Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Der Sozialismus fängt mit dem Allerkleinsten an"

Gespräch mit Guadalupe Rodríguez. Über die Arbeit ihres politischen Projekts in Caracas, die Verteidigung der Revolution und die Falschmeldungen westlicher Medien über Venezuela *


Was macht die Coordinadora Simón Bolívar?

Wir sind eine sozio-politische Bewegung, die im Herzen des Viertels entstanden ist. Wir kommen nicht aus dem revolutionären Prozeß selbst, sondern hatten schon viele Jahre des Kampfes hinter uns, als Hugo Chávez unser Anführer wurde, den wir nun unterstützen. Vorher waren wir in einer klandestinen Gruppe, unsere Bewegung wurde sehr stark unterdrückt. Egal was im Land geschah, in der Zeitung stand, daß die Coordinadora Simón Bolívar Urheber war. Wir wissen, was Repression in der Vierten Republik bedeutete. Heute machen wir das gleiche wie vorher, aber sie verfolgen uns nicht mehr. Sie reißen die Häuser nicht mehr ab.

Ich habe eine wichtige Aufgabe im Gemeinschaftshaus »Freddy Parra« – Freddy war ein Genosse, der gefallen ist –, das uns einen Freiraum gibt. Das Haus war eine Station der städtischen Polizei, die wir uns zurückgeholt haben. Wir mußten 39 Polizisten hier rausholen. Sie gehörten am 11. April 2002 zu den wichtigsten Akteuren beim Putsch gegen Chávez. Unsere Aufgabe im Jahr 2005 war, hier reinzugehen, sie herauszuholen und das zu verändern, was viele Jahre das Symbol der Repression gewesen war. Denn die Station wurde mit dem Ziel gebaut, die Leute zu unterdrücken, die kämpften. Z. B. schnitten sie uns bis zu fünf Tagen von so lebenswichtigen Dingen wie Wasser ab. Es war nicht nur das Viertel 23 de enero, alle Pläne der Repression im Westen der Stadt wurden von dieser Station her ausgearbeitet. Dieses Haus war das Symbol dafür. Wegen der großen Veränderungen, die es hier gab, nennen es heute sogar viele ein Haus des Friedens.

Wir sind hier hauptsächlich hineingegangen, damit das Radio »Sol de 23« senden konnte. Es ist eines der wichtigsten Kommunikationsprojekte der Coordinadora. Aber dabei blieb es nicht. Jetzt wird der Platz schon langsam knapp, denn jetzt läuft hier die Misión Robinson, die Misión Ribas (siehe Erklärung auf Seite 2 – d.Red.), wir haben einen Kinosaal, um den Leuten aus der comunidad, den Kindern und den Jugendlichen Filme zu zeigen, die einen bildenden und sozialen Inhalt haben und aus denen eine Diskussion entstehen kann. Der Saal ist technisch gut ausgestattet. Dann haben wir noch einen Buchladen des Südens, dort gibt es Bücher für ein, zwei, drei Bolívar. Sehr gute Bücher.

Wann ist die Coordinadora gegründet worden, von wem und was ist die Grundlage der Arbeit?

Die Coordinadora Simón Bolívar arbeitet seit Beginn der 1980er Jahre. Der Name entstand erst 1993. Zu dieser Zeit hat La Causa R viele Leute angezogen, heute sind sie zur Rechten gewechselt. Damals aber war das eine Partei, die uns ein bißchen Hoffnung gab. Es waren Leute, die aus der Linken kamen, und wir fühlten uns von ihnen repräsentiert. Damals gewann Aristóbulo Istúriz die Bürgermeisterwahlen in Caracas, und er war es, der uns sagte, daß wir uns zur Coordinadora umwandeln sollten. Das ging nicht nur an uns, sondern an viele der sozialen Bewegungen, denn so konnte er uns über die Verwaltung Mittel geben, damit die Volksbewegung arbeiten konnte. Bis dahin erhielten wir keine Hilfe vom Staat, leisteten aber eine wichtige soziale Arbeit in der comunidad. Also empfahl er uns, zur Coordinadora zu werden, also zu einer juristischen Einrichtung. Wir haben den Namen bis heute behalten und arbeiten weiter.

