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Die unmittelbaren Wirkungen des Giftkrieges in Vietnam auf Menschen (und Umwelt) und ihre Fortwirkung als Altlast

Von Werner Gallo

„Mein Name ist Hai Tam [...]. Ich möchte betonen, dass ich nur eines un-ter vielen tausend Opfern bin [...].
Ich bin mehrmals direkt von diesem Gift getroffen worden. Es war eine milchige Flüssigkeit. Sie traf mich insgesamt sechs Mal, und zwar so, dass ich am ganzen Körper völlig nass war. Ich und die vielen, die ebenfalls direkt getroffen wurden, bekamen nach diesen Einsätzen zunächst rot unterlaufene Augen, einige wurden ohnmächtig.
Die Flugzeuge kamen immer nur morgens von Sonnenaufgang bis etwa neun Uhr. Sie versprühten das Gift aus etwa hundert Metern Höhe. Viele von uns, die sich nicht gleich in Sicherheit bringen konnten, erlitten Verbrennungen, die Kehle trocknete ihnen aus, die Zunge brannte und die Lippen sprangen auf. Sie erbrachen Blut und starben nach kurzer Zeit [...].“

(Auszug aus Jaeggi 2000, 22)

Operation „Ranch Hand“

Es waren vorwiegend Flugzeuge des Typs C-123 und C-130, die im Rah-men der „Operation Ranch Hand“ zwischen 1962 und 1971 die chemischen Substanzen versprühten. Die Flugzeuge trugen keine militärischen Farben und Kennzeichen. Sie hatten Begleitschutz und wurden von einem Aufklä-rungsflugzeug geführt. Sie überflogen das Land in ca. 100 Meter Höhe und sprühten die Chemikalien von Sonnenaufgang bis etwa gegen neun Uhr – nur bei schönem Wetter und geringem Wind. Bei einem solchen Einsatz wurden die überflogenen Landstriche in der Regel mehrfach besprüht.

Die drei im wesentlichen eingesetzten chemischen Mischungen hießen „Agent Orange“, „Agent White“ und „Agent Blue“. Benannt wurden die Substanzen nach dem Farbstreifen, mit dem die Fässer jeweils markiert war-en. Agent Orange war eine Mischung von 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D) und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure (2,4,5-T), zweier Herbizide, die vorwiegend zur Waldvernichtung eingesetzt wurde. Agent Orange enthielt einen relativ hohen Anteil des Ultragiftes Dioxin (2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxin), auch TCDD genannt. Dieses Dioxin entsteht bei der Herstellung von Trichlorphenol, der Muttersubstanz von 2,4-D und 2,4,5-T als Verunrei-nigung. Während der Dioxin-Anteil in den damals noch im Handel befindli-chen zivilen Produkten (Medikamente, Kosmetika, Desinfektionsmittel, usw.) bei einem Milligramm Dioxin pro Kilogramm Substanz lag, betrug der Dioxin-Anteil in den Entlaubungsmitteln für den Vietnam-Krieg bis zu 40 Milligramm pro Kilogramm – also das Vierzigfache. Diese Herbizide waren zum damaligen Zeitpunkt in den USA zugelassen, allerdings nur bis zu einer maximalen Menge von 3,3 kg /ha, während die Aufwandmenge in Vietnam bei 27 kg/ha lag. (Grümmer 1971) Die wichtigsten Hersteller in den USA wa-ren Dow Chemical Corporation, Diamond Alkali Corporation, Monsanto Corporation.

Agent White war eine Mischung aus den Herbiziden 2,4-D und Picloram (4-Amino-3,5,6-trichlorpikolinsäure). Picloram war von der Dow Chemical Cooperation speziell für militärische Zwecke entwickelt worden. Picloram schädigt gezielt die Wurzeln der Pflanzen, während 2,4-D die Blätter zerstört. In der gemeinsamen Wirkung resultiert eine besonders nachhaltige Schädi-gung der Pflanzen. Auch Agent White diente vorzugsweise der Waldvernich-tung.

Agent Blue bestand zu 65 % aus der Substanz Dimethylarinsäure (DMA). Es wurde hauptsächlich zur Vernichtung von Reiskulturen eingesetzt. Die Substanz ist für Menschen hochgiftig. Ein Gramm pro kg Körpergewicht aufgenommen, führt bei der Hälfte der betroffenen Personen zum Tode. Diese Substanz war in den USA wegen seiner möglichen Umwandlung im Boden zu hochgiftigen Substanzen nicht zugelassen.

