"Volksmacht wird zur wichtigsten aller Gewalten"
Venezuelas Parlamentsvizepräsidentin Desirée Santos Amaral über die Verfassungsreform in ihrem Land
Frage: Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat Mitte August seinen Entwurf zur Verfassungsreform vorgelegt. Das Parlament hat ihm in der ersten Lesung einmütig zugestimmt. Wird der Entwurf auch diskutiert?
Santos Amaral: Sicher. In Venezuela hat sich eine sehr interessante Debatte um den Entwurf entwickelt. Parlament
und Außenministerium führen eine Kampagne unter dem Titel »Die Schlacht um die Wahrheit«, um
im In- und Ausland über die Verfassungsreform aufzuklären.
Was steht in deren Zentrum?
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die per Volksabstimmung angenommene
Verfassung von 1999 bleibt in Kraft, lediglich 33 von 350 Artikeln werden modifiziert und wieder zur
Volksabstimmung vorgelegt. Das Grundanliegen besteht darin, die Macht des Volks zu stärken. Die
Erfahrungen der ersten acht Jahren der bolivarianischen Revolution sollen in die Verfassung
eingebracht werden. In den letzten Jahren wurde den Menschen an der Basis immer mehr
Verantwortung übertragen, das politische Bewusstsein wurde geschärft. Die Gemeinden sollen die
Entscheidungen für sich selbst treffen. Diese Volksmacht soll nun Verfassungsrang erhalten.
Was bedeute das für die bestehenden staatlichen Strukturen?
Der Staatsapparat mit seinen fünf Gewalten – Judikative, Legislative, Exekutive plus die moralische
und die Wahlmacht – bleibt erhalten. Dazu wird die Volksmacht als wichtigste aller Gewalten
etabliert.
Über welche Organe verfügt diese Volksmacht?
Über ein ganzes Bündel, angefangen von den Kommunalen Räten, Nachbarschafts- und
Gesundheitskomitees über Volksbanken bis hin zu weiteren Basiskomitees wie den
Energiekomitees.
Wie verhalten sich die neuen zu den alten Organen?
Beide Ebenen sind miteinander verknüpft, die neuen Organe existieren ja schon eine ganze Weile.
Neu ist, dass sie Verfassungsrang erhalten. So werden Entscheidungsbefugnisse für die neuen
Organe festgelegt, die auch für die alten bindend sind. Missionen wie die Misión Robinson
(Alphabetisierung – d. Red.) oder die Misión Barrio Adentro (Kubanische Ärzte in die Armenviertel),
die als Sofortmaßnahme der Regierung gebildet wurden, um die unmittelbaren Bedürfnisse der
Bevölkerung zu befriedigen, bekommen ebenfalls Verfassungsrang und werden als alternative
Strukturen verankert. So wird eine neue Form der alternativen öffentlichen Verwaltung fest etabliert.
Ein anderer wichtiger Aspekt der Verfassungsreform betrifft die Wirtschaft. Zum Beispiel die
Rückgewinnung der Souveränität über die Zentralbank, die seit 1992 infolge eines Beschlusses der
Regierung von Carlos Andrés Pérez völlig autonom agierte, weil der Internationale Währungsfonds
das verlangte.
Gibt es Zweifel an der Zustimmung zur Verfassungsreform im Parlament oder beim Referendum?
Im Parlament folgen noch zwei Lesungen. Ansonsten wird der Verfassungsentwurf in der
Gesellschaft diskutiert. Das letzte Wort hat das venezolanische Volk beim Referendum am 2.
Dezember. Wir rechnen mit der Zustimmung.
In der deutschen Linken wird darüber diskutiert, ob die Stärkung des Präsidenten –
Sondervollmachten, unbeschränkte Möglichkeit der Wiederwahl – dem Anspruch der partizipativen
Demokratie entspricht. Wie sehen Sie das?
Der Präsident wird durch das Volk gestärkt, er wird durch das Volk gewählt und wiedergewählt. Das
ist demokratisch. Die bolivarianische Revolution ist einig darin, dass Chávez den Prozess anführen
soll. Es gibt keine Person, die ihn ersetzen könnte.
Liegt darin nicht eine Gefahr, wenn der Prozess so stark an einer Person hängt? Attentate sind nie
ganzlich auszuschließen.
Wenn etwas dergleichen passiert, droht ein Bürgerkrieg. Der Frieden in Venezuela wird durch
Chávez garantiert. Das ist sicher.
Und was ist mit der Kritik am Allmachtstreben von Chávez?
Es stimmt nicht, dass Chávez Macht anhäuft. Die Möglichkeit der Wiederwahl bestand schon in der
alten Verfassung. Die Änderung besteht darin, dass der Präsident nun das Recht hat, sich
unmittelbar zur Wiederwahl zu stellen und nicht erst nach einer Wahlperiode. Aber das Volk
entscheidet, ob es ihn wiederwählt oder nicht. Wir sind sicher, dass Chávez noch eine Periode
weitermacht, aber die Entscheidung trifft die Bevölkerung. Das ist doch Partizipation. Und daneben
gibt es die Kommunalen Räte, die Basiskomitees, die Möglichkeit des Abberufungsreferendums.
Das Volk hat alle Möglichkeiten, als Protagonist der partizipativen Demokratie zu agieren.
* Aus: Neues Deutschland 27. September 2007
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