Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Am Rand der Eukalyptuswälder

Von Wolfgang Sréter *


Agent Orange Der Vietnamkrieg ist seit mehr als drei Jahrzehnten vorbei. Nur nicht für die Ta Oi, die bis heute gegen die Folgen des Giftgases kämpfen. Unser Autor hat das Volk besucht



Manche Bilder begleiten einen mehr als ein halbes Leben lang. Bei mir ist es eine Schwarz-Weiß- Fotografie, die zwei Vietnamesen zeigt. Den einen sieht man im Profil. Er hat die Ärmel aufgekrempelt wie ein Handwerker bei der Arbeit. Mit ausgestrecktem Arm hält er in der rechten Hand einen Revolver. Der andere ist dem Betrachter zugewandt und trägt ein kariertes Hemd, an dem einige Knöpfe ausgerissen sind. Er sieht aus, als würde er einen Schrei unterdrücken. Er wird gerade auf offener Straße in Saigon vom örtlichen Polizeichef mit einem Kopfschuss exekutiert. Die damalige südvietnamesische Regierung behauptete, bei dem Getöteten handele es sich um einen Vietcong, und suggerierte, Soldaten der vietnamesischen Befreiungsfront dürfe man ohne Prozess und Verteidigung erschießen. Der Fotograf Eddie Adams, der für die Agentur Associated Press den Vietnamkrieg (1965 – 1975) dokumentierte, bekam für sein Foto den Pulitzer Preis. Er sagte bei der Verleihung: „Der General tötete einen Vietcong. Ich tötete den General mit meiner Kamera.“

Dieses Foto sollte 1968 in den USA die Sicht auf den Vietnamkrieg verändern. Es erschien auf den Titelseiten von Zeitungen und Magazinen, doch der Polizeigeneral – er hieß Nguyen Ngoc Loan – wurde durch die Kamera des Reporters weder verletzt noch getötet noch in seinem Ruf beschädigt. Nach Ende des Krieges konnte er dank seiner guten Beziehungen zu den US-Streitkräften als Emigrant eine Pizzeria im Bundesstaat Virginia eröffnen. Der Mörder überlebte sein Opfer um 30 Jahre.

Im Frühsommer 2012, auf dem Weg in die alte Kaiserstadt Hue, sehe ich das Foto wieder. Es hängt im Kriegsmuseum von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon. Den Angaben daneben ist zu entnehmen, es wurde am 1. Februar 1968 aufgenommen, zwei Tage nach Beginn der Tet-Offensive. Tet Nguyen Dan, das vietnamesische Neujahrsfest, wurde 1968 am 31. Januar gefeiert. Im Schutz des Feuerwerks, das die bösen Geister verjagen sollte, begann die Befreiungsfront mit Angriffen überall in Südvietnam. Auch auf Hue, das bis dahin von Gefechten verschont blieb. Dort stationierte US-Marines waren im Häuserkampf unerfahren. Auf die Frage eines amerikanischen Fernsehreporters nach der Frontlinie, antwortete ein Soldat, während er damit beschäftigt war, sein Gewehr nachzuladen: „Wir wissen nicht, wo sie sind. Sie laufen über Dächer und springen aus Gräben. Ich will nur am Leben bleiben und wieder zur Schule gehen. Das hier stinkt mir alles!“ Einen Monat später waren in Hue die Brücken über den Parfümfluss und der alte kaiserliche Palast zerstört. Vom prächtigen Eingangsportal ragte nur noch ein Skelett in den regenschweren Himmel. Mehr als vier Jahrzehnte später sind die Schäden von einst längst behoben und diese Kriegsspuren verschwunden.

Ganze Landschaften zerstört

Gegen Ende des Hue-Festivals für Musik, Tanz und Theater, dessen Gast ich bin, bietet sich die Möglichkeit, in das Gebiet an der laotischen Grenze zu fahren. Um sechs Uhr morgens holt mich Ho Dang Thanh Ngoc, Vizepräsident des vietnamesischen Künstler- und Schriftstellerverbandes, am Hotel ab. Wir verlassen Hue in Richtung Südwesten und kommen nach drei Stunden Fahrt in den Ort A Luoi. Unterwegs hat der Fahrer mehrfach versucht, Lastkraftwagen mit Eukalyptussetzlingen zu überholen. Seit Ende der siebziger Jahre wird diese Art der Aufforstung in Regionen Südvietnams betrieben, in denen der Regenwald von der USArmee mit dem dioxinhaltigen Pflanzengift Agent Orange besprüht wurde. Eukalyptusbäume wachsen schnell.