Was ist der Unterschied zwischen der Arbeit vor 1998, vor der Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten und danach?

Der Unterschied ist erstens, daß wir nicht mehr verfolgt und unsere Häuser nicht mehr plattgemacht werden. Meine persönliche Ansicht ist, was das Viertel 23 de enero im Vergleich mit anderen Vierteln betrifft, daß wir eine Kampfgeschichte hatten, eine politische Haltung. Zweitens werden wir bei der Arbeit, die wir machen, durch einige Institutionen unterstützt, und drittens sind wir jetzt in den Räumen drin. Das wäre ein Traum geblieben während der Vierten Republik. Wir wären hier nie reingegangen. Das ist ein großer Unterschied. Alles, was geplant wird, kommt von hier.

Was wird gemacht? Wir haben eine Radiostation als eine alternative Kommunikation, weil sie sich in den Händen der comunidad befindet. Wir kennen die Bedeutung und den Schaden, den die privaten Medien mit sich gebracht haben, deswegen betone ich das. Früher hätten wir nie im Leben ein Informationszentrum gehabt wie das, was wir haben, mit 64 Computern. Es ist die wichtigste Arbeit, den Leuten etwas beizubringen, damit sie lernen, damit sie Zugang zur Technologie haben und mit Computern umgehen können. Es gibt noch einen anderen Raum, wo wir Kurse geben. Hier werden die Kinder von der Schule mit einem Bus abgeholt und dann geben wir ihnen Kurse. Den Bus haben wir vom Bürgermeister Juan Barreto bekommen und auch das hätten wir in der Vierten Republik niemals gehabt. Auch die Misiones geben hier Kurse, die Nachbarn kommen, schreiben sich ein und lernen. Die Misiones bedeuten Bildung. Wenn Du schaust, was es alles hier gibt, dann hat alles mit Lernen und Ausbildung zu tun. Ideologische Bildung ist das, was den revolutionären Prozeß stützen kann. Und das komplett gratis.

Wie lief die Besetzung des Hauses ab und was waren die Motive, das genau in dem Moment anzugehen?

In diesem Moment bestand die Möglichkeit, aber es war auch nicht einfach. Wir hatten ein Projekt ausgearbeitet, das wir dem Bürgermeister Juan Barreto präsentiert haben. Wir haben ihm unterbreitet, diese Räumlichkeiten an uns abzugeben, um das Radio zum Laufen zu bringen. Außerdem waren diese Räume ein Zentrum der Korruption. Die Polizei hatte feste Sätze. Einen z. B. dafür, wenn sie einen Jugendlichen mit einer illegalen Waffe antraf. Er mußte einen Satz zahlen und dann gaben sie ihm die Waffe zurück. Wenn jemand Drogen besaß, gab es einen anderen Satz.

Der letzte Tote, den sie zu verantworten haben, starb am 11. April 2002, also beim Staatsstreich gegen unseren Präsidenten. Das war der Genosse Alexis González, der Mitglied der Coordinadora Simón Bolívar war, ein sehr wertvoller Genosse. Er kam aus den Kämpfen in Nicaragua und war dort Lehrer in der Alphabetisierung. Dort hat er sich in eine Genossin verliebt, die auch dort im Kampf stand, heiratete sie und kam nach Venezuela, um das, was er dort gemacht hatte, hier fortzusetzen. Er beteiligte sich am Prozeß, den die Coordinadora Simón Bolívar vorangetrieben hat. An dem besagten Tag verpaßten sie ihm auf dem Parkplatz nicht weit weg von hier drei Schüsse. In der Geschichte des 23 de enero gab es etwa 100 Tote im politischen Kampf. Nicht alle allerdings hat die Polizei getötet, die hier in der Station saß.

