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Blutiger Terror

Vor 80 Jahren: Ende der Kämpfe zwischen der französischen Kolonialarmee und den zentralvietnamesischen Sowjets

Von Gerhard Feldbauer *

Im August/September 1931 gingen in den Provinzen von Nghe An und Ha Tinh (als Nghe Tinh zusammengefaßt) in Zentralvietnam die bewaffneten Kämpfe der vietnamesischen Sowjets gegen die Kolonialmacht zu Ende. Die vietnamesischen Räte entstanden im Verlauf eines Bauernaufstandes, der im Herbst 1930 begonnen hatte.

Noch schlimmer als die arbeitenden Menschen in den imperialistischen »Mutterländern« wurden 1929/30 die kolonial unterdrückten Völker von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise erfaßt. So geschah es auch dem mit der Ökonomie Frankreichs verbundenen Vietnam, wo in Annam (Zentralvietnam) der Hunger über 100000 Menschen dahinraffte. In seinem Buch »Les Paysans du Delta tonkinois« (Paris 1936) schrieb der französische Geograf Pierre Gourou, daß die hungernden annamitischen Bauern Jagd auf Insekten machen, die sie dann verzehrten, daß sie Heuschrecken, Grillen, Eintagsfliegen sammelten, auch Raupen und Bambuswürmer, und nicht davor zurückschreckten, die Puppen der Seidenraupe zu essen.

Kommunisten führend

Arbeiter, Bauern, Teile des Kleinbürgertums und der Intelligenz setzten sich gegen die ungeheure Verelendung zur Wehr. Im März 1930 begannen auf den Kautschukplantagen in Südvietnam und in fast allen Industriegebieten wochenlange Streiks. Kundgebungen und Demonstrationen erfaßten 25 der 40 Provinzen des Landes. Am 12. September 1930 demonstrierten in mehreren Kreisstädten in Nghe An und Ha Tinh Arbeiter und Bauern für höhere Löhne, Steuer­erleichterungen, Pachtsenkungen, die Rückgabe von Gemeindeländern an die Bauern und die Verteilung von Reis an die Hungernden. Die Kolonialmacht setzte Truppen gegen sie ein und ließ die Versammlungsplätze von Flugzeugen bombardieren. Über 500 Menschen fanden den Tod, mehr als 300 wurden verwundet, Tausende Häuser zerstört. Der »Hunger auf Reis« trieb nunmehr, wie selbst das großbürgerliche Echo annamite zugeben mußte, die bis aufs äußerste erbitterten Bauern zum bewaffneten Aufstand gegen die Kolonialmacht und die Feudalherren. Die Bauern stürmten Gefängnisse und befreiten die Gefangenen, zündeten Kreis- und Gemeindeverwaltungen sowie andere öffentliche Einrichtungen an, verbrannten Steuerunterlagen, Pfandbriefe und Schuldscheine. Unter dem Ansturm der Bauern flohen die Mandarine und Notabeln in die Provinzhauptstädte; der kolonial-feudale Machtapparat in den Landgemeinden zerfiel. Die französische L’Opinion publique schrieb im Dezember 1930, das »gesamte Gebiet ist vom französischen Protektorat abgefallen«. Es handele sich längst »nicht mehr um einen einfachen Putsch oder Gewaltstreich, sondern um eine tatsächliche Revolution«. In beiden Provinzen sei »die Sowjetmacht errichtet« worden, die »auf dem Lande ihren eigenen Verwaltungsapparat organisiert«.

Obwohl für einen erfolgreichen Verlauf die Bedingungen nicht gegeben waren, stellte sich die gerade erst am 3. Februar 1930 gegründete Kommunistische Partei an die Spitze der spontan ausgebrochenen Erhebung und gab deren Kampf einen organisierten und zielgerichteten Charakter. Vom Zuspruch, den ihre Haltung erhielt, zeugte, daß ihre Mitgliederzahl von 211 am Gründungstag während der revolutionären Massenkämpfe bis zum März 1931 auf 2400 anwuchs. Dabei ist zu sehen, daß in dieser Zeit Hunderte Mitglieder den Tod fanden. Hätte die Partei im Herbst 1930 die Bauern im Stich gelassen, wären sie in der Folgezeit kaum zu zuverlässigen Verbündeten der Arbeiter in der Augustrevolution von 1945 geworden.

