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Fünf Revolutionen

Venezuelas Präsident Nicolás Maduro will den Staatsapparat umbauen – und fängt mit seinem Kabinett an

Von André Scheer *

Unter »Revolutionen« macht es Venezuelas Präsident Nicolás Maduro nicht. In einer über alle Rundfunk- und Fernsehsender des südamerikanischen Landes ausgestrahlten Ansprache kündigte der Staatschef am Dienstag abend (Ortszeit) nicht weniger als fünf solcher Umstürze an, mit denen er die »Neugründung des venezolanischen Staates« vorantreiben will. Im Konferenzsaal des Präsidentenpalastes Miraflores zeigte sich Maduro vor zwei großen Gemälden des Nationalhelden Simón Bolívar und der venezolanischen Staatsflagge sowie mit einem Strauß roter Rosen auf dem Schreibtisch, während er mit ernster Miene in die Kameras sprach. »In der neuen Phase der Bolivarischen Revolution werden wir in einem Ensemble von Revolutionen aktiv werden, die es erlauben, in der neuen Dynamik fortzufahren und die großen Aufgaben dieses historischen Augenblicks zu erfüllen«, erklärte er nicht ohne Pathos. Die fünf grundsätzlichen Umwälzungen seien »die Produktive Ökonomische Revolution, die Revolution des Wissens, die der großen sozialistischen Missionen, die Staatspolitische Revolution und die des territorialen Sozialismus«. All diese dienten den fünf historischen Zielen seiner Regierung: der Ausweitung und Festigung der nationalen Unabhängigkeit, dem weiteren Aufbau des »bolivarischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, der Umwandlung Venezuelas in eine soziale, wirtschaftliche und politische Macht, der Entwicklung einer neuen internationalen Geopolitik sowie der Bewahrung des Lebens auf dem Planeten und der Rettung der menschlichen Gattung durch »Ökosozialismus«.

Die Ansprache des Präsidenten war in Venezuela mit Spannung erwartet worden, denn schon vor Wochen hatte Maduro eine »Erschütterung« aller Bereiche der Regierung und des Staatsapparates angekündigt. Um den Weg dafür freizumachen, hatten alle Kabinettsmitglieder ihren Rücktritt erklärt. Eine Antwort darauf aber, was sich konkret durch die fünf neuen »Revolutionen« ändern wird, blieb Maduro in seiner Ansprache schuldig. Greifbar war zunächst nur die neue Zusammensetzung seines Kabinetts. Die größte Überraschung war dabei, daß der langjährige Erdölminister Rafael Ramírez an die Spitze des Außenministeriums wechselt. Die Nominierung des als pragmatisch geltenden Fachmanns könnte darauf hindeuten, daß Maduro in den Außenbeziehungen künftig ein größeres Gewicht auf Handel und Wirtschaft legen will. Bislang dominierten international vor allem politische Solidaritätsbekundungen. So hatte Venezuelas Regierung zuletzt in einem offiziellen Kommuniqué die Annexion weiterer palästinensischer Gebiete durch Israel scharf verurteilt. Der bisherige Chefdiplomat Elías Jaua übernimmt das Ministerium »für Kommunen und soziale Bewegungen«, das vor allem für die Bekämpfung der Armut in Venezuela zuständig ist.

Symbolträchtig ist die Ernennung eines Bruders des verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez, Asdrúbal Chávez, zum neuen Minister für Erdöl und Bergbau. Die Familie des legendären »Comandante« ist zudem durch dessen Schwiegersohn Jorge Arreaza im Kabinett vertreten, der Vizepräsident bleibt. Nur sieben der 28 Ministerien werden künftig von Frauen geleitet, darunter allerdings auch politisch wichtige Ämter wie das Verteidigungsministerium. An dessen Spitze bleibt Vizeadmiralin Carmen Meléndez.

