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Bedeutsamer Etappensieg

Geschichte. Am 2. September 1945 proklamierte Ho Chi Minh die Demokratische Republik Vietnam. Japan ist besiegt, Frankreich und USA verstärkten ihren Einsatz

Von Rainer Werning *

Im Herbst 1940, als die japanischen Faschisten in Indochina eindrangen, um es als Stützpunkt im Krieg gegen die Alliierten zu benutzen, verrieten die französischen Kolonialherren unser Land, gaben es in die Hände der Eroberer und kapitulierten vor Japan. Seitdem hat unser Volk unter dem doppelten japanisch-französischen Druck zu leiden. Das verschlechterte die ohnehin jammervolle Lage des Volkes. Ende 1944 und Anfang 1945 starben in weiten Gebieten, von Quang Tri im Süden bis zum Norden des Landes, über zwei Millionen unserer Landsleute an Hunger. Am 9. März 1945 entwaffneten die Japaner die französischen Truppen. Und wieder sind die französischen Kolonialherren geflohen, oder sie haben vor den Japanern kapituliert. So vermochten sie nicht nur nicht, uns zu ›schützen‹, sondern sie verkauften im Gegenteil unser Land im Laufe von fünf Jahren zweimal an die Japaner. (...) De facto hat unser Land im Herbst 1940 aufgehört, französische Kolonie zu sein; es wurde zu einer japanischen. Nach der Kapitulation Japans stand das ganze Volk unseres Landes auf, nahm die Macht in seine Hände und gründete die Demokratische Republik Vietnam. So haben wir eigentlich unsere Freiheit und Unabhängigkeit den Japanern und nicht den Franzosen entrissen.« So heißt es in der Unabhängigkeitserklärung, die der Revolutionsführer Ho Chi Minh am 2. September 1945 in Hanoi anläßlich der Gründung der Demokratischen Republik Vietnam verkündete.

Japan entwickelte sich um die vorletzte Jahrundertwende zum Hegemon in dieser Weltregion. »Der Kaiser ist heilig und unverletzlich«, hieß es in der japanischen Verfassung von 1890, und er sei legitimiert, als direkter Nachfahre der Sonnengöttin Amaterasu mit unbeschränkter Machtfülle zu regieren. Als Souverän des Landes führte der Tenno Exekutive und Legislative, aber auch Heer und Marine. Nach zwei siegreichen Kriegen gegen China und Rußland in den Jahren 1894/95 beziehungsweise 1904/05 war Japan zur regionalen Großmacht aufgestiegen. Im September 1931 besetzte die in der Mandschurei stationierte japanische Kwantung-Armee mehrere Großstädte in der Region, die als Puffer gegenüber der Sowjetunion strategische Bedeutung hatten. Im Juli 1937 ließ schließlich ein inszenierter Angriff auf eine japanische Militäreinheit bei Peking den Krieg gegen China an allen Fronten eskalieren.

Unter diesen Bedingungen erlebte Japan zwischen 1930 und 1940 ein phänomenales Wachstum seiner Wirtschaft. Die Industrieproduktion stieg um das Fünffache, die Stahlproduktion von 1,8 auf 6,8 Millionen Tonnen pro Jahr, allein 1939 verließen 5000 neue Kampfflugzeuge die Montagehallen. Bei Handelsschiffen lag die Tonnage 1937 bei 405195 Tonnen und hatte sich damit im Vergleich zu 1931 mehr als vervierfacht. Die Militärausgaben wuchsen gleichfalls überproportional. Gemessen am Gesamthaushalt Japans erreichten sie 1938 – ein Jahr nach der Invasion gegen China – einen Anteil von 75,4 Prozent. Schließlich verdoppelte sich von 1936 bis 1941 die Zahl der Wehrpflichtigen, so daß am 1. Januar 1942 sechs Millionen Soldaten unter Waffen standen.