Unter Vorsitz Ho Chi Minhs trat im Oktober 1930 in Saigon das Zentralkomitee zusammen und beschloß, die Leitung zu übernehmen und das ZK-Mitglied Pho Nguyen Sac in das Aufstandsgebiet zu entsenden. Im ganzen Land organisierte die Partei eine Bewegung zur Unterstützung von Nghe Tinh. Mitglieder und Funktionäre der Partei, Revolutionäre aus allen Provinzen gingen dorthin und nahmen am Aufstand teil. Aus Vinh, dem industriellen Zentrum des Aufstandsgebietes, begaben sich 500 Arbeiter in die Gemeinden und unterstützten die Bauern beim Aufbau revolutionärer Machtorgane. Der Aufstand dehnte sich auf ein etwa 12000 Quadratkilometer umfassendes Gebiet mit einer Bevölkerung von 1,5 Millionen Menschen aus. In zwölf von 20 Kreisen entstanden in der Hälfte der insgesamt 800 Gemeinden von Nghe Tinh Sowjets. Darüber hinaus übten in zahlreichen weiteren Gemeinden die Leitungen der auf Initiative der KPV gebildeten Bauernvereinigungen die Macht aus, ohne sich als Sowjets zu konstituieren.

Revolutionäre Machtorgane

In Gestalt der Sowjets entstanden zum ersten Mal in Vietnam revolutionäre Machtorgane der Arbeiter und Bauern. Sie übergaben das Gemeindeland, das Großgrundbesitzer und Feudalherren sich angeeignet hatten, an die Bauern, schränkten die Ausbeutungsmöglichkeiten der Großgrundbesitzer ein, verteilten aus deren Reserven Reis an die Hungernden, leiteten politische und sozialökonomische Reformen ein und bildeten Rote Garden zur Verteidigung ihrer Sowjetmacht.

Die Kolonialisten wüteten gegen die Sowjets mit einem blutigen Terror. Ihm fielen, wie die Humanité im März 1931 berichtete, Zehntausende zum Opfer, Dutzende Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, Tausende Häuser niedergebrannt. Trotzdem dauerte es fast ein Jahr, bis es den Kolonialtruppen gelang, den Widerstand der Aufständischen zu brechen. Im August 1931 befanden sich noch etwa 50 Gemeinden in ihren Händen. Die letzten Gefechte fanden im Dezember 1931 statt. Die in Saigon weilenden Mitglieder des Zentralkomitees waren bereits im April/Mai der Polizei in die Hände gefallen. Der erste Generalsekretär, Tran Phu, starb an den Folgen der grausamen Folterungen im April 1931. Ho Chi Minh, der nach China entkam, wurde in Vinh in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

In den Kämpfen um die vietnamesische Rätemacht bewies die junge KP ihre Fähigkeit, den Kampf für die nationale und soziale Befreiung zu führen. Die vietnamesischen Kommunisten blieben auch in der Periode des Rückzugs der revolutionären Sache treu, zeigten beispielloses Heldentum und Opferbereitschaft. Bis zur letzten Stunde der Sowjets standen sie mit der Waffe in der Hand an der Spitze des Kampfes. Die meisten von ihnen besiegelten ihre Treue zur Revolution mit dem Tode. Unter ihnen befand sich auch der Führer der Rätebewegung, Pho Nguyen Sac, der am 3. Mai 1931 verhaftet worden war.

Dieser Heroismus trug dazu bei, daß der Kampf der vietnamesischen Sowjets, seine Lehren und Erfahrungen, in den folgenden Jahren einen tiefen Widerhall in der nationalen Befreiungsbewegung fanden, zu einem unvergänglichen und entscheidenden Bestandteil ihres progressiven Ideengutes und damit zu einer Voraussetzung des Sieges in der Augustrevolution 1945 wurden.

* Aus: junge Welt, 10. September 2011


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