Auf dem ersten internationalen Dioxin-Symposium im Januar 1983 wurde die Gesamtmenge der eingesetzten Herbizide auf ca. 60 Millionen Kilo-gramm geschätzt: Agent Orange 24 Millionen Kilogramm, Agent White 25 Millionen Kilogramm und Agent Blue 11 Millionen Kilogramm. Agent Orange ist wegen der großen Menge und dem hohen Dioxinanteil die Mi-schung, der die schlimmsten und nachhaltigsten Schäden bei Mensch und Umwelt anzulasten sind. Die Gesamtmenge des ausgebrachten Dioxins wur-de damals auf bis zu 170 kg geschätzt (zum Vergleich: Seveso 1,7 kg). In neueren Untersuchungen, die auch bisher nicht bekannte Dokumente berücksichtigten, belaufen sich die Schätzungen bis auf eine Gesamtmenge von 366 kg Dioxin, also mehr als das Doppelte der ursprünglich angenommen Menge. (Fabig 2003)

Die wesentlichen militärischen Ziele der Herbizideinsätze bestanden ers-tens in der Entlaubung der Wälder und des Buschwerks, um dem Feind die Deckung zu nehmen und zweitens in der Vernichtung der Ernten, um dem Feind und seinen Unterstützern die Nahrung zu entziehen. Die Militärlogik der „Entlaubung“ (Zerstörung der Vegetation und damit der feindlichen De-ckung) und des „Aushungerns“ des Feindes assoziiert uralte – zeitlich be-grenzte – Methoden in kriegerischen Auseinandersetzungen und Taktiken. Doch in diesem Fall ist die Größenordnung eine andere. Es sind Euphemis-men für die langfristige und nachhaltige Störung bzw. Vernichtung der Um-welt und damit der Lebensgrundlagen des Feindes.

Die unmittelbaren Folgen für die Menschen

Beim Einsatz der Herbizide unter Kriegsbedingungen war es für die be-troffenen Menschen schwierig, zu differenzieren, welchen Giften sie ausge-setzt waren, da auch chemische Kampfstoffe wie CN- (Chloro-Acetophenon) und CS-Gas (Ortho-Chloro-Benzal-Malonotril) sowie weitere Giftstoffe von Flugzeugen und Hubschraubern abgeworfen und abgesprüht wurden. Wenn auch diese Gase als primär nicht tödlich eingestuft werden, so hängt trotzdem der Wirkungsgrad zu einem erheblichen Teil von der Dosis der angewendeten chemischen Stoffe ab, die die Betroffenen durch Mund und Atemwege in den Körper aufnahmen oder auf Haut und Schleimhäute bekamen.

Ein ähnlicher Zusammenhang besteht bei den Herbiziden (2,4-D, 2,4,5-T, Picloram und DMA). Hier existiert eine unmittelbare allgemeine Giftwirkung, ähnlich wie bei anderen toxischen Substanzen. So führt z. B. die Substanz DMA (Bestandteil von Agent Blue), ein Gramm pro Kilogramm Kör-pergewicht aufgenommen, bei 50 Prozent der Betroffenen zum Tod. Zudem ist davon auszugehen, dass auch andere giftige Substanzen bzw. chemische Kampfstoffe während des Krieges zum Einsatz bzw. zur „Erprobung“ kamen.

Das in den Herbiziden enthaltene Dioxin war eine unter mehreren giftigen Substanzen, ein Bestandteil in dem abgesprühten „Giftcocktail“, dem somit keine speziellen akuten Krankheitssymptome zugeordnet werden können. Eine beim Menschen unmittelbar zum Tod führende Dosis ist nicht bekannt, bzw. es existiert eine widersprüchliche Datenlage: Beim Seveso-Unfall wur-den bei den tot geborenen Kindern im Körper 700 ng/kg Dioxin nachgewie-sen, in Tierversuchen lagen die Werte zwischen 1 ng/kg und 1 000 ng/kg. (Bernd Leitenberger, Dioxine, www.bernd-leitenberger.de) Die humane Le-taldosis wird mit 4 000-6 000 Mikrogramm/kg und Körpergewicht ange-nommen. (Lange 2003) Ingesamt ist am ehesten davon auszugehen, dass die Kombinationen der Wirkungen auf die verschiedenen Organsysteme nach Tagen, Wochen und Monaten der Intoxikation zum Tode führt.