An der Kahlheit der Hänge, die wir passieren, lässt sich erkennen, dass die Schäden, die das Entlaubungsmittel verursacht hat, bis heute vorhanden und offenbar irreparabel sind. Aber nicht nur ganze Biotope hat das Gift zerstört. Nach Ende des Krieges nahmen Fehlgeburten und Fehlbildungen von Neugeborenen in der Region um A Luoi unter der dort lebenden Minorität der Ta Oi ungeheuer zu, wie es mein Begleiter Thanh Ngoc in seinem Buch Ma beschrieben hat.

In A Luoi besuchen wir Frau Ho, deren Sohn vor 23 Jahren mit schweren Missbildungen zur Welt kam. Als wir ihn in einer kleinen Hütte sehen, liegt er auf dem Rücken und starrt in die Luft. Seine Beine sind an den Hüften fast um neunzig Grad gespreizt, seine Hände verkrümmt, er kann sich nicht allein bewegen. Normalerweise, sagt Thanh Ngoc, würden derart gezeichnete Kinder nicht älter als drei oder vier, da nicht nur ihr Körper, sondern auch das Immunsystem stark geschädigt sei.

Blick nach draußen

Frau Ho erzählt, die Pflege des Sohnes gehe über die Kraft einer Mutter. Würden die Schmerzen zu groß, blieben nur noch stark sedierende Medikamente, die Hilfe durch den Staat sei minimal. Doi Moi – wie die seit den späten achtziger Jahren forcierte Erneuerung der vietnamesischen Wirtschaft genannt wird – führt zwar zu Hochhäusern aus Chrom und Stahl in Ho-Chi- Minh-Stadt, zu modernen Flughäfen und Fünf-Sterne-Hotels am Südchinesischen Meer, doch am Rand der Eukalyptuswälder bei A Luoi kommt vom neuen Wohlstand so gut wie nichts an.

Der Junge von Frau Ho freut sich über den Besuch. Seine Augen leuchten. Thanh Ngoc nimmt die rechte Hand und streichelt über den dünnen Unterarm. Die Mutter hat ihn so auf eine Bastmatte gelegt, dass er einen Blick nach draußen hat – den Blick auf eine Welt, die er nie betreten wird. Wegen des kranken Sohnes kann die Familie von Frau Ho nicht in den typischen Pfahlhäusern der Ta Oi wohnen, die auf Stelzen gebaut und über Leitern erreichbar sind. Während der Monsunzeit ist die Familie so den Wassermassen fast hilflos ausgesetzt.

Während des Krieges waren die meisten Bewohner von A Luoi Anfang der siebziger Jahre durch den Urwald nach Laos geflohen. Es ist eine müßige Frage, wer das Dorf zu spät verlassen hat oder wer zu früh zurückgekehrt ist und sich vor dem Dioxin nicht schützen konnte, das US-Helikopter seinerzeit versprüht haben. Durch diesen biologischen Krieg sollte Operationsraum für die Army geschaffen, dem Gegner die natürliche Deckung genommen, die Reisernte vernichtet und so die Versorgung für den Vietcong erschwert werden.

Unter den Spätfolgen dieses Kahlschlags haben bis heute nicht nur jene zu leiden, die damals direkt mit Agent Orange in Berührung kamen und noch immer an Hautverätzungen, Chlorakne oder anderen chronischen Krankheiten leiden. Über den Boden fand das Gift seinen Weg in die Nahrungskette und schädigte das Erbgut ganzer Familien. Fehlbildungen bei Neugeborenen haben zwar abgenommen, bleiben aber auch für die dritte Generation nach dem Krieg ein verbreiteter Schrecken.

