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Fünf Artikel für die Revolution

Teilreform des Grundgesetzes: Die unbegrenzte Wiederwahl von Politikern soll möglich werden. Vor allem geht es um den Staatschef

Von Harald Neuber *

Einige Wochen erst liegen die Regional- und Kommunalwahlen zurück, da steht Venezuela schon wieder vor einer Abstimmung. 17 Millionen Wahlberechtigte sind an diesem Sonntag (15. Feb.) an die Urnen gerufen.

Entschieden wird über die Änderung von fünf Artikeln der Verfassung aus dem Jahr 1999. Wird die Initiative der Regierung angenommen, ändert sich ein Prinzip: Die Beschränkung von Amtszeiten politischer Mandatsträger würde aufgehoben. Natürlich denkt dabei zunächst niemand an Gouverneure, Parlamentsabgeordnete oder Bürgermeister. Die Debatte dreht sich fast nur um Staatschef Hugo Chávez Frías. Gerade erst feierte der 54-jährige Ex-Oberstleutnant sein zehnjähriges Amtsjubiläum: Am 2. Februar 1999 hatte er die Wahl gewonnen. Es war der Startschuss für die »bolivarische Revolution«, wie der soziale und politische Reformprozess unter Chávez seither bezeichnet wird.

Sieg für Chávez

Venezuelas Staatschef Hugo Chávez hat das Referendum über seine unbegrenzte Wiederwahl gewonnen. Wie die Wahlbehörde am Sonntagabend mitteilte, stimmten 6.003.594 Wähler (54,36 Prozent) für die Verfassungsänderung. 5.040.082 Wähler (45,63 Prozent) stimmten dagegen.
Damit fiel der Sieg des US-Kritikers Chávez höher aus als erwartet. Umfragen hatten den sozialistischen Staatschef nur knapp vorn gesehen. Bei einem ersten Versuch 2007 war Chávez mit seinen Plänen noch gescheitert.
Chávez zeigte sich nur Minuten nach Bekanntgabe des Ergebnisses auf dem Balkon des Präsidentpalastes Miraflores in Caracas, sprach von einem "großen Sieg" und rief seinen Anhängern zu: "Es lebe das venezolanische Volk. Es lebe die bolivarische Verfassung." Auf den Straßen von Venezuelas Hauptstadt feierten die "Chavistas" den Sieg mit Autokorsos.

Presseagenturen, 16. Februar 2009



Wenn am Sonntag um sechs Uhr abends die Wahllokale schließen – zwei Stunden später als sonst üblich –, wird das Ergebnis womöglich über das Schicksal dieses Reformprozesses entscheiden. Auf jeden Fall aber über das von Chávez selbst. Scheitert das Vorhaben, wäre der Führer der »bolivarischen Revolution« 2013 zum Rückzug gezwungen. Eine Alternative ist nicht in Sicht, das Scheitern der letzten Verfassungsreform im Dezember 2007 zudem im Gedächtnis. Schon damals war die Aufhebung der Mandatsbeschränkung Teil eines Reformpakets.

Damals habe es »Probleme bei der Mobilisierung« gegeben, sagte Blanca Eckout unlängst gegenüber dem spanischsprachigen Dienst der Deutschen Presse-Agentur. Die bekannte Medienaktivistin ist führendes Mitglied der Regierungskampagne für die Reform. »Wir hatten damals zu wenig Zeit, alle Vorhaben zu erklären«, fügte sie an. Die Menschen – auch die Anhänger der Regierung – seien verunsichert gewesen. Nun ist Eckout zuversichtlich. Anders als noch Ende 2007 seien die Regierungskräfte heute in der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) organisiert. Zudem unterstützten selbst Teile der Opposition das Vorhaben.

Die bekannte »Chavistin« weist damit indirekt auf ein politisches Dilemma hin: In Ermangelung von Alternativen wird nur Chávez eine Fortführung des Reformprozesses über 2013 hinaus zugetraut. Um die notwendige Unterstützung für das Vorhaben zu mobilisieren, musste er aber gleichfalls alle anderen Ämter zur unbegrenzten Wiederwahl freigeben; auch die von fragwürdigen Berufspolitikern und eben die seiner Widersacher.

Beträchtliche Teile der Opposition laufen dennoch gegen die Verfassungsänderung Sturm. Am Wochenende vor dem Votum demonstrierten Zehntausende Gegner – aber auch Anhänger – in der Hauptstadt Caracas. Den Chávez-Kontrahenten ist jedes Mittel recht. In einer polemischen Zeitungsanzeige gegen Polizeigewalt verwendeten sie – in Ermangelung von entsprechenden Gewaltszenen aus dem eigenen Land – ein Foto, das 2003 in Athen gemacht worden war. Mit Brandstiftung und Zerstörungen versuchten sie, die Sicherheitsorgane aus der Reserve zu locken. Und natürlich erhalten sie Hilfe aus dem Ausland. Der neokonservative US-Thinktank Cato Institute setzte sich öffentlich für die Kampagne der Chávez-Gegner ein. Die unbegrenzte Wiederwahl des rechtskonservativen kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe hatte das Institut als »demokratisches Recht« unterstützt.

»Bei diesem Referendum geht es um die Ausweitung der demokratischen Rechte der Bevölkerung«, sagte unlängst Venezuelas Botschafterin in Berlin, Blancanieve Portocarrero. Die Menschen in ihrem Land sollten die Möglichkeit bekommen, ohne Einschränkung »ihre« Vertreter zu wählen.

