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Neue Chancen in den Bergen von Nghe An

SODI-Projekt unterstützt Berufsbildung von Frauen in Vietnam

Von Ilona Schleicher *

Berufliche Ausbildung und Beratung für Frauen sind die Ziele eines Projektes des Solidaritätsdienstinternational e.V. (SODI) und der Vietnamesischen Frauenunion, das die ganze Provinz Nghe An erfasst. Es eröffnet besonders in armen, schwer erreichbaren Bergdörfern ethnischer Minderheiten Zukunftschancen.

Mehr als 100 Frauen haben im Rahmen des vom deutschen Entwicklungsministerium geförderten Projekts am Trainingszentrum der Frauenunion in der Provinzhauptstadt Vinh (VTC) bereits erfolgreich eine berufliche Grundausbildung in Informationstechnologie, Kochen/ Gastronomie und Kosmetik/Friseurhandwerk abgeschlossen. Zu ihnen gehören 13 junge Frauen aus dem Bergkreis Que Phong an der Grenze zu Laos. »Wir wollen dir zeigen, wie die Menschen dort leben«, kündigt Nguyen Thi Ha, Leiterin des VTC und Projektkoordinatorin der Frauenunion, an. »Du wirst erleben, wie couragiert Frauen selbst unter schwierigsten Bedingungen für den Erfolg des Projekts arbeiten.«

Also machen wir uns auf den Weg nach Que Phong – zunächst gen Norden auf der Nationalstraße 1, dann nach Westen auf der Nationalstraße 48 Richtung laotische Grenze. Das Auto ist schwer beladen mit Kartons. Die sollen unterwegs bei der Frauenunion im Nachbarkreis von Que Phong abgegeben werden – es soll eine Überraschung sein. Mehr erfahre ich zunächst nicht. Auf den Reisfeldern beiderseits der Straße bringen Frauen und Männer die Ernte ein, ein Anblick typischer vietnamesischer Emsigkeit und zugleich ein Bild der Ruhe und des Friedens, abgerundet durch sanfte Hügel in der Ferne. Wir erreichen den Fluss Hieu, der unser ständiger Begleiter wird. Sein Tal wird unmerklich schmaler, die Reisfelder werden kleiner, die Berge rücken näher. Wie seit Urzeiten schöpfen riesengroße Bambusräder Wasser aus dem Fluss.

Ein Halt im Zentrum des Kreises Quy Chau unterbricht die Beschaulichkeit. Die Kartons werden entladen. Unschwer sind die Großbuchstaben »SODI« auf den Aufklebern zu entziffern. Die Kartons enthalten, so erfahre ich nun, Schuluniformen, die in Nähkursen im VTC mit Maschinen gefertigt wurden, die vor mehr als zehn Jahren mit Hilfe von SODI beschafft wurden. Die Frauenunion verteilt die Schulkleidung an arme Familien. »Bedürftigen wird das vor einigen Jahren in Vietnam eingeführte Schulgeld erlassen, aber sie haben oft kein Geld für die Schuluniform«, erklärt Ha. Gut, dass sich die Frauenunion darum kümmert, denke ich. Richtig froh kann mich das Geschenk dennoch nicht machen, verweist es doch auf die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern der wirtschaftlichen Liberalisierung Vietnams, die trotz beachtlicher Fortschritte bei der Reduzierung der Armut weiter wächst.

Schließlich erreichen wir Kim Son, das Distriktzentrum von Que Phong. Ziemlich unvermittelt mündet die Nr. 48 hier in eine breite, boulevardähnliche Straße. Sie ist gesäumt von bescheidenen kleinen Häuschen. Eine stattliche Anzahl mehrgeschossiger Gebäude, die offensichtlich erst in der letzten Zeit entstanden sind, setzen sich davon protzig ab. Zeichen eines beginnenden sozioökonomischen Aufschwunges sind nicht zu übersehen. Wem wird die Entwicklung nützen? Wen wird sie womöglich überrollen? Fragen, auf die man zwischen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt überall in Vietnam Antworten sucht.