Wir haben uns also an den Bürgermeister gewandt. Wir haben ihm die Projektidee präsentiert, und er war damit einverstanden. Wir haben sie allen Ämtern vorgestellt, die etwas mit Sicherheit im Staat zu tun hatten, auch dem Kommandanten der städtischen Polizei. Die haben sich vom ersten Moment an verweigert. Dann haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, Versammlungen mit der comunidad abzuhalten, und wollten, daß dann die Repräsentanten kommen, denen wir das Projekt präsentiert haben. Die sind aber niemals gekommen. Am letzten Tag, dem 21. August 2005, hielten wir die letzte Versammlung ab und wollten selbst aktiv werden, wenn sie nicht kommen würden. Sie kamen nicht, und wir haben die Entscheidung getroffen, daß wir selbst da reingehen müssen. Wir wollten die Entscheidung nicht auf diese Art und Weise treffen, weil wir uns unter dieser Regierung und in diesem Prozeß befinden. Deswegen haben wir unsere Methoden geändert und wollten das nicht wie früher machen. Aber es war nicht möglich, weil die Polizisten nicht gehen wollten. Also haben wir uns entschieden, daß wir sie da rausholen müssen. Zum Glück war es kein so gewaltsames Ereignis. Im Grunde genommen hatten die verstanden, worum es geht und daß es keine andere Lösung gab, als zu gehen.

An diesem Tag wurden wir selbst von den Leuten unterstützt, die sich sonst nicht so viel für Politik interessieren. Dazu gehören einzelne Personen oder der Klub der Großeltern, der wie das Gemeinschaftshaus auch nach Freddy Parra benannt ist. Sie sind auch mit reingekommen, um die Polizei rauszuholen, und sie hatten keine Angst. Heute sind sie immer noch mit uns hier. Das gibt diesem Prozeß eine besondere Bedeutung, denn es werden Menschen wie die Alten wahrgenommen, für die sich vorher niemand interessierte. Sie haben ihren Club und ein sehr großes Zugehörigkeitsgefühl zur Coordinadora. Sie kommen jeden Tag und machen ihre Übungen mit einer Helferin, die eine Aktivistin der Coordinadora Simón Bolívar ist. Sie koordiniert die Ausflüge, die Feiern, den Muttertag, Weihnachten und alles, was mit ihrer Gesundheit zu tun hat. Sie machen Übungen, spielen Schach und weitere Dinge, die die Leute in dem Alter brauchen, damit sie wach und aktiv bleiben. Die sind also heute immer noch hier.

So funktioniert der Prozeß, den wir hier ausgelöst haben. Einmal sind die Polizisten gekommen und haben uns provoziert, aber es ist nichts passiert. Ich werde nie vergessen, wie einer der Polizisten gesagt hat: »Bleibt ruhig hier, ich sage gar nichts, wir holen Chávez in einem Jahr da weg und dann sehen wir uns wieder.«

Welche Bedeutung hat das Radio?

