noch stark
sedierende Medikamente, die Hilfe durch
den Staat sei minimal. Doi Moi – wie die
seit den späten achtziger Jahren forcierte
Erneuerung der vietnamesischen Wirtschaft
genannt wird – führt zwar zu Hochhäusern
aus Chrom und Stahl in Ho-Chi-
Minh-Stadt, zu modernen Flughäfen und
Fünf-Sterne-Hotels am Südchinesischen
Meer, doch am Rand der Eukalyptuswälder
bei A Luoi kommt vom neuen Wohlstand
so gut wie nichts an.
Der Junge von Frau Ho freut sich über
den Besuch. Seine Augen leuchten. Thanh
Ngoc nimmt die rechte Hand und streichelt
über den dünnen Unterarm. Die Mutter hat
ihn so auf eine Bastmatte gelegt, dass er einen
Blick nach draußen hat – den Blick auf
eine Welt, die er nie betreten wird. Wegen
des kranken Sohnes kann die Familie von
Frau Ho nicht in den typischen Pfahlhäusern
der Ta Oi wohnen, die auf Stelzen gebaut
und über Leitern erreichbar sind.
Während der Monsunzeit ist die Familie so
den Wassermassen fast hilflos ausgesetzt.
Während des Krieges waren die meisten
Bewohner von A Luoi Anfang der siebziger
Jahre durch den Urwald nach Laos geflohen.
Es ist eine müßige Frage, wer das Dorf
zu spät verlassen hat oder wer zu früh zurückgekehrt
ist und sich vor dem Dioxin
nicht schützen konnte, das US-Helikopter
seinerzeit versprüht haben. Durch diesen
biologischen Krieg sollte Operationsraum
für die Army geschaffen, dem Gegner die
natürliche Deckung genommen, die
Reisernte vernichtet und so die Versorgung
für den Vietcong erschwert werden.
Unter den Spätfolgen dieses Kahlschlags
haben bis heute nicht nur jene zu leiden,
die damals direkt mit Agent Orange in Berührung
kamen und noch immer an Hautverätzungen,
Chlorakne oder anderen
chronischen Krankheiten leiden. Über den
Boden fand das Gift seinen Weg in die Nahrungskette
und schädigte das Erbgut ganzer
Familien. Fehlbildungen bei Neugeborenen
haben zwar abgenommen, bleiben
aber auch für die dritte Generation nach
dem Krieg ein verbreiteter Schrecken.
Als Resident der Kommunistischen Partei
von A Luoi begrüßt uns Dinh Quang
Bình. Er hoffe sehr, meint er gleich am Anfang,
dass in Hanoi die Besuchersperren
für dieses Gebiet bald aufgehoben würden.
Er wisse ohnehin, dass im Internet Tipps
von Rucksacktouristen kursieren, wie man
diese Region ohne Erlaubnis bereisen könne.
Am besten sei es, in Hanoi einen Überlandbus
zu nehmen und sich darauf zu
verlassen, nicht von der Polizei kontrolliert
zu werden. Die meisten Besucher, besonders
die aus den USA, kämen wegen
eines Hügels in der Nähe von A Luoi, der
auf vietnamesisch Dong A Bia heiße und
im A Sao Tal liege.
Wegen der heftigen Gefechte, die es um
diese Höhe einst gab, wird sie von Kriegsveteranen
in den USA auch Hamburger Hill
– zu deutsch Hackfleischhügel – genannt.
Nachdem die Air Force die Erhebung Anfang
Mai 1969 mit einem Napalmteppich
belegt hatte, gelang es GIs in einer zehn
Tage dauernden Schlacht, das Gebiet einzunehmen
und dann doch wieder aufzugeben.
Dinh Quang Binh erzählt, danach habe
es keinen Baum mehr gegeben. Es sei so
still gewesen, dass man glaubte, die Stille
zu hören. Heute ist Urwald über Unterstände
und Laufgräben gewachsen und voll von
Schmetterlingen. Wer in den Himmel
blickt, sieht mitunter Adler kreisen.
Vielleicht fasziniert vom Spielfilm Hamburger
Hill, der 1987 von Regisseur John Irvin
gedreht wurde, oder anderen Überlieferungen
der Apokalypse im A Sao Tal ist es
für amerikanische Touristen offenbar unumgänglich,
den Hügel zu besteigen. Von
einem Parkplatz, der mit leeren Plastikflaschen
übersät ist, führt ein breiter Weg aufwärts
mit Stufen, die an den steilen Stellen
so breit sind, dass Fußgänger nicht abrutschen. Man braucht Stunden für
die vier Meilen bis zum höchsten Punkt. Die Stoßtrupps
der Army wühlten sich bei der Operation
Apache Snow zehn Tag vorwärts, um
Charly, wie die Vietcong von den GI’s genannt
wurden, aus der Stellung zu werfen.
Die Stille hören
Liegt die Faszination einer Besteigung des
Hackfleischhügels auch in dem schaurigen
Gefühl, neben dem Weg eine große Zahl
von Blindgängern zu wissen, an denen Bauern
aus dem Volk der Ta Oi noch immer zugrunde
gehen, wenn sie Brennholz schlagen?
Die Antworten des Parteisekretärs auf
meine Fragen lassen keine Rückschlüsse zu,
was er von dieser Art Tourismus hält. Er beteuert
stattdessen, diese Region dem Kultur-
und Ökotourismus öffnen zu wollen.
Angesichts der kontaminierten Böden dürfte
das ein frommer Wunsch bleiben, auch
wenn es bereits einen vietnamesischen Reiseveranstalter
gibt, der mit dem Slogan
more fun travel wirbt und behauptet, man
könne in dieser Gegend das authentische
Vietnam erleben. Was soll das sein? Das
kriegsversehrte Vietnam? Nicht das polierte
und ambitionierte Land der Großstädte?
Schon vor dem Angriff der Amerikaner
damals im A Sao Tal verfasste der südvietnamesische
Maler Le Ba Dang einen Aufruf
gegen den Vietnamkrieg, der von vielen
europäischen Künstlern – allen voran Pablo
Picasso – unterzeichnet wurde. Ein Museum
in Hue stellt derzeit ein Wandbild
von Le Ba Dang aus, das an Picassos Guernica
erinnert. Auf sieben Meter Länge sieht
man Frauen und Kinder, die nackt einem
Luftangriff ausgesetzt sind. Von beiden Seiten
frisst sich das Feuer der Napalm-Abwürfe
in die Mitte des Bildes und die entsetzten
Gesichter der Menschen.
Auch wenn Vietnam, mehr als drei Jahrzehnte
nach dem Krieg, längst nicht mehr
brennt, wird man das Gefühl nicht los: Dieses
Land verfügt über eine äußerst dünne
Haut. Schon bei der geringsten Verletzung
könnten die alten Wunden freiliegen.
*Wolfgang Sréter, München, ist Theaterautor
* Aus: Freitag Nr. 25, 21. Juni 2012
Mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.
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