Übersicht über die Wirkungsweise der Herbizide:

Direkte Auswirkungen

Allgemeine Auswirkungen
Wirkungsort: Organe, Psyche
Folgen: Akute körperliche und psychische Erkrankungen wie Vergiftungs-erscheinungen, Allergien, Schockzustände; mittelfristig: Chlorakne; langfris-tig: körperliche und psychische Erkrankungen wie Neurasthenie und Magen- und Darmerkrankungen

Spezielle Auswirkungen
Wirkungsort: Frucht im Mutterleib
Folgen: Schädigung des ungeborenen Kindes: Fehlgeburt, Frühgeburt, Missbildungen, Immunschwäche, Allergien

Indirekte Wirkungen (Wirkungsweise über die Chromosomen)

Karzinogene Wirkungen
Wirkungsort: Chromosomen der Körperzellen
Folgen: Krebserkrankungen, z. B. Leberkrebs, Gebärmutterkrebs

Mutagene Wirkungen
Wirkungsort: Chromosomen der Keimzellen
Folgen: Schädigung des Erbgutes: Frühgeburten, Fehlgeburten, Missbil-dungen (insbesondere Neuralrohrstörungen)


Im Bericht über den Einsatz toxischer chemischer Produkte und die durch sie verursachten Schäden im Zeitraum vom 22. November 1966 bis zum 22. November 1967 (Russell/Sartre 1969, 36ff) werden unter anderen folgende direkte Auswirkungen beschrieben:
  • Sieben Einsätze mit giftigen Chemikalien in der Provinz Tra Vinh auf die Dörfer Long Vinh, Lonh Toan, Truong Long Hoa, Hiep Thanh und auf mehrere Dörfer der Bezirke Cau Ngang und Tra Cu vom 22. November 1966 bis zum 2. Januar 1967: Mehr als 15 000 erlitten Vergiftungen, 885 schwere Vergiftungen. 1 500 Haustiere wurden getötet oder schwer vergiftet. Tausende Hektar Obstplantagen und Ackerland wurden verwüstet.
  • Einsatz giftiger Chemikalien gegen das Dorf Long Nguyen am 8. 2. 1967, dem Vorabend des Tet-Festes: Tausende von Dorfbewohnern wurden [...] vergiftet, viele bekamen Erstickungsanfälle.
  • In den Provinzen Bien Hoa und Baria Einsatz von Granaten, die mit gif-tigen Substanzen geladen waren, und Angriff mit giftigen Chemikalien an verschiedenen Orten Ende April und Anfang Mai 1967: Eine ganze Anzahl Personen erlitt Vergiftungen und starb daran, zum Teil noch an Ort und Stelle. Die Opfer erlitten Verbrennungen am Unterleib, ihre Kehle trocknete ein, ihre Zunge brannte, die Lippen sprangen auf, sie mussten Blut erbre-chen, ehe der Tod eintrat. Die Autopsie ergab blutgetränkte Lungen, ein angeschwollenes Herz und eine Leber, die auf das Dreifache ihrer normalen Ausdehnung angeschwollen war; die Gallenblase und die Nieren waren ebenfalls stark angeschwollen.
  • Am 4. Juni 1967 Einsatz giftiger Chemikalien in der Provinz Bien Hoa gegen die Ortschaft Phuc Trung, Bezirk Dinh Quan, anschließend ein weite-rer Angriff mit giftigen Chemikalien auf das Gebiet von Gai Rai, Bezirk Xuan Loc: Mehr als hundert Personen erlitten schwere Vergiftungen, die meisten von ihnen waren Frauen und Kinder. Drei Kinder im Alter von 7 bis 12 Jahren kamen um. Hunderte erlitten leichtere Vergiftungen. Fast alle Haustiere wurden getötet. Sieben Hektar Ackerland verdorrten völlig.
  • Am 16. Juni 1967 wurden in der Provinz Ben Tre bei 30 Einsätzen hoch-dosierte giftige Chemikalien auf die Ortschaften My Chanh, Vinh Hoa, Tan Xuan, Tan My und Bao Thanh abgeworden: 10 000 Personen erlitten Vergiftungen, die meisten von ihnen waren Greise und Kinder. Mehrere schwangere Frauen hatten nach den Vergiftungen Fehlgeburten. Mehr als 500 Hektar Reisfelder und Ackerland wurden verwüstet.
  • Vom 13. bis 22. Juni wiederholte Einsätze mit giftigen Chemikalien ge-gen vier Dörfer im Bezirk Thanh Phu und fünf Dörfer im Bezirk Ba Tri: Hun-derte von Personen erlitten Vergiftungen; sie bekamen Fieber, Kopfschmer-zen Husten, Bluterbrechen und Diarrhö. Zwei Kinder wurden getötet. Mehrere hundert Haustiere kamen um. Alle Äcker und Obstbäume wurden verwüstet.
  • Von Mitte 1965 bis Mitte 1967 waren die Provinzen im Zentrum des Trung Bo-Gebietes in Zentralvietnam von zahlreichen Angriffen mit giftigen Chemikalien betroffen [...]. Im Bezirk An Lao wurden dreimal jeweils zur Zeit der Reisernte 15 Angriffe mit giftigen Chemikalien geflogen: Mehr als 10 000 Hektar Reisfelder und Gärten wurden verwüstet. Hunderttausende von Personen erlitten Vergiftungen.
Die Beschreibungen sind sehr allgemein. Es wird generell von „Vergif-tungen“ gesprochen, speziellere Beschreibungen von Symptomen, wie Hus-ten, Kopfsschmerzen, Erbrechen, Bluterbrechen, Durchfälle usw. finden sich nur vereinzelt. Nur in seltenen Fällen gibt es Berichte über Autopsien der durch die Gifteinsätze zu Tode gekommen Opfer.

