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Krise trotz Wachstum

Vietnam: Die Abhängigkeit vom US-amerikanischen und japanischen Markt hat zu dramatischen Einbrüchen im Außenhandel geführt. Furcht vor sozialen Unruhen

Von Raoul Rigault *

Blickt man nur auf das Wachstum, dann zählt die Sozialistische Republik Vietnam zu den Gewinnern der Weltwirtschaftskrise. Aufgrund des eher unterentwickelten und international nicht voll integrierten Bankensystems blieb das südostasiatische Land von den direkten Folgen der Finanzkrise weitgehend verschont und von einer Rezession weit entfernt. Das erwartete Wachstum von 4,6 Prozent in diesem und 5,3 im kommenden Jahr liegt zwar deutlich unter den durchschnittlich acht Prozent der jüngeren Vergangenheit, doch anderswo wäre man über solche Werte glücklich. Nicht so zwischen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt. Dort wirkt die Krise auf anderem Wege und verbindet sich in gefährlicher Weise mit den Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre.

Größtes Problem ist die enorme Abhängigkeit von ausländischen Märkten und Kapitalgebern. Im Zuge der Turbulenzen an der Wall Street und anderswo sind Investoren und Abnehmer sehr viel zurückhaltender geworden und zugleich die Überweisungen der Auslandsvietnamesen von gut sieben auf sechs Milliarden Dollar gesunken. Daraus resultiert ein Leistungsbilanzdefizit von 11,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im vergangenen und von 9,7 Prozent in diesem Jahr. Noch schlechter fällt die Handelsbilanz aus, die mit einem Minus von 23 Prozent der Wirtschaftsleistung im Oktober ein dramatisches Niveau erreichte. Das ist eine direkte Folge der Rezession in den USA und Japan, in die 2008 allein ein Drittel der Exporte ging, und der Handelsstruktur. Während Vietnam vor allem Rohöl, Textilien, Bekleidung, Schuhe oder landwirtschaftliche Produkte wie Reis und Kaffee ausführt, bezieht es die wichtigsten Produktionsmittel sowie Eisen-, Stahl- und Chemieartikel aus dem Ausland, insbesondere aus der Volksrepublik China, Singapur, Taiwan und Japan.

Hinzu kommt eine steigende Staatsverschuldung. Das öffentliche Haushaltsdefizit stieg nach bisherigen Berechnungen von 1,2 Prozent des BIP 2006 bis Mitte 2009 auf mehr als acht für die vergangenen zwölf Monate. Mit dafür verantwortlich war das Konjunkturprogramm der Regierung, das Ulrike Maenner von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) als »eines der mutigsten der Welt« lobt. Von ihrem Standpunkt aus sicherlich verständlich, denn auffälligster Bestandteil der Hilfspakete waren der Verzicht auf die Einkommenssteuer für ein halbes Jahr, die Senkung der Unternehmenssteuern sowie Billigkredite für den Mittelstand und die Bauern. Die Lohnabhängigen mußten durch die Teuerung dagegen Einbußen hinnehmen, die auch durch die Reduzierung der Mehrwertsteuer auf einige Waren des Grundbedarfs nicht ausgeglichen werden konnten.

Das Kabinett unter Ministerpräsident Nguyen Tan Dung steht unter Zugzwang, denn das Land braucht angesichts der jährlich mehr als eineinhalb Millionen neuen Arbeitsuchenden mindestens ein Wachstum von sieben Prozent. Die Steuerungsmöglichkeiten der regierenden KP sind durch die Anfang der 90er Jahre unter dem Namen »Doi Moi« eingeleitete Öffnung hin zu »Marktwirtschaft mit sozialistischer Orientierung« jedoch gewaltig geschrumpft. Auf die staatlichen Unternehmen entfallen nur noch 40 Prozent der Industrieproduktion und ein Drittel der Exporte. Gut die Hälfte der insgesamt rund 6000 staatseigenen Betriebe wurde inzwischen privatisiert. Ausnahmen bilden nur strategische Sektoren wie Eisenbahn. Verlage und Rüstungsindustrie, wobei das deutsche Außenministerium noch unter der Leitung von Frank-Walter Steinmeier im September die feste Absicht der vietnamesischen Regierung positiv bewertete, in naher Zukunft auch profitable Großbetriebe dieser Sektoren mindestens teilweise zu privatisieren.

Der Gefahr, sich im Zuge dieses Transformationsprozesses auch selbst überflüssig zu machen, ist sich die Bürokratie sehr wohl bewußt. Das zeigt unter anderem die hohe Priorität, die sie der Inflationsrate beimißt. »Die Wiederkehr einer zweistelligen Preissteigerung ist die größte Sorge der Regierung. Wer die höheren Preise im Portemonnaie fühlt, ist unberechenbar«, erklärte ein westlicher Berater der Hanoier Exekutive Ende November gegenüber der FAZ. Die galoppierende Inflation von 23,1 Prozent im vergangenen Jahr ist den Vietnamesen noch bestens in Erinnerung und führte seinerzeit zu einer Welle wilder Streiks. Gegenwärtig liegt sie bei sieben Prozent. Für 2010 wird allerdings ein Sprung auf elf Prozent erwartet. Wer es sich leisten kann, hortet Dollar, die längst zur Schattenwährung avanciert sind. Daran konnte auch die Abwertung des Dong um 5,44 Prozent am 25. November, die Anhebung der Leitzinsen und die Aufforderung der Exporteure, ihre Greenbacks an die Zentralbank zu verkaufen, nichts ändern. Sie hat eher die Glaubwürdigkeit der Exekutive untergraben, denn gut eine Woche zuvor hatte Finanzminister Vu Van Ninh auf dem APEC-Gipfel in Singapur einen solchen Schritt noch kategorisch ausgeschlossen.

Die Angst vor dem Ausbruch sozialer Unruhen ist angesichts eines Mindestlohnes von 60 sowie einen Durchschnittsverdienst von 145 Dollar in privaten und 220 Dollar in staatlichen Unternehmen und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich alles andere als übertrieben. Die Arbeitsbedingungen erinnern zudem oftmals an den Manchesterkapitalismus. So traten am 16. Dezember 750 Arbeiter einer südkoreanischen Firma in der südlichen Provinz Dong Nai in Streik, weil das Unternehmen die Sozialversicherungsbeiträge nicht zahlte, ihnen ungenießbares Essen vorsetzte und nur zwei, von Werkschützern kontrollierte, Toilettenbesuche pro Schicht erlaubte.

* Aus: junge Welt, 21. Dezember 2009


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