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Kampf um die Jugend

Wahlen in Venezuela: Anhänger von Präsident Hugo Chávez und Oppositionelle werben bis Sonntag um jede Stimme

Von André Scheer, Caracas *

Mittags an der Metrostation Chacaito, in einem eher mittelständisch geprägten Viertel der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Einige hundert Studenten der Katholischen Universität Andrés Bello (UCAB) haben sich hier versammelt, um für ihren Kandidaten Henrique Capriles Radonski zu werben. Sie tragen weiße T-Shirts, auf denen sie sich zu »Helden der Demokratie 2012« erklären. Die Hemden werden zu Dutzenden kostenlos an die Teilnehmer verteilt, mancher nimmt sich auch gleich zwei oder drei mit, und auch ein Straßenkehrer deckt sich mit neuer Wäsche ein. Inhalte sind bei dieser Kundgebung, zu der die meisten der Teilnehmer mit der U-Bahn aus Nobelvierteln wie Chacao im Osten der Hauptstadt gekommen sind, Fehlanzeige. »Studenten! Studenten!« oder »UCABista!« lauten ihre Sprechchöre, und auf den in Massen verteilten Aufklebern wird »die Zukunft« beschworen. Von Vorschlägen und Forderungen, was sich in Venezuela konkret ändern muß, ist nichts zu hören. Nur daß Hugo Chávez weg muß, darin sind sich hier alle einig.

Gelangweilt betrachten vielleicht hundert Meter entfernt einige Anhänger des amtierenden Präsidenten, die auch nicht älter sind als die Jugendlichen dort, das lautstarke Treiben. Sie haben einen »roten Punkt« aufgebaut. So heißen die Infostände mit Werbematerial für Hugo Chávez, die in diesen Tagen an nahezu jeder Straßenecke der Innenstadt zu finden sind. Plakate, das Wahlprogramm, Broschüren mit Reden und kleine Flyer über die Errungenschaften des nun schon 13 Jahre dauernden revolutionären Prozesses werden zu Tausenden verteilt. »Das ist eine Minderheit«, sagt einer der Chavisten schulterzuckend und deutet auf die Capriles-Anhänger. »Vielleicht ein Drittel oder ein Viertel der Studenten sind so drauf.«

Tatsächlich haben Umfragen gezeigt, daß Hugo Chávez auch unter den Jungwählern mit einer Mehrheit rechnen kann, doch wird sie in dieser Altersgruppe knapper ausfallen als etwa unter den 35- bis 50jährigen. »Die Gefahr, daß die Revolution die Jugend verliert, besteht«, räumt Gustavo Rodríguez, der im lokalen Rundfunksender La Son del 23 eine wöchentliche Sendung moderiert, im Gespräch mit junge Welt ein (siehe unten). »Wir haben eine große Verantwortung, das zu verhindern.« Er selbst hat erlebt, wie die Realität Venezuelas vor dem Amtsantritt von Hugo Chávez aussah. Er wuchs in einem Rancho, einer selbstgebauten Hütte, auf, die direkt an einem Abwasserkanal lag. Von der Polizei wurde er in demselben Gebäude mißhandelt, in dem heute sein Rundfunksender installiert ist. Nachdem die Beamten der damaligen Hauptstadtpolizei Policía Metropolitana aus dem Gebäude vertrieben worden waren, richtete sich dort vor sieben Jahren die Coordinadora Simón Bolívar ein, ein Bündnis linker Gruppen aus dem für seine kämpferischen Traditionen bekannten Stadtviertel 23 de Enero. An eine Polizeiwache erinnert hier heute nichts mehr. Die Außenwände sind mit den Bildern Che Guevaras und Simón Bolívars bemalt, drinnen rufen Plakate zur Solidarität mit Palästina auf oder zeigen das Porträt des legendären Comandante der kolumbianischen FARC-Guerilla, Manuel Marulanda. In einem Nachbargebäude arbeitet ein »Infocentro«: Rund zwei Dutzend moderne Computer stehen hier zur Nutzung bereit, in Kursen wird den Nachbarn, von denen die wenigsten selbst bereits einen Rechner besitzen, der Umgang mit der neuen Technik vermittelt. Auch andere Missionen, die unter Chávez eingeführten Sozialprogramme, haben hier ihren Sitz. »Am Sonntag wird im 23 de Enero Fiesta sein. Das ganze Viertel wird auf der Straße sein, um den Sieg unseres Präsidenten und der Bolivarischen Revolution zu sichern«, ist sich Gustavo Rodríguez sicher. Er wolle sich nicht ausmalen, was in diesem Land passieren würde, wenn entgegen allen Erwartungen doch Capriles und die Opposition die Präsidentschaftswahl gewinnen würden: »Dann herrscht hier wieder Krieg.«

Damit das nicht passiert, nutzt auch Gustavo Rodríguez seine Sendung, um die Hörer zur Besonnenheit aufzurufen. »Reagiert nicht auf die Gerüchte, die gestreut werden, um die Lage zu destabilisieren!« Am Sonntag komme es darauf an, die Wahl mit möglichst großem Vorsprung zu gewinnen, um den Manipulationsgerüchten jede Grundlage zu entziehen. »Wir werden unseren Wahlsieg verteidigen – selbst wenn er nur mit einer Stimme Mehrheit erreicht worden sein sollte«, zeigt sich Gustavo Rodríguez überzeugt. »In diesem Land darf es kein Zurück geben.«

* Aus: junge Welt, Freitag, 05. Oktober 2012


»Wir verteidigen unsere Revolution«

Die Bevölkerung wird Versuchen der Opposition, einen Sieg von Hugo Chávez nicht anzuerkennen, entgegentreten. Gespräch mit Gustavo Rodríguez **


Sie moderieren eine wöchentliche Sendung beim lokalen Rundfunksender Al Son del 23, im Stadtviertel 23 de Enero. An wen richtet sich dieses Programm?