Japans Kriegsökonomie erforderte die Sicherung strategisch wichtiger Rohstoffe, die zunächst aus China und seiner Kolonie Korea bezogen wurden. Für einen geregelten Ölnachschub war man auf die Felder in Niederländisch-Indien (heute Indonesien) und auf Sumatra und Borneo angewiesen, da die USA und Großbritannien 1941 einen Ölboykott gegen Tokio verhängt hatten. Gleichzeitig hatte Frankreichs Kolonial­administration Indochina widerstandslos den Japanern überlassen. Zwar blieben französische Kolonialbeamte in Vietnam, Laos und Kambodscha, doch tonangebend war fortan das japanische Militär. Damit kontrollierte das expansionssüchtige Kaiserreich nicht nur eine wichtige Rohstoffregion (Kautschuk, Kohle, Mangan, Bauxit, Nickel) – Indochina und Thailand wurden quasi Verbündete, um den weiteren militärischen Vormarsch der kaiserlichen Truppen in Südostasien zu flankieren. Begründet wurden diese Feldzüge mit der »größeren ostasiatischen gemeinsamen Wohlstandssphäre«, die der Tenno als »Licht, Beschützer und Führer Asiens« im »Kampf gegen den weißen Kolonialismus und Imperialismus« entfesselt hatte.

Siegreiche Viet Minh

In Vietnam übte seit März 1945 die Kaiserliche Japanische Armee die eigentliche politische Macht aus. Sie erklärte kurzerhand die »Unabhängigkeit« des Landes und setzte Kaiser Bao Dai als Oberhaupt dieses Vasallenstaates ein. Bis dato hatte die im Mai 1941 formierte Viet Minh (Liga für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams), die als Bündnis antikolonialer, nationalistischer und kommunistischer Kräfte sowohl gegen die Franzosen als auch gegen die Japaner kämpfte, lediglich die schwer zugängliche Dschungelregion entlang der chinesischen Grenze kontrolliert. Das änderte sich jedoch mit der französischen Entmachtung; in rascher Abfolge konnte sie ein halbes Dutzend weitere Provinzen unter ihre Kontrolle bringen. Erfolgreiche Guerillaaktivitäten und die Erstürmung von Reislagern demoralisierten zunehmend eine Besatzungsmacht, die unter dem überwiegenden Teil der vietnamesischen Bevölkerung zutiefst verhaßt war.

Es war ein kongeniales politisches Quartett in Gestalt von Ho Chi Minh, Pham Van Dong, Truong Chinh und Vo Nguyen Giap, das als Führungsspitze der Kommunistischen Partei Vietnams über herausragende organisatorische und militärische Fähigkeiten verfügte und stets darauf bedacht war, eine breitestmögliche Einheitsfront im Kampf gegen ihre politischen Gegner herzustellen. Über die vier schrieb Gabriel Kolko in seinem fulminanten Opus »Anatomy of a War« von 1985: » (...) von dieser Zeit an stiegen sie zu einer kollegialen, kooperativen und kreativen Führung auf, die, frei von Problemen des Egoismus, in den folgenden vier Jahrzehnten für eine bemerkenswerte Kontinuität sorgte. Deren Harmonie bildete eine Urquelle für die Stärke einer Partei und war ein wesentlicher Grund dafür, daß diese nicht – wie im Falle anderer marxistisch-leninistischer Parteien – von Ränkespielen und Führungskämpfen heimgesucht wurde.«

Am 14. August 1945, wenige Tage nach den Atombombenabwürfen auf die Städte Hiroshima und Nagasaki, nahm der japanische Kaiser Hirohito seine Kapitulationsrede auf, die am nächsten Tag im Radio ausgestrahlt wurde. Am 2. September kam es auf dem in der Sagami-Bucht vor Tokio ankernden US-Schlachtschiff USS »Missouri« offiziell zur Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde. Japans politische und militärische Führung, die Ost-, Südostasien und zahlreiche Inseln im Pazifik mit Krieg und Zerstörung überzogen hatte, mußte fortan den Befehlen des Siegers USA gehorchen – widerwillig und mit Abscheu, wie die Gesten des Oberbefehlshabers der japanischen Armee, General Umezu Yoshijiro, verrieten. Bevor er zusammen mit Außenminister Shigemitsu Mamoru seine Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde setzte, schnäuzte er sich mehrfach und laut – ein in Ostasien zutiefst unmanierliches Benehmen.