Als Resident der Kommunistischen Partei von A Luoi begrüßt uns Dinh Quang Bình. Er hoffe sehr, meint er gleich am Anfang, dass in Hanoi die Besuchersperren für dieses Gebiet bald aufgehoben würden. Er wisse ohnehin, dass im Internet Tipps von Rucksacktouristen kursieren, wie man diese Region ohne Erlaubnis bereisen könne. Am besten sei es, in Hanoi einen Überlandbus zu nehmen und sich darauf zu verlassen, nicht von der Polizei kontrolliert zu werden. Die meisten Besucher, besonders die aus den USA, kämen wegen eines Hügels in der Nähe von A Luoi, der auf vietnamesisch Dong A Bia heiße und im A Sao Tal liege.

Wegen der heftigen Gefechte, die es um diese Höhe einst gab, wird sie von Kriegsveteranen in den USA auch Hamburger Hill – zu deutsch Hackfleischhügel – genannt. Nachdem die Air Force die Erhebung Anfang Mai 1969 mit einem Napalmteppich belegt hatte, gelang es GIs in einer zehn Tage dauernden Schlacht, das Gebiet einzunehmen und dann doch wieder aufzugeben. Dinh Quang Binh erzählt, danach habe es keinen Baum mehr gegeben. Es sei so still gewesen, dass man glaubte, die Stille zu hören. Heute ist Urwald über Unterstände und Laufgräben gewachsen und voll von Schmetterlingen. Wer in den Himmel blickt, sieht mitunter Adler kreisen.

Vielleicht fasziniert vom Spielfilm Hamburger Hill, der 1987 von Regisseur John Irvin gedreht wurde, oder anderen Überlieferungen der Apokalypse im A Sao Tal ist es für amerikanische Touristen offenbar unumgänglich, den Hügel zu besteigen. Von einem Parkplatz, der mit leeren Plastikflaschen übersät ist, führt ein breiter Weg aufwärts mit Stufen, die an den steilen Stellen so breit sind, dass Fußgänger nicht abrutschen. Man braucht Stunden für die vier Meilen bis zum höchsten Punkt. Die Stoßtrupps der Army wühlten sich bei der Operation Apache Snow zehn Tag vorwärts, um Charly, wie die Vietcong von den GI’s genannt wurden, aus der Stellung zu werfen.

Die Stille hören

Liegt die Faszination einer Besteigung des Hackfleischhügels auch in dem schaurigen Gefühl, neben dem Weg eine große Zahl von Blindgängern zu wissen, an denen Bauern aus dem Volk der Ta Oi noch immer zugrunde gehen, wenn sie Brennholz schlagen? Die Antworten des Parteisekretärs auf meine Fragen lassen keine Rückschlüsse zu, was er von dieser Art Tourismus hält. Er beteuert stattdessen, diese Region dem Kultur- und Ökotourismus öffnen zu wollen. Angesichts der kontaminierten Böden dürfte das ein frommer Wunsch bleiben, auch wenn es bereits einen vietnamesischen Reiseveranstalter gibt, der mit dem Slogan more fun travel wirbt und behauptet, man könne in dieser Gegend das authentische Vietnam erleben. Was soll das sein? Das kriegsversehrte Vietnam? Nicht das polierte und ambitionierte Land der Großstädte?

Schon vor dem Angriff der Amerikaner damals im A Sao Tal verfasste der südvietnamesische Maler Le Ba Dang einen Aufruf gegen den Vietnamkrieg, der von vielen europäischen Künstlern – allen voran Pablo Picasso – unterzeichnet wurde. Ein Museum in Hue stellt derzeit ein Wandbild von Le Ba Dang aus, das an Picassos Guernica erinnert. Auf sieben Meter Länge sieht man Frauen und Kinder, die nackt einem Luftangriff ausgesetzt sind. Von beiden Seiten frisst sich das Feuer der Napalm-Abwürfe in die Mitte des Bildes und die entsetzten Gesichter der Menschen.

Auch wenn Vietnam, mehr als drei Jahrzehnte nach dem Krieg, längst nicht mehr brennt, wird man das Gefühl nicht los: Dieses Land verfügt über eine äußerst dünne Haut. Schon bei der geringsten Verletzung könnten die alten Wunden freiliegen.

*Wolfgang Sréter, München, ist Theaterautor

* Aus: Freitag Nr. 25, 21. Juni 2012
Mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.



Zurück zur Vietnam-Seite

Zurück zur Homepage