Generell ist davon auszugehen, dass die unmittelbare Wirkung auf die be-troffenen Menschen (Vergiftungssymptome) von der aufgenommenen Gift-menge, dem betroffenen Organsystem (Haut, Magen-Darm-Trakt, Atemor-gane), dem Alter und den bestehenden Vorerkrankungen der Opfer abhängig waren: Allergische Reaktionen bis zum tödlichen Schock, Übelkeit, Erbre-chen, Durchfälle, Atembeschwerden, Blutungen der Schleimhäute, teilweise mit Todesfolge. Bei Schwangeren kam es durch die Giftwirkung zu Fehlge-burten. Die Auswirkungen waren bei älteren Menschen wegen oft bestehen-der Vorerkrankungen und bei Kindern dramatischer.

Die betroffenen Menschen in Vietnam waren einem „Giftcocktail“ ausge-setzt, dessen unmittelbare Wirkungen im Vordergrund standen. Wer die Gift-einsätze überlebte, hatte sich unter den Rahmenbedingungen des Krieges mit Hunger, Krankheit, Verletzungen und mangelnder Hygiene auseinander zu setzen. Spezifische Wirkungen, die dem Dioxin zugeordnet werden können, lassen sich unter diesen Bedingungen nicht verifizieren.

Die kurz- und mittelfristigen Wirkungen von reiner Dioxinintoxikation wurden anhand der schweren Unfälle bei Seveso in Oberitalien (1976) und bei der BASF in Ludwigshafen (1953) bekannt. Die Dioxine spalten beim Abbau Chloratome ab. Über weitere chemische Reaktionen führt dies zu einer Zerstörung von Organgewebe, insbesondere von Leber, Milz, Nieren und Bauchspeicheldrüse, Atemwegen und Lunge, Herz und Zentralem Ner-vensystem sowie der Haut mit entsprechenden schweren chronischen Erkran-kungen. Goldmann berichtete in seiner Studie über die Massenintoxikation 1953 in der BASF von zwei Dutzend kurz- und mittelfristigen Erkrankungen und Symptomen bzw. Symptomkomplexen, die wenige Tage bis einige Mo-nate nach der Intoxikation auftraten: Chlorakne, chronische Entzündungen von Leber, Bauchspeicheldrüse, Nieren, des Zentralen Nervensystems, der Atemwege – in einem Fall mit Todesfolge. (Goldmann 1973)

Die langfristigen Folgen für die Menschen

Wer die unmittelbaren Folgen der Gifteinsätze überstand, sah sich mittel- und langfristig erheblicher gesundheitlicher Folgen ausgesetzt, die auch – auf unterschiedlichen Wegen – auf die nachfolgenden Generationen weitergege-ben wurden. Diese langfristigen und nachhaltigen Wirkungen sind in erster Linie dem Dioxin zuzuschreiben.