Die Diplomatin verwies bei einer Veranstaltung in der Botschaft detailliert auf die sozialpolitischen Erfolge der Staatsführung. Die Armut sei seit dem Antritt der Regierung um 50 Prozent reduziert worden. Die extreme Armut sei von 42 Prozent der Bevölkerung in den 90er Jahren sogar auf 9,5 Prozent gesenkt worden.

Dass all dies bei einer Rückkehr der Chávez-Gegner gefährdet wäre, hatten diese nach den Regional- und Kommunalwahlen im November bewiesen. In mehreren von ihnen eroberten Bundesstaaten und Kommunen wurden Sozialprojekte der Regierung umgehend geschlossen. In einigen Fällen kam es zu gewaltsamen Übergriffen auf die Aktivisten dieser Programme.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Februar 2009


Für längere Amtszeit

Volksabstimmung am Sonntag: Venezuelas Präsident Hugo Chávez vor Referendum über Verfassungsänderung zuversichtlich. "Ja" soll Wiederwahl ermöglichen

Von André Scheer **

Mehrere hunderttausend Menschen haben am Donnerstag (Ortszeit) im Zentrum von Caracas ihre Unterstützung für den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und die angestrebte Verfassungsänderung demonstriert. Mit der Großkundgebung schlossen die Unterstützer der Regierung ihre Werbekampagne für das am Sonntag stattfindende Referendum ab. Fast 17 Millionen Menschen sind aufgerufen, über die Abänderung von fünf Artikeln des Grundgesetzes abzustimmen. Bislang beschränkt die Verfassung die Möglichkeit auf eine Wiederwahl von Amtsinhabern der verschiedenen Ebenen auf ein einziges Mal. Dadurch könnte zum Beispiel Chávez bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2012 nicht mehr antreten.

Chávez zeigte sich bei der Kundgebung überzeugt, daß eine deutliche Mehrheit am Sonntag für die Verfassungsänderung stimmen wird. Der Präsident bedauerte, daß er aufgrund der Vorschriften des Nationalen Wahlrates (CNE) in den letzten Tagen vor der Abstimmung neue Umfrageergebnisse nicht mehr zitieren dürfe. Er deutete aber an, daß neueste Zahlen den Trend zugunsten des »Ja« bestätigten.

Im Dezember hatten viele Meinungsforschungsinstitute noch Mehrheiten gegen die Verfassungsänderung ermittelt. Im Verlauf der letzten Wochen kippte die Stimmung jedoch, und die wichtigen Institute Datanálisis, GIS XXI und IVAD sehen nun das »Ja« mehr oder weniger deutlich vorn. Das dürfte auch an der starken Mobilisierung der bolivarischen Bewegung liegen, die zunächst mit einer großen Unterschriftensammlung und dann mit ihren Aktionen und Plakaten das Bild der Städte beherrschte. Regierungsgegner beklagen, daß sich Venezolaner durch diese Kampagne »unter Druck gesetzt« fühlten. In New York erklärte Datanálisis-Chef Luis Vicente León, Chávez werde die Abstimmung möglicherweise deutlicher als erwartet gewinnen, weil viele Venezolaner befürchtenm »schuld am Scheitern der Revolution« zu sein, wenn sie am Sonntag nicht für den Präsidenten stimmen.

Das sieht offenbar auch der frühere polnische Konterrevolutionär und Staatschef Lech Walesa so, der in einem Interview mit der oppositionellen Tageszeitung El Nacional sagte, Chávez genieße die Unterstützung des Volkes, während die Opposition geschwächt und zersplittert sei. »Sie hat keine starken Argumente gegen Chávez, man muß ihr helfen«, sagt Walesa in dem Interview und meint damit sich selbst. Er wolle nach Venezuela kommen und die rechten Parteien unterstützen, kündigte er an. Chávez zeigte sich alarmiert und forderte, Walesa umgehend auszuweisen, falls er sich in die inneren Angelegenheiten Venezuelas einmische. Von einem präventiven Einreiseverbot war jedoch keine Rede, auch wenn internationale Agenturen die Worte des Präsidenten trotz Dementis so interpretierten. Walesa hingegen hat mittlerweile gekniffen und angekündigt, doch nicht nach Venezuela reisen zu wollen.

Doch auch die Anhänger der Regierung sind nervös. Sie haben ihre Niederlage vom Dezember 2007 nicht vergessen, als eine umfangreiche Verfassungsreform knapp abgelehnt worden war. Die Analysen ergaben damals, daß weniger die Stärke der Opposition den Ausschalg für die Niederlage gegeben hatte, als vielmehr die mangelnde Mobilisierung der Regierungsanhänger. Von 7,3 Millionen Stimmen bei der Präsidentschaftswahl ein Jahr zuvor waren die Chávez-Unterstützer 2007 auf 4,3 Millionen abgestürzt, während die Opposition beide Male um 4,5 Millionen Stimmen gewinnen konnte.

Für dieses Wochenende zeigen sich die im Wahlkampfkommando »Simón Bolívar« zusammengeschlossenen Parteien jedoch optimistisch. Sie verweisen auf das Ergebnis der Unterschriftensammlung bei der ihren Angaben zufolge im Dezember und Januar zwischen sechs und sieben Millionen Menschen ihre Unterstützung für die Verfassungsänderung manifestiert hatten.

** Aus: junge Welt, 14. Februar 2009


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