Jubelfeiern prägten am 15. August 1945 in zahlreichen Städten Asiens das Bild. Das japanische Kolonialjoch war abgeschüttelt, und die früheren westlichen Kolonialherren hatten ihren Nimbus der Unbesiegbarkeit eingebüßt. Grund genug für die vielschichtigen – bewaffneten und politischen – antikolonialen Organisationen, Partisanengruppen und Parteien, auf ein Ende äußerer Bevormundung zu drängen und die Unabhängigkeit ihrer Länder anzustreben. Denen das als erste gelang, waren Indonesien am 17. August (siehe jW-Geschichte vom 21./22.8.2010) und Vietnam am 2. September. Just an diesem Tag, da Japan seine Kapitulationsurkunde unterschreiben mußte, verkündete der charismatische Ho Chi Minh die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Vietnam (DRV).

Die Viet Minh hatte geschickt ein Machtvakuum genutzt und auf die Unterstützung der Alliierten gesetzt. Die Anfangspassagen der Unabhängigkeitserklärung orientierten sich stark am US-amerikanischen Vorbild. Doch die Kolonialmacht Frankreich kämpfte hartnäckig um die Wiederherstellung ihrer politischen und ökonomischen Herrschaft. Seine Niederlage in der Schlacht von Dien Bien Phu im Frühjahr 1954 und weltweite Proteste gegen den Krieg führten am 20./21. Juli zur Unterzeichnung der Genfer Indochina-Abkommen. Zwar beendeten diese vorerst die Kampfhandlungen, brachten aber nicht die Unabhängigkeit und Einheit Vietnams. Die sollten allgemeine, freie Wahlen im Jahre 1956 besiegeln. Bis dahin wurde entlang des 17. Breitengrads eine militärische Demarkationslinie – in etwa vergleichbar der Jahre zuvor in Korea errichteten Demarkationslinie entlang des 38. Breitengrads – gezogen, die das Land faktisch teilte. Während Hanoi auf die Durchführung der in den Genfer Abkommen festgelegten allgemeinen Wahlen drängte, lehnte Saigon diese rundweg ab – aus Furcht vor einem überwältigenden Wahlsieg Ho Chi Minhs. Zu Beginn der 60er Jahre war die Chance einer friedlichen Vereinigung vertan und der (inner-)vietnamesische Konflikt durch die zunehmende West-Ost-Blockkonfrontation internationalisiert worden.

Teilung und erneut Krieg

In der auf Betreiben Frankreichs und der USA Ende Oktober 1955 als Gegenregierung zur DRV geschaffenen Republik Vietnam (Südvietnam) traten die USA immer tiefer in die Fußstapfen der japanischen und französischen Kolonialisten. Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen (ein vermeintlicher Angriff nordvietnamesischer Patrouillenboote auf einen US-amerikanischen Zerstörer in internationalen Gewässern, der Anfang August 1964 die sogenannte Tongking-Affäre auslöste) provozierte die US-Regierung einen Krieg, der in Vietnam bis heute als »Amerikanischer Krieg« und im Ausland gemeinhin als Vietnamkrieg beziehungsweise »Zweiter Indochinakrieg« bezeichnet wird.

