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Hoch die Internationale

Vor 35 Jahren entführte die Guerilla in Venezuela einen US-Militär, um den vietnamesischen Freiheitskämpfer Nguyen Van Troi vor der Hinrichtung zu bewahren

Von Santiago Baez *

In den frühen Morgenstunden des 9. Oktober 1964 warteten in Colinas de Bello Monte, einem Mittelstandsviertel im Süden der venezolanischen Hauptstadt Caracas, vier junge Männer auf den Vizechef der US-Militärmission in Venezuela, Oberstleutnant Michael Smolen. Versteckt in einem kleinen Wagen mußten sie länger warten, als sie gehofft hatten, denn Smolen frühstückte an diesem Tag erstmal mit seinem Chef, Oberst Henry Lee. Es war ein offenes Geheimnis, daß beide für den US-Geheimdienst CIA arbeiteten. Danach machten sich die Militärs auf den Weg in die US-Botschaft, ihrem Arbeitsplatz. Nun wurden die vier wartenden Männer durch den Warnruf »Vorsicht, sie kommen« hellwach.

Die beiden Offiziere stiegen in ihr Auto, und Smolen ließ gerade den Motor starten, als das Quartett ihnen mit ihrem Wagen den Weg versperrte. Mit einer Maschinenpistole bewaffnet kletterte einer von ihnen, Argenis Ruiz, durch das Fenster des Wagens und landete mit den Füßen direkt vor dem Lenkrad. Smolen hatte keine Chance zu entkommen, während sein Chef voller Angst die Straße herunterrannte und sich in Sicherheit bringen konnte.

Smolen wurde auf den Boden des Fahrzeugs gelegt und zwei der Männer, die auf die Decknamen »Gocho« und »Caliche« hörten, setzten sich auf die Rückbank und verdeckten so die Sicht auf ihren Gefangenen. Während Smolen von seiner Uniform befreit und in Zivilkleidung gesteckt wurde, fuhr die Gruppe zur Wohnung eines spanischen Malers, der sein Quartier als Unterschlupf zur Verfügung gestellt hatte. Hier erfuhr Smolen, wer die vier Männer waren, die ihn in ihre Gewalt gebracht hatten. Sie gehörten zu den »Streitkräften der Nationalen Befreiung« (FALN), einer von der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) und anderen linken Organisationen gegründeten Guerillabewegung. Der Oberstleutnant erfuhr auch, was die Guerilleros mit ihm vorhatten. Smolen sollte gegen den 17 Jahre alten vietnamesischen Widerstandskämpfer ­Nguyen Van Troi ausgetauscht werden, dem in Südvietnam die Hinrichtung drohte, weil er an einem versuchten Anschlag auf US-Verteidigungsminister Robert McNamara beteiligt gewesen sein sollte.

Aufbau der Guerilla

Die ersten Guerrillagruppen waren in Venezuela bereits wenige Monate nach dem Sturz des Diktators Marcos Pérez Jiménez im Januar 1958 entstanden. In der Widerstandsbewegung gegen die 1952 errichtete Diktatur hatten die Kommunisten gemeinsam mit den Sozialdemokraten der »Demokratischen Aktion« (AD) und einigen anderen illegalen Parteien die führende Rolle gespielt. Doch unmittelbar nach dem Sturz des Diktators begann sich abzuzeichnen, daß die AD, die liberale URD und die konservative COPEI alles daransetzen wollten, die KP von jeder Beteiligung an der Regierung auszuschalten. Formell wurde dies durch den »Pakt von Punto Fijo« festgelegt, in dem sich bis 1998 die zunächst drei, nach dem Zerfall der URD dann nur noch zwei Parteien die Macht aufteilten. Die Proteste der Linken wurden unterdrückt, ihre Zeitungen verboten und die Kommunisten zunehmend in die Illegalität gedrängt.

Den Ausweg aus dieser Situation schien die kubanische Revolution aufzuzeigen, die am 1. Januar 1959 siegte. Die Erfahrungen der Bewegung 26. Juli von Fidel Castro schienen zu zeigen, daß auch eine Minderheit in der Lage sein könnte, mit der Waffe in der Hand einen stärkeren Gegner zu besiegen. Während die neue, »demokratische« Regierung des Präsidenten Rómulo Betancourt zu Methoden griff, die von Zeitzeugen als »schlimmer als unter dem Diktator« beschrieben wurden, gruppierten sich immer mehr Jugendliche in Caracas und anderen Städten zu geheimen »Taktischen Kampfeinheiten« (UTC).

Die Stadtguerilla entstand, aus der später die FALN wurde, die nach einigen Monaten versuchte, den Kampf der kubanischen Guerilla in der Sierra Maestra zu kopieren und ihre Aktionen in die Berge und andere ländliche Regionen Venezuelas verlagerte. Doch ihre erfolgreichste Phase hatten die FALN, als sie sich noch »wie ein Fisch im Wasser« unter dem Menschen in den Städten bewegte, die schon damals die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung ausmachten.