Luong Thi Be ist optimistisch. Wir treffen die 19-jährige junge Frau, Angehörige der ethnischen Minderheit der Thai, in einem Restaurant in Kim Son. Vor kurzem hat sie im VTC mit gutem Erfolg einen Ausbildungskurs absolviert und bald darauf Arbeit als Köchin gefunden. Ha nimmt sie mütterlich in den Arm, freut sich, dass es dem einstigen Schützling gut geht. Zwar ist der Verdienst von 45 Euro im Moment noch mehr als bescheiden, aber bei freiem Essen und unentgeltlicher Unterkunft bleibt sogar etwas zum Sparen übrig. Luong Thi Be will zunächst noch Erfahrungen sammeln und dann in ihrem Heimatdorf selbst ein kleines Restaurant einrichten. Dort ist ein Staudamm gebaut worden. Mitte September ist der Que-Phong-Energiekomplex mit fünf Wasserkraftwerken an das nationale Stromnetz angeschlossen worden. Doch vor allem die malerische Gegend soll Touristen anlocken, Luong Thi Be wird in Zukunft genügend Kunden haben.

Von der Frauenunion erfahren wir, dass der Kreis Que Phong trotz einiger Entwicklungsfortschritte noch immer zu den 61 ärmsten Kreisen Vietnams zählt. Alle seine Gemeinden sind in das Förderprogramm der Regierung für besonders arme Gebiete aufgenommen worden. Große Sorgen bereiten Drogenhandel und Drogenmissbrauch, ein Problem, von dem auch die Vorsitzende der Frauenunion des Kreiszentrums betroffen ist. Tran Thi Thu, eine zugezogene ethnische Vietnamesin, fand ihr familiäres Glück in der Ehe mit einem Einheimischen. Ihr Mann, ein Thai, wurde drogenabhängig. Mit Hilfe seiner Frau hat er die Sucht überwunden, aber die Angst vor einem Rückfall bleibt. »Wir lieben uns, wir bleiben zusammen. Gemeinsam werden wir es schaffen«, hofft Tran Thi Thu. Die Frauenunion stärkt ihr den Rücken. Alle wissen, wie viel für die Lösung des Drogenproblems von der Verbesserung der Wege in die derzeit noch schwer zugänglichen Bergdörfer abhängt, um den Anbau von Mohn und den Drogenhandel durch wirtschaftliche Alternativen zu ersetzen – für Männer und Frauen.

Die Regierung investiert viel in die Entwicklung der Infrastruktur. Auch am derzeitigen Ende der asphaltierten Nationalstraße 48 arbeiten sich Menschen und schwere Baumaschinen Meter für Meter in die Berge vor. Die Gemeinde Hau Lum haben sie bereits erreicht. Hier sind wir mit Lu Thi Ha verabredet. Sie ist eine von drei Multiplikatorinnen der Gemeinde, die Frauen über ihre Rechte aufklären sollen. Trainerinnen der Frauenunion, zuvor in intensiven Ausbildungskursen unterrichtet, haben sie geschult. Lu Thi Ha kennt jetzt die wichtigsten Bestimmungen des Arbeitsgesetzes und jene zur Gleichstellung der Frauen. Sie kann Frauen in den Dörfern beraten, wie sie Arbeit finden und welche Möglichkeiten beruflicher Ausbildung es gibt.

»Manchmal müssen wir fünf Kilometer laufen, um die Frauen zu erreichen«, erzählt sie. »Wir informieren sie über ihre Chancen und Rechte. Aber wir warnen sie auch vor Gefahren außerhalb der vertrauten Umgebung, auf die sie nicht vorbereitet sind. Dazu gehören die Übertragung von HIV und der Frauenhandel über die Grenzen Vietnams hinweg.

Wir sprechen auch darüber, wie sich Frauen gegen häusliche Gewalt, die in Familien ethnischer Minderheiten früher nur selten vorkam, wehren können.« Zu den Fragen, die die Frauen besonders interessieren, gehört die Zahlung der Sozialversicherung. Diese ist seit einigen Jahren nicht mehr nur für Staatsbetriebe, sondern auch für private Unternehmen Pflicht. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus.

Wir erfahren, dass in den letzten drei Jahren knapp 500 junge Leute aus Que Phong im fernen Süden Vietnams ihr Glück suchten, darunter 153 junge Frauen. Auch die Tochter von Lu Thi Ha arbeitet jetzt in einer Textilfabrik in Ho-Chi-Minh-Stadt. »Wenigstens ist sie nicht nach Malaysia gegangen, wie andere Mädchen«, sagt ihre Mutter. »So kann ich ihr mit meinem heutigen Wissen noch vieles erklären, was für sie wichtig ist.«

Kein Zweifel: Auch für die Frauen in den Bergdörfern von Que Phong jenseits des Endes der Straße Nr. 48 weitet sich der Horizont. Sie haben sich aufgemacht, neue Chancen zu suchen und zu nutzen.

* Aus: Neues Deutschland, 28. November 2009


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