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Tödlicher Hinterhalt

Venezuela: Polizist und Motorradkurier von Heckenschützen ermordet. Generalstaatsanwältin spricht von »Krieg der vierten Generation«

Von André Scheer *

Die Gewaltwelle in Venezuela hat zwei weitere Menschenleben gefordert. In Los Ruices im Osten der Hauptstadt Caracas wurden Acner Isaac López, ein Unteroffizier der Nationalgarde – einer paramilitärischen Polizei –, sowie der Motorradkurier José Gregorio Amaris erschossen. Die Täter hatten sich in umliegenden Gebäuden versteckt und offenbar gezielt auf ihre Gelegenheit gewartet. Die tödlichen Schüsse ereigneten sich Augenzeugenberichten zufolge, als eine Gruppe von »Motorizados«, die durch Transporte und Personenbeförderung auf Zweirädern ihren Lebensunterhalt verdienen, eine Barrikade abbauen wollte, die seit mehreren Wochen eine wichtige Straße blockierte. Daraufhin wurden sie aus den umliegenden Hochhäusern von Vermummten mit Gegenständen beworfen. Die Attackierten begannen, die Wurfgeschosse zurückzuschmeißen. Als eine Gruppe der Nationalgarde am Ort des Geschehens erschien, eskalierte die Lage. Vermummte eröffneten das Feuer auf die Polizisten und Zivilisten.

Der Chef des Regionalkommandos Fünf der Nationalgarde, Manuel Quevedo, erklärte am Donnerstag (Ortszeit), seine Beamten seien inzwischen wiederholt in verschiedenen Gegenden der Hauptstadt in regelrechte Hinterhalte gelockt worden. Die Ereignisse am Donnerstag in Los Ruices seien »eine Falle« gewesen, »ebenso wie die am Vortag im Bezirk Chacao. Auch dort wurden wir mit Steinen, Flaschen und vorbereiteten Sprengkörpern erwartet, aus den Gebäuden wurde auf uns geschossen.« Hinter den Angriffen steckten kleine Gruppen, die bereits »in eine andere Phase« des Kampfes eingetreten seien.

Regierungsgegner präsentieren die Ereignisse im Internet hingegen als »brutales Vorgehen« der Sicherheitskräfte gegen die »friedlichen Bewohner« der Viertel. Auf den von ihnen ins Internet eingestellten Videos, die aus Los Ruices stammen sollen, sind jedoch keine Demonstranten zu sehen, sondern brennende Barrikaden und vorrückende Polizeieinheiten, die offensichtlich Deckung suchen. Demgegenüber zeigte das staatliche Fernsehen VTV Aufnahmen vom gleichen Tag, auf denen offensichtlich bewaffnete Vermummte zu sehen sind, die von den Hochhäusern aus die Personen auf der Straße attackieren.

Venezuelas Präsident Nicolás Maduro erklärte am Donnerstag abend in einer Fernsehansprache, es sei die Wohnung identifiziert worden, aus der die tödlichen Schüsse abgegeben worden seien. Die Verantwortlichen würden nach der vollen Härte des Gesetzes bestraft, »diese Morde werden nicht ungesühnt bleiben«. Zugleich rief er seine Anhänger auf, sich nicht provozieren zu lassen.

Einer auf der Homepage des Oppositionsbündnisses MUD zitierten offiziellen Statistik zufolge sind während der Gewaltwelle bislang 19 Menschen getötet und 300 verletzt worden. Wer diese Opfer sind, teilt die MUD nicht mit. Mindestens drei von ihnen seien erschossen worden, als sie versuchten, errichtete Barrikaden wegzuräumen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur AVN. Andere seien ums Leben gekommen, weil militante Regierungsgegner Stacheldraht über Straßen gespannt hatten, und sie mit ihren Motorrädern in diese tödlichen Fallen gefahren seien. Die Opposition spricht auf ihrer Internetseite trotzdem von einer »Protestwelle gegen die Regierung, die sich seit drei Wochen im Land entwickelt hat und die in einigen Fällen gewaltsam geworden ist«. Delsa Solórzano, Vizechefin der Oppositionspartei Un Nuevo Tiempo, behauptete, »Sicherheitskräfte des Staates« seien »damit beschäftigt, die Demonstranten zu unterdrücken«.

Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz, die die Zahl der Getöteten sogar mit 21 angab, erklärte am Donnerstag im Gespräch mit dem Fernsehsender Globovisión, Venezuela befinde sich in einem »Krieg der vierten Generation«, der durch im Internet verbreitete Gewaltaufrufe verschärft werde. Ihre Behörde habe bislang 25 Anzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen seit dem 12. Februar erhalten. 15 Beamte der Sicherheitsdienste seien in Haft genommen worden. Insgesamt seien in den vergangenen Wochen 1322 Personen im Zusammenhang mit Ausschreitungen den zuständigen Gerichten vorgeführt worden, 92 von ihnen säßen noch im Gefängnis.

* Aus: junge welt, Samstag, 8. März 2014


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