Am Anfang war es ganz wichtig, sogar eines der wichtigsten Projekte der Coordinadora. Wir müssen uns weiter darum kümmern, es tragen. Ein Radio zu führen ist nicht einfach. Wir bekommen keine finanzielle Unterstützung. Das Radio ist eine Waffe zur Befreiung, ein unglaubliches Mittel der Artikulation. Es hat einen großen Einfluß auf die comunidad. Die Leute bekommen wahrhaftige Information. Wir sind auch kritisch, und wenn es etwas zu hinterfragen gibt, dann machen wir das auch. Aber im gesunden Rahmen. Wir kritisieren nicht, um zu kritisieren, und wenn wir etwas in Frage stellen, dann konstruktiv und nicht auf die schädliche Art, wie es die Rechte macht. Es ist offensichtlich: Wir leben nicht in der schönen Revolution. Wenn Sie den staatlichen Kanal VTV anstellen, dann sehen Sie diese schöne Revolution. Aber wenn Sie hierherkommen, das Radio einschalten und die politischen und Meinungssendungen verfolgen, dann hören Sie, daß es keine schöne, perfekte Revolution gibt. Das ist eine Lüge. Revolutionen werden nicht per Dekret befohlen. Wir bauen den Prozeß auf für die Revolution, für den Sozialismus. Wir arbeiten daran mit unseren Maßnahmen, unseren Modellen, unseren eigenen Erfahrungen und mit dem, was wir in der Hand haben. Ich gehöre zu denen, die sagen, daß der Sozialismus mit dem Allerkleinsten anfängt und das ist die Arbeit, die man machen kann. Also beispielsweise als Hausfrau oder Krankenschwester, was die Volksbewegung in der comunidad machen kann. Die Volksbewegung macht eine sehr wichtige Arbeit und arbeitet als einzige an der Revolution im Barrio.

Was sind für Sie die wichtigsten aktuellen Baustellen, um den revolutionären Prozeß zu vertiefen?

Wir sind nicht immer mit allem einverstanden. Ich auch nicht. Offensichtlich ist die Korruption, die nicht aufgehört hat, und niemand wird deswegen hinter Gitter gebracht. Als Chávez an die Macht kam, wollten die Leute, daß er Köpfe rollen läßt, aber er hat nichts davon gemacht. Deswegen kann man auch nicht von einer Diktatur sprechen. Wir befinden uns in einem friedlichen, langsamen Prozeß. Die Strukturen haben sich nicht geändert, aber es ist wichtig, die Schemata zu ändern, z.B. durch die Parlamentswahlen. Das dient dazu, das bourgeoise bürokratische und klientelistische System zu stürzen, das immer noch existiert.

Es gibt ziemlich viel Bürokratie, das hat gar nichts mit Chávez zu tun. Das hat etwas zu tun mit jedem selbst als Person und mit dem Erbe, das wir aus den 40 Jahren der Vierten Republik mitgebracht haben, denn es sind immer noch die Leute da, die in der Vierten Republik gelebt haben, auch in den Institutionen. Wir sind nicht rangegangen, wie sie es gemacht hätten und haben einfach Köpfe rollen lassen. Sie haben das am 11. April 2002 gemacht, als sie kurz die Gelegenheit hatten. Vielleicht hätten wir einen größeren Fortschritt gehabt, wenn wir das gemacht hätten, aber alles hat seine Zeit, wir müssen es in der Geschwindigkeit tun, die die Dinge verlangen.

Wie sieht Ihre Strategie bezüglich der vielen Fehlinformationen aus, die auch über Sie verbreitet werden wie z. B. in dem CNN-Beitrag, der vor kurzem lief und hier gedreht wurde?

Die Medien sind eine Bedrohung, die wir permanent haben werden. Diese Form der falschen Berichterstattung ist im Interesse derer, die immer mehr ökonomische und kommunikative Macht verloren haben. Sie machen das, um diese Macht zu retten, die der Rechten im Dienst der Imperialisten. Wenn man uns »Chávez’ Wächter« nennt, dann greift uns das nicht an. Wir müssen die Wächter von Chávez sein, aber nicht von ihm als Person, sondern des Prozesses, der mit ihm verbunden ist.

Wir müssen nicht nur die Wächter sein, wir müssen den Prozeß anstoßen, um ihn zu verteidigen, um ihn zu erhalten. Wir spielen gerade eine sehr wichtige Rolle. Es geht nicht nur um einen Prozeß in unserem Land, sondern um die Integration des lateinamerikanischen Kontinents und der Karibik. Chávez hat auch dort Interesse geweckt, das gefällt dem Imperium nicht. Es geht nicht nur um Venezuela, auch um Argentinien oder Bolivien. Das ist das Projekt, das wir anstoßen müssen. Die politische Realität in Venezuela hat sich geändert. Es wäre schön blöd zu sagen, daß das nicht so ist.

