Öffentliche Parlamentssitzung auf dem zentralen Simón-Bolívar-Platz von Caracas
Chávez lässt sich Vollmachten für den Sozialismus geben - US-Regierung: "Bedrohung für Südamerika" - Zwei Artikel, ein Kommentar
Sondervollmachten für den Sozialismus
Venezuelas Parlament stärkt Macht von Chávez
Mit den Sondervollmachten, die Venezuelas Präsident Hugo Chávez vom Parlament erhielt, soll in
den kommenden 18 Monaten der Sozialismus in dem südamerikanischen Land als Staatsform
verankert werden.
Caracas (Agenturen/ND). Die Abgeordneten hatten das entsprechende Gesetz am Mittwoch
(31. Januar 2007) bei einer öffentlichen Vollversammlung auf dem Bolivar-Platz im Zentrum von Caracas
verabschiedet. Anschließend rief Parlamentspräsidentin Celia Flores in die Menge: »Hoch lebe das
souveräne Volk! Hoch lebe Präsident Hugo Chávez! Hoch lebe der Sozialismus! Vaterland,
Sozialismus oder Tod!« Laut dem »Ermächtigenden Gesetz« wird Chávez in der Praxis zum
uneingeschränkten Gesetzgeber in nahezu allen Bereichen – vom öffentlichen Dienst über den
Wirtschafts- und Sozialsektor bis hin zur inneren Sicherheit und zur Landesverteidigung.
Die Opposition bezeichnete Chávez als »Tyrann«. Der Industrieverband Conindustria rief die
Regierung und das Parlament erst vor wenigen Tagen auf, »demokratische Werte wie das freie
Unternehmertum, Privateigentum sowie Gedanken- und Meinungsfreiheit« zu respektieren. Nach
den Vorstellungen von Chávez sollen unter anderem das Finanz- und Steuersystem, das
Bankwesen und die Landesverteidigung neu definiert werden. In den nächsten Monaten will er auch
eine Reform der Verfassung von 1999 durchsetzen, die unter anderem auf die unbegrenzte
Wiederwählbarkeit des Präsidenten sowie auf eine neue Definition des Privateigentums zielt.
USA-Präsident George W. Bush kritisierte die Sondervollmachten für Chávez. Er sei wegen des
Rückgangs der Demokratie besorgt, sagte Bush. Die Nationalisierung der Industrie werde es für die
Menschen in Venezuela schwieriger machen, aus der Armut herauszukommen. Der designierte
Vizeaußenminister der USA, John Negroponte, nannte Chávez eine Bedrohung für die
demokratische Entwicklung Südamerikas. »Er hat versucht, seine Version des radikalen Populismus
zu exportieren, und ich glaube, dass sein Verhalten eine Bedrohung für die Demokratien in der
Region ist«, sagte Negroponte.
* Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2007
Revolutionäre Ungeduld
Kommentar von Martin Ling *
Hugo Chávez treibt offensichtlich die revolutionäre Ungeduld. Das ist sympathisch, aber nicht ohne Fallstricke. Für 18 Monate hat er sich vom Parlament Sondervollmachten geben lassen, um die bolivarianischen Revolution schneller vorantreiben zu können. Der Aufschrei bei der im Parlament wegen Wahlboykott nicht vertretenen Opposition ist groß, ebenso bei der USA-Regierung und vielen westlichen Medien: Venezuela sei eine Diktatur mit Chávez als Diktator. Das ist Blödsinn.
Fakt ist, dass laut dem chilenischen Umfrageinstitut Latinobarómetro in keinem Land Lateinamerikas die Zustimmung zur Regierungsform Demokratie seit 1998 – dem ersten Wahlsieg von Chávez – stärker gestiegen ist als in Venezuela. Fakt ist auch, dass Chávez bei der Bevölkerung weit mehr Kredit genießt als die Abgeordneten, weswegen eine Mehrheit der Bevölkerung die Sondervollmachten sogar begrüßen dürfte.
Fakt ist aber auch, dass Chávez seine persönliche Macht mehr und mehr ausbaut. Wie er das schlüssig mit seiner Devise, »die Macht den Armen zu geben, um die Armut zu bekämpfen«, verbinden will, muss er noch erläutern. Basisdemokratie erfordert Kontrollmöglichkeiten über Abberufungsreferenden hinaus. Ohne internen Widerspruch fehlt der Revolution der Antrieb. Ein allmächtiger Chávez allein reicht nicht.
* Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2007
Sondervollmachten für Chávez beschlossen
Neues Gesetz erlaubt dem Staatschef, mit Dekreten in elf Bereichen zu regieren. Beistand von der Basis
Von Harald Neuber **
Einstimmig hat das venezolanische Parlament am Mittwoch (31. Januar 2007) ein Gesetz verabschiedet, das Präsident Hugo Chávez weitreichende Vollmachten verleiht. Die auf 18 Monate beschränkte Regelung erlaubt es dem Staatschef, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren in elf Bereichen zu umgehen und per Dekret zu regieren. In der Nationalversammlung gab es dagegen keinen Widerstand. Seit einen Boykott der Opposition im Dezember 2005, sitzen in der Legislative nur noch Vertreter der Regierungskoalition. Die Parlamentstagung, auf der das Gesetz verabschiedet wurde, fand öffentlich auf dem zentralen Simón-Bolívar-Platz im Zentrum der Hauptstadt Caracas statt.
Schon nach der ersten Lesung am 18. Januar hatten Parlamentsmitglieder das Vorhaben mit der Notwendigkeit begründet, den Systemwandel hin zum Sozialismus zu beschleunigen. Das in vier Kapitel gegliederte Gesetz soll den »Aufbau eines neuen, nachhaltigen ökonomischen und sozialen Modells« in Venezuela ermöglichen. Benannt werden unter anderem der Umbau der staatlichen Institutionen, wirtschaftliche und soziale Belange, Sicherheit und Verteidigung sowie Energie, Steuern und Finanzen.
Parallel zu den Debatten im Parlament hatten Abgeordnete des chavistischen Lagers an der Basis für die Bestimmung geworben. Parlamentspräsidentin Celia Flores hatte einen solchen »Parlamentarismus der Straße« auch eingefordert, um Meinungen über das Gesetz einzuholen. Daß die Unterstützung gegeben ist, bewiesen Regierungsanhänger nach der Debatte. Während die Opposition und ausländische Medien die Regelung als »Ermächtigungsgesetz« kritisierten, verfolgten Tausende Menschen die öffentliche Parlamentssitzung am Mittwoch. »Lang lebe das souveräne Volk!« rief ihnen Flores zu, »Lang lebe der Sozialismus!«
Seit 1961 sind in Venezuela neun Gesetze verabschiedet worden, mit denen dem jeweiligen Staatschef vorübergehende Sondervollmachten verliehen wurden.
** Aus: junge Welt, 2. Februar 2007
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