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Venezuela: Die Vergehen des Hugo Chávez

Ein Staatsmann der dritten Welt schafft sich mit dem Kampf um einen ordentlichen Staat lauter Feinde in der einheimischen Oligarchie und in der ersten Welt

Im Folgenden dokumentieren wir eine gekürzte Fassung eines Aufsatzes über Venezuela, der in der Zeitschrift "Gegenstandpunkt" (2/2002) erschienen ist.

Von Theo Wentzke

Als im April der Staatspräsident von Venezuela, Hugo Chávez, nach mehrtägigen Streiks und Demonstrationen von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften durch das venezolanische Militär festgenommen und abgesetzt worden ist, wurde das hierzulande zunächst befriedigt zur Kenntnis genommen. Das exotische Intermezzo Chávez wäre sicher auch bald wieder zu den Akten gelegt worden, wenn denn seine Ablösung geklappt hätte. Statt dessen aber kehrte »die größte Nervensäge Lateinamerikas« (Der Spiegel) ins Amt zurück, weil seine Anhänger noch massenhafter für ihn demonstrierten als seine Gegner gegen ihn und sich wichtige Teile des Militärs auf seine Seite schlugen. Seine Gegner lassen sich aber dadurch nicht beeindrucken und arbeiten weiter auf seinen Sturz hin. So wurde letzte Woche der Oppositionsführer Alejandro Peńa Esclusa verhaftet, nachdem er in einer Zeitungsanzeige das Militär zum »Handeln« gegen Chávez aufgefordert hatte.

Die Gegner des venezolanischen Präsidenten im In- und Ausland titulieren ihn abwechselnd als Psychopathen, Populisten, durchgeknallten Nationalisten oder kubafreundlichen Kommunisten. An seinem Programm kann es nicht liegen, daß der Mann eine so schlechte Presse hat: »Wir wollen ein Modell entwickeln, in dem ein effizient agierender Staat und ein gesunder Markt verbunden werden, um eine wirkliche soziale Entwicklung der ganzen Gesellschaft zu fördern und nicht nur das Wohlergehen einer kleinen Gruppe ... Auf keinen Fall wollen wir etwas verstaatlichen, das sind Erfindungen unserer politischen Gegner.« (Chávez, Die Woche, 30.9.99)

Warum eigentlich sollte man ihn eine solche »soziale Entwicklung« nicht machen lassen? Und auch an dem, wie die Regierung Chávez zu Werke geht, ist auf den ersten Blick kein rechter Grund für Feindschaft zu entdecken: Zwar bemüht sich Venezuela, verbesserte Konditionen beim Ölverkauf sicherzustellen, Chávez agitiert aber ausdrücklich nicht dafür, von der »Ölwaffe« Gebrauch zu machen. Er teilt vielmehr den modernen »Realismus« der Mehrheit der OPEC-Mitglieder, die ihre Kundschaft preislich keinesfalls überstrapazieren wollen. Am Respekt vor dem privaten Eigentum fehlt es Chávez auch nicht: Verstaatlichung soll nicht sein. Was also macht den venezolanischen Staatschef in den Augen des Imperialismus eigentlich so unsympathisch? Verspricht er doch bloß, endlich das zu tun, wozu Länder der sogenannten dritten Welt von der ersten immer ermahnt werden: auf »gutes Regieren« zu achten und die »Korruption« zu bekämpfen.

Angriff auf Ölcliquen

Mit all diesen gar nicht revolutionären Aktivitäten ist in Venezuela ein politischer Kampf eröffnet worden: Die Chávez-Partei hat sich nach ihrem Wahlsieg im Zuge ihres Kampfes um »gutes Regieren« mit allen Interessengruppen des »alten« Venezuela angelegt, allein schon durch die Übernahme der Regierung anstelle der bisherigen Traditionsparteien, die dieses Geschäft bislang untereinander ausgemacht hatten. Was Chávez als »Korruption« des alten Systems bekämpft, ist schlicht die bisherige Aufteilung des Staatseinkommens, vor allem der Erträge des Ölgeschäfts: Die erfolgte zwischen den bisherigen Regierungsparteien und der sie tragenden »Oligarchie« in der Form von Haushaltstiteln, von politisch vergebenen Geschäftsgelegenheiten und gut dotierten Posten. Die alte Führungsschicht bestimmte die Chefs der staatlichen Ölkonzerne aus ihren Reihen und hatte damit die Kontrolle über die wichtigste Geldquelle des Landes. So brachte es Venezuela immerhin unter die fünf größten Erdölförderländer und zu einem der wichtigsten Öllieferanten der USA. Das war der nationale Erfolgsweg Venezuelas. Das Elend der Massen an dessen Rändern war eine landesübliche Begleiterscheinung.