Wenn Sie mich fragen, ob ich meinen Fernseher verkaufe, um mir von dem Geld eine Waffe zu kaufen, um den Prozeß zu verteidigen, dann mache ich das. Ich muß diese Sache verteidigen, egal was es kostet. Zurück? Niemals! Wir sind nicht bereit dazu, die sozialen Errungenschaften zu verlieren, die wir bis jetzt erreicht haben. Wenn ich jetzt von der Miliz spreche, wird das häufig in Frage gestellt. Die Leute müssen eine Grundausbildung in Verteidigung haben. Wir haben den 11. April 2002 erlebt, als sie unsere Leute umgebracht haben wie den Genossen Alexis González. Wir müssen uns ausbilden, denn wenn hier etwas passiert, dann müssen wir uns wenigsten ein kleines bißchen verteidigen. Das ist nicht schlecht, das ist die Realität in jedem Land, das einen Wandel durchmacht wie Venezuela. Sollen wir etwa warten, bis sie kommen und uns den Kopf abschneiden, und wir stehen da mit verschränkten Armen? Das kann nicht sein. Oder ist es so, daß die Vereinigten Staaten keine militärische Ausbildung durchführen und keine Waffen kaufen? Haben sie nicht die modernsten Waffen, die es gibt? Ich kann nicht verstehen, daß es, wenn wir hier Helikopter kaufen, so ein Geschrei in der Welt gibt. Also bitte: Es ist unsere Pflicht, die Souveränität unseres Landes zu verteidigen, die durch den bekannten Feind bedroht ist. Klar bereiten wir uns vor, aber punktuell. Das ist nicht unser normaler Alltag. Unser Alltag spielt sich hier ab, im Frieden, im Gemeinschaftshaus »Freddy Parra«, wo die Omas ihre Übungen machen und die Kinder ihren Tanzunterricht nehmen, wo die Leute aus allen Altersstufen kommen und die Misiones, den Buchladen und den Kinosaal nutzen.

Hinter dem Haus bauen wir die Produktion von Cachamas (»Schwarzer Pacu«, großer Speisefisch – d. Red.) auf, eine sozialistische Produktionseinheit. Wir bauen einen Supermarkt mit subventionierten Produkten auf, damit sie nicht in die Tasche des kleinen Venezolaners greifen, wir errichten die »Cafés Venezuela« (subventionierte Cafés, die auch als Begegnungszentren dienen – d. Red.). Es sind so viele Sachen, die wir ändern und für die der Staat uns alle diese Hilfen gibt.

Jedes Mal, wenn Chávez redet, bildet er uns. Früher haben sich die Leute nicht für Politik interessiert und nicht gelesen. Heute, wenn Chávez ein Buch vorschlägt, dann laufen sie los, kaufen und lesen das. Das ist wichtig. Wir haben einen Anführer, der charismatisch ist. Die Menschen mögen ihn und entwickeln ein großes Gefühl ihm gegenüber. Aber wir müssen uns natürlich politisch bilden. Eine Revolution wird nicht getragen von dem Gefühl. Die Leute scheiden ihre Ehen ständig, das zeigt, daß das Gefühl dir im Endeffekt nichts garantiert. Die Leute müssen sich bilden, ideologisch bilden, damit sie wissen, was sie in diesem Land verteidigen.

Was ist die Strategie, damit die rechten Medien nicht solche Dokumentarfilme machen?

