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Abgeordnete folgten Chávez

Parlament billigte Verfassungsreform / Referendum im Dezember

Von Tobias Lambert und Robin Stock *

Die Bürger des südamerikanischen Öllandes Venezuela werden am 2. Dezember über eine sozialistische Verfassungsreform abstimmen, die unter anderem die mehrfache Wiederwahl von Staatschef Hugo Chávez ermöglichen soll. Der Termin des Referendums wurde von der Wahlbehörde CNE in Caracas bekannt gegeben.

Das letzte Wort hat nun die Bevölkerung. Am vergangenen Freitag verabschiedete die venezolanische Nationalversammlung das Projekt einer Reform von 69 der insgesamt 350 Verfassungsartikel, über welches die Bevölkerung in einem Referendum am 2. Dezember abstimmen wird. Mit der Reform soll der Weg zum angestrebten bolivarianischen Sozialismus geebnet werden. Da das Parlament aufgrund des Wahlboykotts der Opposition 2005 ausschließlich aus Anhängern von Staatspräsident Hugo Chávez besteht, fiel das Votum fast einstimmig aus. Bei 161 Ja-Stimmen enthielten sich lediglich die sechs Abgeordneten der sozialdemokratischen Partei Podemos, die der Regierung mittlerweile kritisch gegenüberstehen. Deren Generalsekretär Ismael García bezeichnete die Reform gar als »Staatsstreich gegen die bestehende Verfassung«.

Den ursprünglich 33 von Chávez zur Änderung vorgeschlagenen Artikeln hatte die Nationalversammlung in den Wochen zuvor weitere 36 hinzugefügt. Die Abgeordneten beschlossen zudem, die Reform in zwei getrennten Blöcken zur Wahl zu stellen, wobei Chávez' Vorschlag gemeinsam mit 13 weiteren Artikeln den ersten Block bildet (siehe Kasten). Laut Verfassung darf höchstens ein Drittel der Artikel separat abgestimmt werden.

Der venezolanische Präsident hatte vergangenen Mittwoch überraschend die Aufteilung der Referendumsfrage vorgeschlagen und kam damit einer Forderung der Opposition nach. Diese hatte zuvor eine Welle des Protestes losgetreten. Sämtliche Oppositionsparteien, die katholische Kirche, Unternehmerverbände sowie zahlreiche Universitätsrektoren und Studierende lehnen die geplante Reform einhellig ab. Sie befürchten vor allem eine Konzentrierung der Macht beim Präsidenten sowie eine Einschränkung der politischen und unternehmerischen Freiheiten durch die Festschreibung Venezuelas als »sozialistischer Staat«. Der Vorschlag enthält sowohl Artikel, die den Präsidenten stärken, als auch solche, die die partizipative Demokratie ausweiten.

Wie schon bei den Protesten gegen die Nichtverlängerung der offenen Sendelizenz des oppositionellen Fernsehsenders RCTV vor einem knappen halben Jahr, geht der sichtbarste Protest von oppositionellen Studierenden aus der Mittel- und Oberschicht aus. Nachdem es in Caracas bei einer studentischen Demonstration zum Nationalen Wahlrat (CNE) am vergangenen Donnerstag zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften gekommen war, gingen die Proteste auch am Wochenende weiter.

Während Teile der Opposition die Legitimität der Reform an sich anzweifeln, besteht die Hauptforderung der Studierenden darin, den Wahltermin um drei Monate zu verschieben. Ihrer Ansicht nach sei der Inhalt der Verfassungsreform in der Bevölkerung bisher kaum bekannt.

Da sich die Ablehnung der Reform laut Umfragen in Neinstimmen und Enthaltungen teilt, kann die Regierung derzeit mit einer knappen Mehrheit für das Projekt rechnen. Den offiziellen Wahlkampfauftakt begann die Opposition indes bereits am Sonnabend mit einer Demonstration in Caracas, während die Chavistas am gestrigen Sonntag (Ortszeit) auf die Straße gingen. Für die nächsten Wochen kündigten beide Seiten weitere Demonstrationen an.

Die wichtigsten Verfassungsänderungen

Block A:
Aufhebung der Wiederwahlbeschränkung und Verlängerung der Amtsperiode des Präsidenten auf 7 Jahre, Wochenarbeitszeit von 36 Stunden, Verfassungsrang für Kommunale Räte und Sozialmissionen, Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, Abschaffung der Unabhängigkeit der Zentralbank, Einführung neuer Formen kollektiven und sozialen Besitzes, Sozialversicherungsschutz für Beschäftigte im informellen Sektor, Verbot von Latifundien und Monopolen.

Block B:
Einschränkung der Informationsfreiheit bei Ausrufung eines nationalen Notstands, Verbot von Diskriminierung auf Grund sexueller Orientierung, Anhebung der Mindestzahl von Unterschriften für die Initiierung eines Referendums durch die Bevölkerung, paritätische Wahl universitärer Ämter durch Studierende, Lehrende und Mitarbeiter, Möglichkeit der Absetzung der Obersten Richter durch einfachen Mehrheitsentscheid des venezolanischen Parlaments.



* Aus: Neues Deutschland, 5. November 2007


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