Neben der akuten Giftwirkung bei hohen Dosen Dioxin, treten die lang-fristigen Wirkungen schon bei geringen Dosen auf. Dabei sind vier wesentli-che Wirkungszusammenhänge zu unterscheiden: Immunsupprimierende Wir-kung, Promotorwirkung (den Krebs unterstützende Wirkung), Kanzero-gene Wirkung und Mutagene Wirkung.

Weit unterhalb der Dosen, bei denen Dioxine akut giftig sind, wirken sie als Suppressoren für das Immunsystem. Dies bedeutet, dass das Immunsystem gehemmt wird und Krankheitserreger nicht oder nur unzureichend an-gegriffen werden. Diese Wirkung tritt schon bei 1 ng/kg Körpergewicht beim Menschen auf, also einer Menge, die weit unterhalb einer wahrnehmbaren Giftwirkung liegt.

Das Immunsystem ist ein komplexes System aus Zellen und Mediatoren, die eng miteinander wechselwirken. Dem Immunsystem kommt eine ent-scheidende Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Gesundheit eines Indi-viduums zu. Eine Suppression des Immunsystems bringt eine erhöhte Anfäl-ligkeit insbesondere für schweren Infektionen, aber auch für bösartige Erkrankungen mit sich. Andererseits führt eine inadäquate Aktivierung des Immunsystems zum Auftreten von Allergien und Autoimmunkrankheiten.

In Bezug auf bösartige Erkrankungen wirkt Dioxin in diesen niedrigen Dosen in erster Linie als Krebspromotor. Dies bedeutet: Dioxine verstärken die Wirkung von anderen krebserregenden Stoffen. Dies geschieht durch die Lähmung von T-Helferzellen des Immunsystems und die Verstärkung von Ablesefehlern. Darüber hinaus wirkt Dioxin auch primär kanzerogen, d. h. Dioxin kann auch selbst Krebs erzeugen.

Schon 1976 hat Prof. Ton That Tung in Hanoi einen Anstieg von Leber-krebs bei Menschen beschrieben, die während des Krieges von Sprühaktionen betroffen waren. Er beobachtete auch die Zunahme von Tumoren der Gebärmutter, wie Blasenmole, bzw. von bösartigen Missbildungen der he-ranwachsenden Frucht, wie Chorionepitheliom, einem sehr aggressiven Tu-mor. (Ton et al. 1980, 9 ; vgl. Fabig 1980, 4)

Beim internationalen Symposium in Ho Chi Minh Stadt im Januar 1983 über die Langzeiteffekte des Dioxins beim Menschen wurde der Zusammen-hang zwischen primärem Leberkrebs und Herbizid-Exposition hergestellt. Danach trat Leberkrebs bei Menschen, die besprüht worden waren, fünf mal so häufig auf wie bei Menschen ohne Dioxin-Kontakt. (Fabig 1983b)

In den westlichen Ländern haben inzwischen große Studien im Bereich der Grundlagenforschung die auch humankarzinogene Wirkung des 2,3,7,8-TCDD bewiesen. 1998 stufte die Internationale Krebsagentur in Lyon 2,3,7,8-TCDD als „eindeutig humankanzerogen“ ein. (Fabig 1999)

Ein weiterer Zusammenhang zu Dioxin-Exposition wurde auf dem in-ternationalen Symposium in Ho Chi Minh Stadt 1983 auch bezüglich eines komplexen Krankheitssyndroms, der Neurasthenie hergestellt, die auch bei Vietnamkriegsveteranen weit verbreitet ist. Neurasthenie ist eine allgemeine Nerven- und auch Zentralnervenschwäche mit allgemeiner Mattigkeit, Abge-schlagenheit und Depressionen, die oft erst 20 (!) Jahre nach der Vergiftung auftritt.

