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Agent Orange wirkt noch heute

Der Vietnamkrieg der USA fordert selbst 36 Jahre nach seinem Ende noch Opfer

Von Stefan Kühner *

Mitte Juni 2011 begannen vietnamesische Spezialisten in voller Schutzkleidung auf dem ehemaligen US-Militärflughafen Da Nang mit der Räumung von Blindgängern und anderen Kampfmitteln. Die Arbeit ist doppelt gefährlich. Denn das Gelände ist nicht nur mit Granaten und Minen aus dem »amerikanischen Krieg« gespickt, wie der Vietnamkrieg der USA hier genannt wird, es ist auch in hohem Maße dioxinverseucht. Die Beseitigung der Kampfmittel ist Voraussetzung dafür, dass danach das Erdreich entgiftet werden kann.

Da Nang zählt zu den drei größten »Dioxin-Hotspots« in Vietnam. So werden die Orte genannt, an denen die US Air Force ab 1961 Agent Orange lagerte und in Flugzeuge pumpte, die das Gift über Wälder und Felder versprühten. Nach Angaben kanadischer Spezialisten liegen die Messwerte auf dem Flughafenareal in Da Nang mehrhundertfach über international akzeptierten Limits.

Dem Beginn der Bodensanierung in Da Nang gingen zehnjährige Verhandlungen zwischen Vietnam und den USA voraus. Im Ergebnis wird das Projekt gemeinsam von USAID, der US-amerikanischen Institution für Entwicklungshilfe, und dem vietnamesischen Verteidigungsministerium getragen. Ein reichlich später, kleiner Schritt der Wiedergutmachung.

Begonnen hatte die systematische Dioxinvergiftung Vietnams vor exakt 50 Jahren. Am 10. August 1961 versprühte die US-Luftwaffe erstmals Pflanzenvernichtungsmittel über Vietnam. Die Operation unter dem Codenamen »Ranch Hand« (etwa: Erntehelfer) verfolgte das Ziel, die dichten Wälder zu zerstören, in denen die vietnamesische Befreiungsfront ihr Rückzugsgebiet hatte, und Ernten zu vernichten, um den Kämpfern und der sie unterstützenden Bevölkerung die Nahrung zu nehmen.

Betroffene schweigen nicht länger

Das US-Militär bezeichnete die Herbizide nach den Farben der Banderolen, mit denen die Behältnisse versehen waren: Weiß, Blau und Orange. Das meistverwendete Gift hatte orangefarbene Banderolen. Es enthielt unter anderem Dioxin. Insgesamt wurden ca. 75 bis 80 Millionen Liter Herbizid versprüht, nach 1965 vor allem nahe den Grenzen zu Kambodscha und Laos und nördlich von Saigon (heute Ho-Chi-Minh-Stadt).

Getroffen wurden Pflanzen, Tiere – und Menschen. Zu den unmittelbaren Folgen gehörten Allergieschocks, Erbrechen, Durchfälle, Atembeschwerden, Blutungen der Schleimhäute – nicht selten mit Todesfolge. Bei Schwangeren kam es vermehrt zu Fehlgeburten.

Das Leiden dauert bis heute an. In Vietnam gibt es etwa vier Millionen Agent-Orange-Opfer, betroffen sind aber auch Soldaten aus den USA, Südkorea und Kanada, die am Krieg beteiligt waren. Die USA-Regierung legte nach langen Auseinandersetzungen eine Liste von Krankheiten auf, die als Folgen des Kontakts mit Agent Orange anerkannt sind, darunter verschiedene Arten von Krebs. Wer in Vietnam eingesetzt war und an diesen Krankheiten leidet, erhält öffentliche Leistungen.

Die wohl schrecklichste Langzeitwirkung des Dioxins ist indes seine genverändernde Wirkung. Bilder von Kinder und Erwachsenen mit fehlenden Gliedmaßen, deformierten Schädeln und anderen Missbildungen gingen um die Welt. In Vietnam gehören die jüngsten Opfer zur Generation der Enkel von Kriegsveteranen.

Auch neue Vergiftungen sind noch nicht ausgeschlossen. An den »Hotspots«, ehemaligen Lagerflächen oder Absturzstellen von Sprühflugzeugen, treten immer noch extrem hohe Verseuchungswerte auf – wie um die Flughäfen bei Da Nang und Bien Hoa.

In den 80er und 90er Jahren verfügte Vietnam nicht über die medizinischen und technischen Mittel, um körperlich und geistig schwer behinderten Kindern und Jugendlichen das Leben zu erleichtern. Krankenhäuser und Kliniken waren völlig unzureichend ausgerüstet und erhielten auch kaum internationale Hilfe. Erst 1998 entstand unter dem Schirm des vietnamesischen Roten Kreuzes das Komitee zur Unterstützung der Agent-Orange-Opfer. Fünf Jahre später bildete sich die Opfervereinigung VAVA. Sie vertritt die Interessen der Betroffenen und organisiert Benefizveranstaltungen.

Weltweite Beachtung fand eine Klage vietnamesischer Opfer gegen die Chemieunternehmen, die einst die Herbizide hergestellt und damit riesige Gewinne erwirtschaftet hatten: Dow Chemical Co, Monsanto Co und 35 andere Unternehmen. Die Verfahren zogen sich über fünf Jahre durch alle Instanzen, bis der Oberste Gerichtshof der USA die Klage Ende Februar 2009 letztinstanzlich zurückwies – und die Opfer damit neuerlich brüskierte. Zum Schweigen wurden die Betroffenen jedoch nicht gebracht. Sie erfuhren weltweit Solidarität.

Der Appell Daniel Ellsbergs

50 Jahre nach Beginn der Sprühaktionen in Vietnam ist das Problem der Zerstörung menschlicher Gesundheit und der Umwelt durch Kriege ganz und gar nicht Geschichte. Als die USA kürzlich die kompletten »Pentagon-Papiere« freigaben, meldete sich Daniel Ellsberg zu Wort. Er hatte diese Papiere vor 40 Jahren – sieben Jahre, nachdem sie verfasst worden waren – in die Öffentlichkeit gebracht und die Lügen der USA-Regierungen über den Krieg in Vietnam entlarvt. Im Juli 2011 rief Ellsberg verantwortungsbewusste Personen auf, die Wahrheit über die gegenwärtigen Kriege in die Öffentlichkeit zu tragen: »Warten Sie nicht, bis ein neuer Krieg in Iran begonnen hat, bis weitere Bomben in Afghanistan, in Pakistan, Libyen, Irak oder Jemen gefallen sind. Warten Sie nicht, bis weitere Tausende gestorben sind, bevor Sie an die Presse und an den Kongress gehen, um die Wahrheit mit Dokumenten zu sagen, die Lügen und Verbrechen enthüllen.«

Hilfsaktionen für Agent-Orange-Opfer
  • Freundschaftsgesellschaft Vietnam, Konto 1160501, BLZ 3701005, Postbank Köln
  • Solidaritätsdienst-international e. V. (SODI), Konto 10 20 100, BLZ 100 205 00, Bank für Sozialwirtschaft
Bitte jeweils Stichwort "Agent Orange Opfer" angeben

* Aus: Neues Deutschland, 10. August 2011


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