Mit der Übernahme der Regierung durch Chávez wurde ein Machtkampf um die Fortdauer der alten Reichtumsverteilung eröffnet und unter dem Titel »Korruption« zum nationalen Problem Nummer eins ernannt. Der Antikorruptionskampf als politischer Angriff auf die bisher über das Öl und seine Erträge verfügenden Cliquen wird als erbitterter Streit mit den staatlichen Erdölgesellschaften geführt, die zu zirka 50 Prozent den Staatshaushalt finanzieren.

Das politische Getümmel, das der Machtübernahme der Chavisten folgte – mit Notstandsgesetzen, Entmachtung des alten Parlaments, neuer Verfassung und der Ablösung der persönlichen Garanten altbewährter Geschäftsbeziehungen – hat also die Lage so »instabil«, d.h. den alten Erfolgsweg Venezuelas als zuverlässige Ölquelle für den kapitalistischen Weltbedarf so zweifelhaft gemacht, daß in und für Venezuela daran weniger verdient wurde. Darüber hinaus verlangt Chávez von den Konzernen zunehmend höhere Gewinnabgaben, die als Kosten von den bislang anders verplanten Gewinnen der Erdölindustrie abgehen. So schafft sich Chávez zahlreiche und einflußreiche Gegner, die gegen die neue »Politisierung« der Ölwirtschaft Widerstand leisten, während gleichzeitig Investitionen zur Modernisierung der Förderanlagen für schwere Rohöle verschoben werden, also die Geldquelle der neuen Regierung verstopft wird. Deshalb beurteilen die wirtschaftspolitisch sachverständigen Beobachter des Weltgeschehens die »politischen Eingriffe« in das wichtigste Geschäft der Nation als zunehmend gefährlich: Gewinne gehören reinvestiert, und nicht zugunsten notleidender Staatsbudgets abgezweigt. Das gilt vor allem dann, wenn die Verwendung öffentlicher Gelder, etwa in den Abteilungen Elendsfürsorge, ohnehin dem Verdacht unterliegt, nur dem berechnenden »Populismus« des neuen Chefs zur Bestechung der Wählermassen zu dienen.

Einen Teil der bisherigen Nutznießer venezolanischer Fleischtöpfe hat sich Chávez durch seinen Wahlsieg und deren Verdrängung aus den Positionen, die über die Öldollars bestimmten, von ihren Einkünften abgeschnitten und schon deshalb zu Todfeinden gemacht. Diejenigen, die Geschäfte betreiben und dafür Angestellte benutzen, will er darüber hinaus mit einem gesetzlichen Mindestlohn auf die Ernährung ihrer Dienstleute verpflichten. Das verstehen die Unternehmer konsequent als Angriff auf angestammte Rechtspositionen, ihr Eigentum und sämtliche Kalkulationsgrundlagen ihres Geschäftes in Venezuela. Ausgerechnet ihnen, die dort nur produzieren, weil Billiglöhne und staatliche Zuwendungen, die ihnen über den Einfluß der alten Parteien sicher waren, ihre Produktion so rentabel machen, will Chávez Löhne aufdrücken, die ihre bisherigen Gewinnkalkulationen fraglich machen. Deswegen ziehen die Verwalter des auch von den Chávez-Leuten respektierten Privateigentums 40 Milliarden Dollar von diesem Eigentum aus Venezuela ab und treten trotz aller Auflagen der Regierung gegen Gewinntransfer und »Kapitalflucht« eben diese »Flucht« aus dem »unruhigen Land« an. Wie soll man auch als Geschäftsmann jemandem trauen, der immer wieder ein paar Sozialprogramme für die vom Geschäftsstandpunkt aus überflüssige Bevölkerung lanciert und die Armee zum Straßenbauen schickt!?

