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Blick auf Venezuelas Revolution

Sammelband betrachtet Veränderungen von Gesellschaft und Wirtschaft

Von Peter Nowak *

Das Buch »Revolution als Prozess, Selbstorganisation und Partizipation in Venezuela« wirft einen detaillierten Blick auf die bolivarianische Revolution in Venezuela.

Wenn über die Entwicklung in Venezuela diskutiert wird, scheiden sich vor allem an Präsident Hugo Chávez die Geister. Die Entwicklung an der Basis hingegen hat die Gruppe »MovimientoR«, ein Kreis sozialkritischer Studierender und Intellektueller, im Fokus. Über die Veränderungen in den Stadtteilen, im Bildungs- und Gesundheitswesen, den Medien und der Wirtschaft hat das Projekt im VSA-Verlag ein Buch herausgegeben.

In den neun Kapiteln werden dabei die Entwicklungen in Venezuela nicht unkritisch glorifiziert. Der Titel des Beitrags von Dario Azzellini »Von den Mühen der Ebene« ist in dieser Hinsicht programmatisch. Der Autor informiert differenziert über die Selbst- und Mitbestimmungsversuche in der venezolanischen Industrie. Als gelungenes Beispiel wird die Aluminiumfabrik Alcasa genannt.

Mit dem marxistischen Ex-Guerillero Carlos Lanz als von der Basis gewähltem Arbeitsdirektor ist diese zum Musterbetrieb für Arbeiterselbstverwaltung geworden. Und konnte dabei die Produktion sogar noch um mehr als zehn Prozent steigern. Als Negativbeispiel wird das größte Papierunternehmen Lateinamerikas Invepal ebenfalls nicht verschwiegen. Der dort von der Belegschaft zum Arbeitsdirektor gewählte Gewerkschafter Edgar Pena wurde von selbiger wegen Misswirtschaft und Korruption wieder abgesetzt.

Die beiden Stadtsoziologen Andrej Holm und Matthias Bernt bezeichnen das Modell der sozialen Kontrolle von Basisbewegungen und Initiativen, die über die Geldvergabe für Stadtteilprojekte entscheiden können und Einblick in sämtliche Dokumente und die Buchführung der Verwaltung haben, als Kernstück jener partizipativen Demokratie, die in Venezuelas Verfassung festgeschrieben ist. Im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie europäischer Prägung, basiert das partizipative Modell auf einer ständigen Gegenmacht von unten. Bei allen Problemen in dieser Entwicklung, die auch Bernt und Holm offen ansprechen, sehen sie in diesem Modell »auf jeden Fall einen neuen Ansatz, der nicht nur in Venezuela eine Demokratisierung der Stadtentwicklung einleitet, sondern auch für uns einige Denkanstöße bereithält«.

Am Beispiel der venezolanischen Medienpolitik wird die Diskrepanz zwischen der bei uns veröffentlichten Meinung und der Realität im Land besonders offensichtlich. Während hierzulande auch Journalistenorganisationen das Ende der Pressefreiheit befürchteten, als bei der Neuverteilung der terrestrischen Frequenzen ein großer Kommerzsender leer ausging, beschreibt Malte Daniljuk, wie die alternativen Medien des Landes diese Entscheidung als Beitrag zur Demokratisierung der Medienlandschaft begrüßten. Sie sollte nicht mehr nur Stimme der venezolanischen Oberschicht sein.

Jan Kühn berichtet kenntnisreich, wie schon in den 90er Jahren in den Stadtteilen jene Komitees und Initiativen entstanden, die die Wahl von Chávez zum Präsidenten erst ermöglicht haben und die ihn in seiner Amtszeit kritisch begleiten. »Wir sagen nicht, was die Regierung will. Die Regierung sagt, was wir schon viel länger vertreten«, lautet ihre Devise.

Holm, Andrej (Hg.): Revolution als Prozess, Selbstorganisation und Partizipation in Venezuela, Hamburg 2007, 169 Seiten, 14,80 Euro

* Aus: Neues Deutschland, 13. November 2007


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