Die wohl schrecklichste Langzeitwirkung des Dioxins ist seine mutagene Wirkung. Schon 1970, also noch zu Zeiten des Giftkriegs, berichtete Prof. Ton That Tung beim internationalen Kongreß in Paris über Chromosomen-veränderungen und Missbildungen vietnamesischer Opfer durch Agent Oran-ge. Ton That Tung u. a. veröffentlichten 1980 im Viet Nam-Kurier Extra, vermittelt über Kalle Fabig, ihre wissenschaftliche Studie über „Das Problem der mutagenen Effekte bei der zweiten Generation nach der Einwirkung von Pflanzengiften“. Hier wurde statistisch nachgewiesen, dass die Missbildungs-rate bei den Nachkommen der Dioxin-Opfer bis zu zehn mal so hoch war wie bei der nicht betroffenen Bevölkerung: „Die ehemaligen Soldaten Vietnams, die aus den mit Herbiziden besprühten Zonen des Südens kommen [...], wei-sen deutliche Zeichen einer mutagenen (erbverändernden) Wirkung auf, die vom Vater übertragen wird [...]. Was die Art der Missbildungen angeht, so ist es unbedingt erforderlich, auf die exzessiv große Häufigkeit der Gehirnschä-den in Vietnam bei der 2. Generation hinzuweisen [...].“ (Ton et al, 1980, 9) Doch nicht nur die Anzahl der Missbildungen war drastisch angestiegen, auch die Art der Veränderungen war grotesk und schrecklich mit noch nie da gewesenen Missbildungen.

Auf dem Dioxin-Symposium in Ho-Chi-Minh-Stadt vom 13. - 20. 1. 1983 wurden zwölf wissenschaftliche Arbeiten aus Vietnam vorgestellt, die die genetischen Veränderungen der Dioxin-Opfer eindruckvoll bestätigten. In diesen Arbeiten wurde nachgewiesen, dass schwere Chromosomenverände-rungen vorlagen, sowohl zahlenmäßig als auch vom Grad der Ausprägung. Die Anzahl der Zellen mit veränderten Chromosomen lag bei den Betroffe-nen doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe. (Ton 1983, 11)

Eine weitere spezielle Langzeitwirkung sind die über Chromosomenschä-den vermittelten Fehlgeburten. Die Fehlgeburtrate stieg schon während des Krieges um das Dreieinhalbfache an und erreichte 1978, drei Jahre nach Ende des Vietnamkrieges ihren höchsten Stand mit einer viereinhalbfach höheren Anzahl als zu Beginn des Krieges. (Fabig, 1983a)

Schrecken ohne Ende

Die Vererbung der dioxin-bedingten genetischen Schäden hat inzwischen die 4. Generation erreicht. Die Urgroßeltern dieser Neugeborenen waren im Krieg mit Dioxin kontaminiert worden. Es ist davon auszugehen, dass auch die folgenden Generationen aus dieser Ursache heraus von Erbschäden, Missbildungen und Krankheiten betroffen sein werden.

Die giftigen Substanzen zerstörten viele Pflanzen, Millionen von Hektar Wald (44 Prozent des Waldbestandes), 40 Prozent der Mangrovenwälder, und führten zu Störungen des ökologischen Gleichgewichts. Mehrere Tierar-ten und Pflanzen verschwanden aus der Region. Es kam zu riesigen Verlusten in der Landwirtschaft (43 Prozent der Ackerfläche) und der Nutzholzproduk-tion. Als eine natürliche Folge davon haben Überschwemmungen, Erosion und Dürreperioden zugenommen und bedrohen damit die Lebensgrundlage der Vietnamesen.

Dioxin ist im Boden sehr stabil und beständig. Es zersetzt sich erst ab Temperaturen um von über 800 Grad Celsius. Noch immer sind zahlreiche "hot spots" in Vietnam bekannt, Bezirke in denen nach über 30 Jahren noch immer eine starke Kontamination der Böden und Nahrungsmittel feststellbar ist.

Vietnamesische Wissenschaftler fanden erhöhte Dioxinwerte in Boden-, Pflanzen-, Tier- und Muttermilchproben. Dioxin findet sich in allen Ab-schnitten der Nahrungskette. Es fanden sich Chemikalienrückstände mit Kon-zentrationen weit über eine Million ppt an TCDD im Boden. Eine Million ppt Dioxin im Boden bedeutet eine extrem hohe Verseuchung. In Europa wurden in stark verseuchten Gebieten Höchstwerte von 100 000 ppt gemes-sen. Der Grenzwert, bei dem ein Gebiet abgesperrt und umfassende Gesund-heits-Analysen gemacht werden müssten, liegt bei 1 000 ppt.