Besonders gerne erinnern sich frühere Teilnehmer dieser Phase an gelungene Propagandaaktionen wie der Verteilung kostenloser Lebensmittel an die arme Bevölkerung: »Für mich war das eine unserer schönsten Aktionen. Wir hatten einen richtig großen Lastwagen im Visier, der bis oben hin mit Lebensmittelkonserven beladen war: Fleisch, Milch, Dosen mit allem möglichen. Wir hatten uns in drei Gruppen aufgeteilt. Die erste stoppte den Laster, überwältigte den Fahrer und übernahm dann selbst das Lenkrad. Die zweite wartete, bis der von uns gesteuerte Laster passierte, und blockierte dann die Straße, so daß uns niemand verfolgen konnte. Die dritte Gruppe machte uns den Weg frei, und wir fuhren mit der Ladung die Berge hoch bis in eines der Armenviertel. Einer von uns kletterte dann auf das Dach des Lasters und rief lautstark: Leute, kommt! Eßt! Und sie kamen tatsächlich, wie die Ameisen, und ganz schnell war die ganze Ladung weg.«

Aktion fliegt auf

Die Entführung Smolens sorgte zunächst für Aufregung in Washington und Saigon. Das State Department ordnete eine Verschiebung der Hinrichtung Nguyens an und zeigte sich bereit, auf die Forderungen der Guerilleros einzugehen. Zugleich begann sich die Situation für die Kämpfer der FALN, die sich mit ihrem Gefangenen versteckt hielten, zuzuspitzen.

Am Morgen des 13. Oktober gelang es der politischen Polizei Venezuelas, einige Personen zu verhaften, die an der Entführung Smolens beteiligt waren, darunter auch den Maler Ángel Luque, dessen Wohnung den Entführern als Quartier gedient hatte. Schwer gefoltert mußten einige der Gefangenen ihr Wissen preisgeben, wodurch weitere Kämpfer in die Hände der Polizei fielen. Angesichts der alarmierenden Nachrichten, die im Radio zu hören waren, sowie durch Warnungen von Genossen, die zunächst der Verhaftung entgangen waren, konnte das Guerillakommando den Unterschlupf noch rechtzeitig verlassen. Doch unter dem Druck des sich immer enger schließenden Rings sowie im Vertrauen auf die Zusagen der US-Administration entschlossen sich die Guerilleros, ihren Gefangenen freizulassen. Noch am selben Tag wurde Smolen um 22.40 Uhr auf der Avenida Los Samanes ausgesetzt.

Washington und Saigon hielten ihr Wort nicht. Die US-Administration gab ihren Marionetten in Südvietnam den direkten Befehl, die ausgesetzte Hinrichtung Nguyens durchzuführen. Er war der erste Kämpfer der vietnamesischen Befreiungsfront, der von den Besatzern öffentlich hingerichtet wurde. Während Filmkameras auf ihn gerichtet waren, forderte er die versammelten Journalisten noch auf dem Weg vor das Erschießungskommando auf, die Wahrheit über Vietnam zu berichten: »Es sind die Amerikaner, die eine Aggression gegen unser Land begangen haben, sie ermorden unsere Menschen mit Flugzeugen und Bomben.« Das Angebot eines Priesters, ihm Absolution zu erteilen, lehnte er ab: »Ich habe keine Sünde begangen. Die Amerikaner haben gesündigt.« Als das Erschießungskommando feuerte, rief Nguyen aus: »Es lebe Vietnam! Es lebe Ho Chi Minh!«

Freundschaft zwischen Vietnam und Venezuela

Ende Juli 2006, 32 Jahre nach diesen Ereignissen, besuchte der heutige Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, die Sozialistische Republik Vietnam. Auf dem Programm des venezolanischen Staatschefs stand auch ein Besuch beim legendären General der vietnamesischen Volksarmee Vo Nguyen Giap. Der vor drei Jahren bereits 94 Jahre alte Kämpfer erinnerte Chávez an die Aktion der venezolanischen Guerilla und fragte den offenbar völlig überraschten Gast, warum er denn die Guerilleros von damals nicht mitgebracht habe.

Als Vietnams Präsident Nguyen Minh Triet im November 2008 erstmals Venezuela besuchte, begleitete ihn Phan Thi Quyen, die Witwe des von den Besatzern und ihren Marionetten ermordeten Nguyen. Der vietnamesische Präsident reichte seiner Begleiterin die gerade von den Gastgebern erhaltenen Schlüssel der Stadt Caracas weiter und erinnerte sie an den Versuch der Befreiung ihres Mannes. Das zeige, daß die Freundschaft zwischen Vietnam und Venezuela bereits Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückreichende Wurzeln habe.

* Aus: junge Welt, 10. Oktober 2009


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