Latifundistas auf der Palme

Mit der Landreform von Chávez kommt es erstmalig zu einer grundbuchmäßigen Erfassung venezolanischen Grund und Bodens. Mit ihr sollen in Venezuela die in rechtlicher Hinsicht »ungeordneten« Zustände bei der Verteilung des Bodens, die die alten Grundbesitzer natürlich schon immer schwer in Ordnung fanden, vom Ruch der »Korruption« und Gesetzlosigkeit befreit und neue Rechtsverhältnisse hergestellt werden. Der bisher willkürliche Zugriff der Großgrundbesitzer auf »ihre« Ländereien wird dadurch nachträglich genehmigt und die mittels privater Gewalt und staatlicher Duldung zustande gekommene »tatsächliche Sachherrschaft« in feste Eigentumstitel überführt. Alle Bauern, die das »ley de tierras« als Aufforderung ihres obersten Chefs mißverstehen, sich brachliegenden Landes zur Bearbeitung und Erwirtschaftung eines Lebensunterhaltes zu bemächtigen, werden von der Armee wieder vertrieben. Mit diesem Schritt wird einerseits Rechtssicherheit für diejenigen hergestellt, die sich das bebaubare Land ohnehin schon angeeignet haben. Andererseits wird der Ausschluß des großen Restes von Bauern vom großen und qualitativ guten Bodeneigentum festgeschrieben. Übrig gebliebene, also rechtlich herrenlose schlechte Böden, werden ihnen als Eigentum überlassen, wenn sie sie bearbeiten wollen, können ihnen also auch nicht mehr – jedenfalls nicht von Rechtes wegen – einfach, wie früher, von den Großgrundbesitzern weggenommen werden. Das Moment von Beschränkung, das dieses Verfahren für die Großgrundbesitzer von deren anspruchsvollen Standpunkt aus mit sich bringt, wenn sie nicht mehr einfach alles Land nach Belieben in die Nutzung einbeziehen oder liegenlassen können, ohne Gefahr zu laufen, es an Kleinbauern zu verlieren, bringt die Latifundistas auf die Palme. Chávez’ Regelung des Grundeigentums, von der er sich neben der Stiftung eines ordentlichen Bodenrechts offenbar eine intensivere Ausnutzung der verfügbaren Flächen und einen Lebensunterhalt für ein paar Subsistenzsiedler verspricht, tritt ihnen als eine einzige Verschlechterung ihrer alten Positionen, also von Grund auf feindlich, gegenüber. Bisher hatte niemand an ihrem Recht auf »ihr« Land gezweifelt, und wenn doch, kam es auf die formelle Seite der Sache nicht so an: Entweder sie schufen es sich selbst mit privater Gewalt oder hatten verläßlichen Rückhalt in der des Staates. Jetzt sehen sich die Landherren von der Reform in ihrer freien Verfügung über bisher brachliegende Flächen beschränkt, die nun teilweise als »herrenlos« im Rechtssinn definiert werden, und müssen sich, wenn sie darauf zugreifen wollen, mit vielleicht schon darauf sitzenden Hungerleidern und ihren staatlich begründeten Rechtsansprüchen herumschlagen. So wird für die Großgrundbesitzer Venezuelas die Landreform zu einem einzigen Anschlag auf ihre angestammten »Rechte«. Und ausgerechnet die eigentumsrechtliche Erfassung von Grund und Boden verstehen sie als Enteignung ihrer Ansprüche, die Chávez ihren herzlichen Haß einbringt.

Referendum über Gewerkschaften

Bestandteil des herkömmlichen venezolanischen Reichtumsverteilungssystems waren bis zur Präsidentschaft von Chávez auch die Gewerkschaften (CTV). Ihre Mitglieder rekrutieren sie vornehmlich aus den, im Vergleich zum Rest der Bevölkerung, der ohnehin überwiegend ohne Lohneinkommen ist, relativ gut bezahlten Arbeitern der Erdölindustrie. Die Gewerkschaftsführung ist traditionell Bestandteil des gut versorgten Führungsklüngels der Ölindustrie und nimmt in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Konzernleitung an der Bereicherung durch Petrodollars teil. Darüber hinaus verwalteten die Gewerkschaften bislang im Staatsauftrag die aus Beiträgen ihrer Mitglieder gespeisten Alters-, Kranken- und Arbeitslosenkassen und hielten sich für ihre sozialen Taten an diesen Kassen schadlos.

Im Zuge des politischen Angriffs der neuen Regierungspartei auf die bestehenden Methoden der Verteilung öffentlicher Gelder im Land unter dem Banner der Korruptionsbekämpfung geraten auch die Gewerkschaften in die Schußlinie. Die verteidigen ihrerseits ihre überkommenen Rechte und Versorgungsansprüche und werden über den Umgang der Chávez-Regierung mit »ihrer« Ölindustrie, der Branche, von der sie bisher gut gelebt haben, zu Feinden der neuen Herren. Chávez sieht in den alten Gewerkschaften eine Hochburg der Korruption und ein Agitations- und Organisationszentrum antichavistischer Aktivitäten, was für ihn ohnehin ungefähr auf das gleiche hinausläuft. Deshalb beschließt er, »die jetzigen Gewerkschaften auszulöschen«.