In Washington grassierte ein paranoider Antikommunismus, der die politische Führung und Militärstrategen gleichermaßen auf die kategorische »Domino-Theorie« fixierte. Demnach galt es, in Vietnam unbedingt Stärke und Verantwortung für seinen dortigen Verbündeten zu demonstrieren, andernfalls überließe man das Land »den Kommunisten«. Und fiele erst einmal Vietnam, würde das eine Kettenreaktion auslösen und die Nachbarländer – Dominosteinen vergleichbar – in rascher Abfolge »kommunistisch« werden lassen. Damit, so die Horrorvorstellung der US-amerikanischen Regierungen in den 60er und frühen 70er Jahren, wäre die Region Südostasien ein für allemal »verloren« und ein erweiterter Einflußbereich der Volksrepublik China.

Die eigentlich naheliegende Vorstellung, daß mit der Gründung der DRV das Fanal eines Kampfes für Unabhängigkeit und Freiheit gesetzt und der vietnamesischen Bevölkerung endlich ein Weg aus kolonialer Bevormundung gewiesen worden war, paßte nicht in das Weltbild imperialer Kommißköpfe. Die fatale Gleichsetzung von Nationalisten mit Kommunisten, gekoppelt mit Ignoranz und arroganter Mißachtung vietnamesischer Geschichte und Kultur, ließ Washington einen Krieg verursachen, auf dessen Höhepunkt (31. Januar 1969) 1,1 Millionen vietnamesische Soldaten und Milizionäre sowie 542400 GIs gegen die nordvietnamesische Volksarmee und südvietnamesische Partisanenverbände kämpften.

In seinem Hauptartikel der Ausgabe vom 7.April 1975 räsonierte das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel über das Kriegsende und kam zu dem Fazit, daß »er außer Amerikas Reichtum (geschätzte 140 Milliarden Dollar – R.W.) auch Amerikas politische Moral schwer schädigte und über 56000 Amerikaner das Leben kostete«. »Binnen drei Wochen«, hieß es darin weiter, »krachte dieses asiatische Pseudo-Sparta zusammen, waren von (Südvietnams General– R.W.) Thieus 13 Divisionen sechs zerstoben, sah sich der Staatschef fast auf den Herrschaftsbereich des Bürgermeisters von Saigon reduziert – ein Debakel vergleichbar etwa mit dem jähen Fall Frankreichs 1940, dramatischer als die schleichende Katastrophe in Kambodscha, dessen Staatschef Lon Nol dieser Tage nach Bali entflog, ein Ergebnis überlegener Kampfmoral wie überlegener strategischer Phantasie. (...) 7,1 Millionen Tonnen Bomben hatten die Amerikaner über Vietnam abgeworfen, dreieinhalbmal soviel, wie im Zweiten Weltkrieg vom Himmel fielen. Eine Million Vietnamesen waren umgekommen, sechs Millionen verloren ihre Heimat und mußten vor den Fronten flüchten, mehr als ein Viertel des Tropenwaldes war von Bomben und Granaten zerfetzt und auf viele Jahre durch chemische Entlaubungsgifte zerstört. Selbst in Südvietnam, für das die Amerikaner den Dschungelkrieg führten, hatten die Flächenwürfe der US-Bomber zwölf Prozent der Agrarfläche zerstört; im feindlichen Norden ging fast die Hälfte der Dörfer in Flammen auf.« Der Krieg zog auch die auf Neutralität bedachten Nachbarstaaten Kambodscha und Laos in Mitleidenschaft, wo weitere massive B-52-Flächenbombardements mit Napalm Millionen Menschen zwangen, in die Städte zu fliehen.

Am 27. Januar 1973 war zwar im Abkommen von Paris das Ende eines »Krieges ohne Fronten« vereinbart worden. Doch noch zwei erbitterte Kampfjahre vergingen, bis Saigon kapitulierte und die letzten US-Staatsbürger mit Hubschraubern panisch außer Landes geschafft wurden. Wie in Korea zwei Jahrzehnte zuvor hatte ein weiterer imperialer Nachfolgekrieg des Zweiten Weltkrieges die Länder Vietnam, Kambodscha und Laos in Schutthaufen verwandelt.

* Aus: junge Welt, 2. September 2010


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