Wir müssen unsere Kommunikationsmittel stärken, Videos und Interviews, um den Lügen zu begegnen. Ich weiß nicht, ob Sie die Videos von Ángel Palacios gesehen haben. Dieser Genosse schafft es darzustellen, daß alle Versionen der Rechten vom 11. April 2002 falsch sind. Erst hieß es, wir seien die Mörder, und wurden ins Gefängnis gesteckt. Aber tatsächlich sind sie die Mörder, es waren unsere Toten. Er hat es geschafft, ein Video zu drehen, in dem das alles ganz klar wird. Er hat sehr viele solcher Videos gedreht, nicht nur über Venezuela, sondern auch über andere Konflikte in der lateinamerikanischen Welt, z. B. über Salvador Allende oder die Bankenkrise in den Vereinigten Staaten.

Was können wir in Venezuela und in Europa machen?

Sie haben das Glück, die Möglichkeit und die Chance, hier zu sein, können sich ein Bild davon machen, was hier passiert. Wir wissen, dass es bei Ihnen noch keine richtige Kraft gibt, die man sieht. Das war bei uns auch so. Wir haben nie aufgehört zu träumen und zu kämpfen. Es geht immer darum, auf allen Wegen Möglichkeiten zu suchen, die man hat. Sie können eine Artikulationsmöglichkeit finden, die hilft, ein politisches Projekt voranzutreiben. Weder hier noch bei Ihnen ist es einfach, bei Ihnen noch weitaus schwieriger als bei uns. Es gibt viele Leute, die mit dem sympathisieren, was bei uns geschieht. Für uns ist das wichtig. Uns fehlt die internationale Unterstützung und deswegen war die Außenpolitik des Präsidenten die beste, die er machen konnte. Es ist wichtig, die Verbindungen zu anderen Ländern zu suchen. Allein würden wir uns nicht verteidigen können.

Interview: Helge Buttkereit

Übersetzung in Venezuela und ergänzende Fragen: Tine Steininger und Gerrit Post



Übersetzung in Deutschland: Karla Metzkow und Aaron Langner

Wir entnahmen das Interview dem Band von jW-Autor Helge Buttkereit: »Wir haben keine Angst mehr« mit Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen Venezuela (Pahl-Rugenstein, Bonn 2011, 167 Seiten, 14,90 Euro), der am 30. September erscheint. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck.



23 de enero: Das Stadtviertel 23 de enero (23. Januar) ist benannt nach dem Tag des Sturzes von Diktator Pérez Jiménez im Jahr 1958. Es gilt als eines der politisch radikalsten im Land, unterstützt in der Mehrheit Hugo Chávez – das Stadtviertel beginnt direkt hinter dem Sitz des Präsidenten.

Comunidad: Der Begriff ist schwer mit einem Wort ins Deutsche zu übersetzen, denn die »Gemeinschaft«, die er beschreibt, ist in der Form hierzulande nicht mehr erhalten. Historisch ist sie in Mitteleuropa am ehesten vergleichbar mit ländlichen Genossenschaften oder vorkapitalistischen Dorfgemeinschaften. Im Prinzip handelt es sich bei den comunidades in den Städten um die Übernahme der Tradi­tion vom Land, wo diese Form der Organisation am ausgeprägtesten ist.

Misiones: Die Sozialprogramme der Regierung Chávez heißen Misiones (Missionen). Es gibt z.B. die Misiones Barrio Adentro (Programm zur Gesundheitsversorgung der armen Stadtviertel), Robinson (Bildungsprogramm in zwei Teilen: erster Teil Alphabetisierung, zweiter Teil Grundschulbildung), Ribas (Bildungsprogramm zur Erlangung der Mittleren Reife), Cultura »Corazon Adentro« (Kulturprogramm zur Rückbesinnung auf die eigene Tradition), Vuelvan Caras (Programm zum Aufbau von Kooperativen und zur Wiedereingliederung der Marginalisierten) und Mercal (subventionierte Versorgung mit den Waren des täglichen Bedarfs). Die Misiones werden größtenteils direkt aus der Ölrente, also dem Verkauf von Öl auf dem Weltmarkt, finanziert.



* Aus: junge Welt, 17. September 2011


Zurück zur Venezuela-Seite

Zurück zur Homepage