Entgegen dieser militanten politischen Ankündigung startet er im Jahr 2000 ganz demokratisch ein landesweites Referendum, bei dem die Bevölkerung unter Aufsicht der Wahlbehörde befragt wird, ob sie einverstanden sei mit der Erneuerung der Gewerkschaftsführung. Das geht, wie schon erwähnt, nicht gut aus für den Veranstalter des Referendums: Es kommt keine Mehrheit für die Gewerkschaftsreform zustande, wegen des Desinteresses des Wahlvolkes an dem Thema. Das ist überwiegend damit beschäftigt, um ein Überleben zu kämpfen, mit dem aus seiner Sicht weder die »korrupten Gewerkschaften« noch die staatsmoralische Agitation der Chavisten etwas zu schaffen haben. Nur 350 000 von 11,7 Millionen Stimmberechtigten stimmen ab, und am Ende bleibt die alte Mannschaft am Ruder und verbündet sich mit der Arbeitgebervereinigung (Federcameras ) zu einem Aktionsbündnis gegen Chávez, um ihn irgendwann mit Kampfmaßnahmen bis hin zum Generalstreik zu stürzen. So kommt es dann, daß sich im Land ein »breiter Widerstand der Bevölkerung« zusammenfindet, um mit den »undemokratischen Machenschaften« des Präsidenten aufzuräumen.

Die freien Medien in und außerhalb Venezuelas, die sonst viel gegen »Korruption« in »Entwicklungsländern« haben, weil die immer als »schlechtes Regieren« deren »Entwicklung« verhindert, werten den Versuch, die alten Gewerkschaften auszuschalten, als einen weiteren Schritt in der von Chávez bewirkten Destabilisierung des Landes. Sie ordnen dieses Stück »Korruptionsbekämpfung« deshalb ein als einen Anschlag auf das Grundrecht der »Koalitionsfreiheit«, der das unruhige Venezuela noch mehr durcheinanderbringt. Die Interessenkoalition von Arbeitgebern und Gewerkschaften gegen Chávez wird darüber zum Beweis dafür, daß sein Sturz nun wirklich vom ganzen Volk herbeigesehnt und deswegen immer dringlicher und unvermeidbarer wird. Damit ist seine demokratische Legitimation durch die erst im Jahr 2000 klar gewonnenen Wahlen, denen man im freien Westen ohnehin nie traut, wenn der Falsche gewinnt, für »uns« endgültig im Eimer. Da kann Chávez so viel Demokratie organisieren, wie er will.

Womit hat sich also Chávez die Feindschaft der Weltordnungsmächte zugezogen? In den Hauptstädten des Imperialismus gibt es eben kein Interesse daran, daß überall Kopien der kapitalistischen Erfolgsnationen entstehen. Vielmehr sind für sie nützliche, funktionale Verhältnisse gewünscht, und dieses Interesse wird z.B. mit einer venezolanischen Oligarchie bestens bedient, die die Geschäfte im gewünschten Sinne regelt und sich dafür den Reichtum des Landes aneignet. Wenn in solch »wohlgeordneten« Verhältnissen des internationalen Kapitalismus eine Figur auftritt, die ernsthaft den Standpunkt von »good governance« verfolgt, dafür die Zustimmung der Massen erringt und durch die Neuorganisation bisheriger Reichtumsverteilung die bestehenden gedeihlichen Beziehungen gefährdet, dann trachten die Betreuer der globalen Geschäftsordnung nach baldiger Beendigung solcher Störung. Das um so mehr, als Chávez sich durch seinen nationalistisch-selbstbewußten Umgang mit den gültigen Regeln imperialistischer »political correctness« als ausgesprochen unberechenbarer Typ verdächtig macht, dem man noch viel Schlimmeres zutrauen kann: Schließlich hat er einige der Lieblingsfeindstaaten der USA besucht, Libyen und den Irak, und das mitten im »Antiterrorkrieg«. Er läßt sich den Umgang mit Castro nicht verbieten, liefert ihm sogar verbilligtes Erdöl im Gegenzug für die Dienste kubanischer Ärzte und Lehrer in Venezuela und zeigt darüber hinaus auch noch Sympathien für kolumbianische Guerillas. Diese Liste innen- und weltpolitischen Fehlverhaltens genügt für die USA, um eine vorzeitige Ablösung Chávez’ zu fordern. Auch wenn die Sache vorerst nicht zum gewünschten Abschluß kommt, es wird weiter daran gearbeitet.

* Eine ausführliche Analyse zu den Auseinandersetzungen in Venezuela veröffentlichte Theo Wentzke in GegenStandpunkt 2/2002.
Die vorliegende gekürzte Fassung wurde in der jungen Welt vom 26. September 2002 veröffentlicht.



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