In der Region von Bien Hoa beispielsweise, in der die US-Streitkräfte während des Vietnam-Kriegs große Stützpunkte unterhielten, stellten die Forscher einen um den Faktor zehn erhöhten Dioxin-Wert im Blut von Er-wachsenen und Kindern fest. Die durchschnittliche Dioxin-Konzentrationen im Blut der Einwohner von Bien Hoa liegt bei 200 ppt. Als Vergleich dazu: der durchschnittliche Europäer hat 20 ppt im Blut. (Westerhoff 2003)

Die Vernichtung des ökologischen Gleichgewichts der betroffenen Regio-nen, die chronische Vergiftung der Kreisläufe, insbesondere der Nahrungs-kette und damit der dort lebenden Menschen, und die Beschädigung der Fortpflanzungsfähigkeit und -qualität entspricht dem Begriff des Ökozids. Die planmäßige Vernichtung der Umwelt und Lebensgrundlagen war ein Krieg gegen die Zukunft der Menschen in dieser Region. Dies hat Millionen Menschen und ihren Nachkommen Tod, Erkrankung und Verlust des Fami-lienglücks gebracht und sie zu einem Leben in Armut und Not verdammt.

Angesichts der Ignoranz und des Zynismus der US-Verantwortlichen ist es um so wichtiger, den Opfern dieses Verbrechens materielle und moralische Hilfe zu leisten und das Land bei der Überwindung der schwerwiegenden Folgen der giftigen Chemikalien zu unterstützen.

Quellen und Literatur
  • Fabig, Karl-Rainer, 1980: Interview mit Kalle Fabig. In: Viet Nam Kurier Extra Febr. 1980 [Sonderausgabe], Düsseldorf, S. 3-5 Fabig, Karl-Rainer, 1983a: Auswirkungen des chemischen Kriegs in Vietnam, Typoskript im Besitz des Verfassers
  • Fabig, Karl-Rainer, 1983b: Kriegswunden für 100 Jahre. In: Deutsche Volkszeitung Nr. 8, 24. Februar 1983
  • Fabig, Karl-Rainer, 1999: Dioxin-Forschung in Vietnam. In: Zeitschrift für Umweltmedizin 30, 5, S. 276-279
  • Fabig, Karl-Rainer, 2003: Betr. Dioxin – eine neue Rechnung. In: Viet Nam Kurier 25, 2, S. 25-31 (abgedruckt in diesem Band)
  • Goldmann, Paul J., 1973: Schwerste akute Chlorakne, eine Massenintoxikation durch 2,3,6,7-Tetrachlordibenzodioxin. In: Der Hausarzt 24, 4, S. 149-152 Grümmer, Gerhard, 1971: Völkermord mit Herbiziden, Berlin
  • Jaeggi, Peter, 2000: Als mein Kind geboren wurde, war ich sehr traurig, Basel
  • Lange, Regina, 2003: Das Erbe von Agent Orange. In: Amatom Nr. 16, Ausgabe 11/03 (online-Artikel)
  • Russell, Betrand/Sartre, Jean-Paul, Hrg., 1969: Das Vietnam-Tribunal II oder die Verurteilung Amerikas, Reinbek
  • Ton That Tung, [et al.], 1980: Das Problem der mutagenen Effekte bei der zweiten Generation nach der Einwirkung von Pflanzengiften. In: Viet Nam Kurier Extra Febr. 1980 [Sonderausgabe], Düsseldorf, S. 6-11
  • Ton Duc Lang, 1983: Die Auswirkungen des chemischen Krieges auf Menschen. In: Viet Nam Kurier 7, 2, S. 10-13
  • Westerhoff, Nikolas, 2003: Kriegswaffe Umwelt. In: Freitag 16, 11. 04. 2003

Aus: Anita Fabig und Kathrin Otte (Hrsg.): Umwelt, Macht und Medizin. Zur Würdigung des Lebenswerks von Karl-Rainer Fabig
VERLAG WINFRIED JENIOR, Redaktion: Margarete Tjaden-Steinhauer, Karl Hermann Tjaden
325 S., brosch., € 18,- (ISBN: 978-3-934377-24-0)

Preis bei Subskription (über den Buchhandel oder den Verlag)
bis 15. Mai 2007: € 15,-

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