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"In Venezuela treffen zwei Systeme aufeinander"

Freddy Bernal über die Bedeutung der Parlamentswahlen

Freddy Bernal (48) ist Kandidat der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) für die Parlamentswahl am 26. September. Er gehört zu den engsten Vertrauten von Präsident Hugo Chávez, war acht Jahre lang Bürgermeister im Zentrum von Caracas und tritt dort zur Direktwahl an. Helge Buttkereit hat in Caracas für das "Neue Deutschland" (ND) mit ihm gesprochen.

ND: Welche Bedeutung haben die Parlamentswahlen am Sonntag?

Bernal: In Venezuela treffen zwei Systeme aufeinander. Der Kapitalismus, der die Armut und die Misere Venezuelas in den 40 Jahren der vierten Republik erzeugt hat, und der Sozialismus als Alternative, der den Menschen in den Mittelpunkt der Entwicklung stellt. Nicht weniger als diese beiden Wege stehen am Sonntag zur Wahl.

Warum kämpft die PSUV so intensiv um die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament?

Mit dieser Mehrheit können wir die organischen Gesetze verabschieden, die die politisch-juristische Struktur herstellen, um den Sozialismus aufzubauen. Dafür brauchen wir 110 Abgeordnete. Das verlangt die Verfassung. Aber darüber hinaus erlauben die 110 Abgeordneten auch, den Präsidenten abzusetzen und die Zusammensetzung des Gerichtshofs zu verändern, der den Präsidenten verhaften könnte, wie das vor einem Jahr in Honduras geschehen ist. Dort hat die Opposition den Gerichtshof benutzt, um Präsident Manuel Zelaya seines Amtes zu entheben.

Die Opposition bei uns hat immer wieder erklärt, dass sie Chávez festsetzen und dafür die Nationalversammlung benutzen will. Für uns ist die Besetzung des Parlaments fundamental, um die Misiones, die Sozialprogramme der bolivarischen Revolution, und den Prozess der Entwicklung aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass der Präsident 2012 mit wenig Schwierigkeiten wiedergewählt werden kann.

Wenn die Zwei-Drittel-Mehrheit nicht erreicht wird, kann dann eine Situation wie in Honduras entstehen?

Das wäre durchaus möglich. Wir rufen das Volk dazu auf, durch seine Stimmabgabe Frieden, Demokratie, Ruhe und Freiheit aufrechtzuerhalten. Aber wir sind sicher, dass wir die Mehrheit gewinnen werden; auch haben wir nicht die geringsten Zweifel, dass wir die qualifizierte Mehrheit erhalten. Sicher wird es einige oppositionelle Abgeordnete geben. Wir hoffen aber, dass diese Opposition demokratisch auftritt und dass sie für ihre Leute spricht. Vor vier Jahren hat die Opposition ihre Anhänger und die Nationalversammlung durch Boykott allein gelassen. Davor gab es einen Hang zum »Putschismus«. Wir hoffen, dass sie aus diesen Erfahrungen gelernt haben.

Im Wahlkampf haben Sie mit dem Besuch der Wähler »Haus für Haus« (»casa por casa«) Ihre Verbundenheit mit dem Volk gezeigt. Wie wollen Sie das nach der Wahl fortsetzen?

Wir haben den Gang von Haus zu Haus nicht gemacht, weil wir in der Wahlkampagne sind. Wir bauen seit Jahren soziale Strukturen auf, angefangen mit den Boden-Kommissionen (die Rechtstitel für Grundbesitz in den Elendsvierteln vergaben, H.B.), den Komitees für Gesundheit, den Consejos Comunales (kommunalen Räten an der Basis, H.B.) bis hin zu den »Kommunen im Aufbau«. Jetzt vertiefen wir diese Kontakte. Wir haben dem Volk gesagt, dass wir als Abgeordnete zuerst Sprecher des Volkes und Ausdruck seiner Volksmacht sein werden.

Wie stellen Sie sich das vor?

Ich werde Abgeordneter des größten Wahlkreises der Hauptstadt sein und den Kontakt von Haus zu Haus weiterführen. Wir haben dem Volk gesagt, dass es jetzt selber Gesetzgeber sein soll. Das bedeutet, dass die »Kommunen im Aufbau« anfangen müssen, Gesetze zu diskutieren, die sich auf ihre Bedürfnisse beziehen. Wir Abgeordneten sind Sprecher dieser Kommunen im Parlament.

* Aus: Neues Deutschland, 23. September 2010


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