Meine Sendung heißt »Aló 23, und sie gibt es inzwischen seit sieben Jahren, seitdem unsere Radiostation ihren Sendebetrieb aufgenommen hat. Der Sender soll der Gemeinde dienen, indem er Nachrichten, Informationen, Bildung und Kultur verbreitet. Letztlich ist er eine Konsequenz aus dem Putschversuch vom April 2002, als alle Fernsehsender, die in der Hand der faschistischen Rechten und der Konzerne waren, Zeichentrickfilme ausgestrahlt haben, während auf den Straßen das Volk massakriert wurde. Wir haben damals verstanden, wie notwendig es für die Menschen in unserem Barrio, in unserem Viertel, ist, ein eigenes Handwerkszeug in die Hand zu bekommen, damit sie nie wieder zum Schweigen gebracht werden können.

23 de Enero hat den Ruf, eines der kämpferischsten und widerständigsten Viertel ganz Venezuelas zu sein. Wie erleben Sie hier den derzeitigen Wahlkampf?

Dieser Wahlkampf ist, ebenso wie die vorangegangenen 14 Wahlkämpfe – denn die Welt muß wissen, daß Venezuela ein äußerst demokratisches Land ist, in dem das Volk zu jeder Angelegenheit befragt wird – für uns eine Fortsetzung der Kämpfe, die wir seit Jahrzehnten geführt haben für Gerechtigkeit und Demokratie. Wir gehören zu denen, die auch heute noch eine sozialistische Gesellschaft anstreben. Im 23 de Enero erlebst du viel Freude, die Menschen sind sehr solidarisch, sie teilen gerne.

Auch wenn alle seriösen Meinungsforschungsinstitute Venezuelas einen Sieg für Präsident Chávez voraussagen, ist mir in einer Analyse aufgefallen, derzufolge der Amtsinhaber zwar auch unter den Jungwählern die Mehrheit hat – aber mit deutlich knapperem Vorsprung als zum Beispiel unter den 35- bis 50jährigen. Geht der Revolution die Jugend verloren?

Diese Gefahr besteht immer, und es ist unsere Verantwortung, das zu verhindern. In der nächsten Wahlperiode müssen wir die Verbindungen mit den Jugendlichen verstärken. Aber vergessen wir nicht, daß dies eine sehr junge Revolution ist, und wir sind sehr weit vorangekommen. Vor allem, wenn wir daran denken, daß wir all dies auf friedlichem und demokratischem Weg erreicht haben. In den vergangenen 13 Jahren unter Präsident Chávez ist nie auf eine Demonstration der Studenten geschossen worden. In den 60er und 70er Jahren wurden demgegenüber Dutzende meiner Studienkollegen ermordet.

Derzeit kursieren in Venezuela unzählige Gerüchte über geheime Pläne der Opposition, die einen Wahlsieg von Hugo Chávez nicht anerkennen wolle, oder über Provokationen. Was passiert in Caracas am Sonntag nach der Schließung der Wahllokale?

Bevor der Nationale Wahlrat CNE die ersten offiziellen Ergebnisse bekanntgibt, wird zweifellos das Volk auf den Straßen sein. Wir müssen unsere Revolution verteidigen, denn wir sind davon überzeugt, daß wir keinen anderen Weg haben. Die Augen der Welt sind in diesem Augenblick auf Venezuela gerichtet, und das bedeutet für uns eine riesige Verantwortung. Wir werden auf den Straßen und Plätzen auf die ersten Zahlen des CNE warten, in vollem Vertrauen auf unser Wahlsystem, das gegen jeden Manipulationsversuch gepanzert ist. Wichtig ist, daß sich niemand etwa vormachen läßt, auch nicht in Deutschland: Ein Wahlbetrug ist in Venezuela unmöglich.

Danach, mit der Veröffentlichung des ersten Bulletins des CNE, werden wir der Welt den Sieg der Bolivarischen Revolution, des Präsidenten Chávez und des Volkes verkünden und feiern, daß wir den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft fortsetzen können. Nachdem 1990 schon das Ende der Geschichte verkündet wurde, war es gerade Venezuela, das die Banner des Sozialismus wieder erhoben hat.

Aber wir wissen natürlich auch, daß wir uns in einem Krieg der vierten Generation befinden und daß die Finger des Imperiums nicht erst seit gestern, sondern seit vielen Jahrzehnten tief in unseren Ländern stecken. Noch immer kontrolliert die Bourgeoisie in unserem Land 75 bis 80 Prozent der Medien. Es wäre tragisch, wenn nach einem Sieg des Präsidenten Chávez diese Kräfte versuchen, Unruhen anzuzetteln und das Ergebnis nicht anzuerkennen, denn wir sind bereit, unsere Revolution mit allen Mitteln zu verteidigen.

** Gustavo Rodríguez ist Mitglied der venezolanischen Linkspartei Tupamaros und der Coordinadora Simón Bolívar im Stadtviertel 23 de Enero. Im freien Rundfunksender Al Son del 23 moderiert er eine wöchentliche Diskussionssendung.

Interview: André Scheer, Caracas *

Aus: junge Welt, Freitag, 05. Oktober 2012


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