Schon vor der Rede Maduros hatten bekannte Vertreter des Regierungslagers gewarnt, eine simple Kabinettsumbesetzung werde den im Land geweckten Erwartungen nicht gerecht. So erklärte der Abgeordnete und frühere Parlamentspräsident Fernando Soto Rojas im staatlichen Fernsehen VTV, die angekündigte »Erschütterung« müsse einhergehen mit »Vorschlägen, wie wir bestimmten Situationen begegnen und wie wir diese Lage kollektiv überwinden wollen, über Methoden der Arbeit und der Leitung«. So müsse Schluß damit gemacht werden, daß Freunde und Bekannte in bestimmte Ämter gesetzt werden – »sonst sind wir verbrannt und am Ende«.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 4. September 2014


Maduros Weichenstellungen

Martin Ling über die »neue Etappe der bolivarischen Revolution« **

Selbst ohne Wirtschaftskrise wäre es ein schwerer Job: die Nachfolge von Hugo Chávez, dem über ein Jahrzehnt die Geschicke Venezuelas prägenden Präsidenten. Seit der von Chávez erwählte und von der Bevölkerung knapp gewählte Nicolás Maduro 2013 die Amtsgeschäfte übernommen hat, steht er unter Druck. Auch wenn die von der Opposition geschürten Revolten vorerst passé sind, aufatmen kann Maduro nicht. Denn das seit Jahren andauernde Kernproblem ist die extrem erdölabhängige Wirtschaft, die nun auch noch im Sinkflug begriffen ist. Die Ölabhängigkeit hat Maduro von Chávez geerbt, alle Absichten, die Wirtschaft auf ein breiteres Fundament zu stellen, sind bisher mehr oder weniger kläglich gescheitert – auch schon vor der Chávez-Ära.

Mit fünf Initiativen will Maduro nun eine »neue Etappe der bolivarischen Revolution« einleiten. Auf dem Papier liest sich das nicht schlecht, zumal die wirtschaftliche Revolution ganz oben steht. Mit viel konkretem Inhalt ist diese bisher aber nicht unterfüttert. Der Kampf gegen Schmuggel ist fraglos wichtig, doch der Schmuggel ist nur ein Symptom für fehlgeleitete Preisanreize. Ein Liter Benzin kostet – kein Witz – etwa ein Eurocent. Solange die Preise in Venezuela so krass verzerrt sind, wird eine produktive Revolution ausbleiben. Von einem Konzept, das sich stufenweise, ohne Preisschocks, in Richtung der Marktpreise bewegt, ist noch nichts zu sehen. Das muss sich ändern.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 4. September 2014 (Kommentar)

Gebet des Tages: Chávezunser

Helle Aufregung in Venezuelas Oppositionsmedien, und auch bei der dpa: Venezuelas Sozialisten beten jetzt zu Hugo Chávez! Ein Gebet an den im vergangenen Jahr verstorbenen Präsidenten sei am Wochenende auf dem Parteitag der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) offiziell gebilligt worden. Es sei ähnlich aufgebaut wie das katholische »Vaterunser« und beginne mit den Zeilen »Chávez unser, der du bist im Himmel …«

Gemach, gemach … Kommen wir doch erst einmal wieder runter auf den festen Erdboden. Der Parteitag der PSUV fand bereits Ende Juli statt. Offiziell wird er allerdings noch mit einigen Tagungen fortgesetzt, so am Wochenende mit einem »Workshop zur Gestaltung der sozialistischen Bildung« in Caracas. Dort verlas eine Delegierte, María Uribe aus dem Bundesstaat Táchira, ihren Vorschlag für ein »Gebet« an Chávez: »Spende uns Licht, damit wir nicht der Versuchung des Kapitalismus erliegen.« Die Anwesenden spendeten höflichen Applaus und stimmten in ihr »¡Viva Chavez!« ein. Eine Provinzfunktionärin halt, die auch mal auf der großen Bühne auftreten wollte …

Ob Gebete und eine messianische Verehrung für Chávez nun tatsächlich eine gute Grundlage für »sozialistische Bildung« sind, sei mal dahingestellt. Tatsache aber ist, daß dieses Phänomen in Venezuela absolut nichts Neues ist. Schon, als Chávez nach seinem Putschversuch 1992 im Knast saß, wurde ihm eine ganz ähnliche Eloge in die Zelle geschmuggelt: »Chávez unser, der du bist im Gefängnis«.

Auch wenn die Volksreligiosität in Venezuela manchmal merkwürdige Blüten treibt: Hier sind wohl eher katholische Kirchgänger ausgerastet, weil jemand die Dogmen ihres Vereins auf eigene Weise interpretiert hat.

(scha)

Aus: junge Welt, Mittwoch 3. September 2014




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