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"Das Problem ist die Bürokratie"

Basisaktivist Candelario Reina über die bolivarianische Revolution vier Jahre nach dem Putsch

Candelario Reina arbeitet seit vielen Jahren als Stadtteilaktivist in Caracas. Der Putschversuch gegen die Regierung Chávez jährt sich heute [11. April 2006] zum vierten Mal. Über die Dynamik und die Hemmnisse der bolivarianischen Revolution in Venezuela und die Funktion des Präsidenten Hugo Chávez sprach mit Reina für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Ling. Wir dokumentieren das Interview.



ND: Wie hat sich die Dynamik der bolivarianischen Revolution entwickelt, seitdem Chávez nach dem Putsch gegen ihn am 11. April 2002 durch die Massenproteste seiner Anhänger nach drei Tagen wieder inthronisiert wurde?

Reina: Formal hat Chávez die letzten elf Wahlen gewonnen, das ist von Bedeutung. Aber darüber hinaus wächst die Zahl der an dem Prozess beteiligten Menschen.

Die Wahlbeteiligung vermittelt einen anderen Eindruck. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Dezember lag sie gerade einmal bei 25 Prozent. Lag das am Boykottaufruf der nicht teilnehmenden Opposition oder stehen 75 Prozent der Bevölkerung der bolivarianischen Revolution gleichgültig gegenüber?

Das sind in erster Linie nur Statistiken. In der Wirklichkeit gibt es eine Basis, die sich sehr stark dem bolivarianischen Prozess verpflichtet fühlt. Die politische Führung in Venezuela ist mit dem Problem konfrontiert, dass der Präsident über allen schwebt. Die politischen Parteien setzen in der einen oder anderen Weise den Austausch mit der Basis fort, wie ihn schon die traditionellen Parteien gepflegt haben. Dieser Paternalismus und Klientelismus kommt bei vielen nicht mehr gut an. Die niedrige Wahlbeteiligung ist ein Ausdruck dieses Protests gegen die Parteien. Die Leute unterscheiden sehr genau zwischen dem Präsidenten und den Parteien. In der Wahrnehmung der Menschen sind das politische System und der bolivarianische Prozess zwei vollständig voneinander getrennte Sachen.

Welche Vorstellungen hat die Basis?

Die aktive Basis verlangt einen strukturellen Wandel im politisch-demokratischen System in Richtung eines partizipativ-sozialistischen Systems. Es besteht nach wie vor das Problem, das zwar einerseits der revolutionäre Prozess fortschreitet, andererseits aber die politischen Strukturen unverändert von der Bourgeoisie beherrscht werden. Sie beeinflusst die Legislative und die Exekutive. Nach wie vor werden Gesetze für die Unternehmer erlassen, die die Rechte der Bevölkerung außen vor lassen. Gesetze wie das Landreform- und das Fischereigesetz müssen vertieft werden, damit die Bevölkerung wirklichen Nutzen daraus ziehen kann. Bis jetzt repräsentieren die Gesetze das System und nicht die Interessen der Bevölkerung.

Aber im Parlament haben doch die Parteigänger von Chávez klar die Mehrheit?

Schon. Dennoch gibt es eine sehr heftige Diskussion zwischen den Parlamentariern und den Basisaktivisten. Die Basisaktivsten fordern einen Parlamentarismus der Straße, sie wollen, dass die Parlamentarier aus ihrem schönen Parlamentsgebäude herauskommen und sich mit der Realität in den Stadtvierteln auseinander setzen. Venezuela hat eine sehr lange Geschichte, in der große Teile der Bevölkerung ausgeschlossen wurden – sozial und politisch. Die Aufgabe der Parlamentarier muss es sein, die sozialen Ungleichgewichte zu beheben und nicht, sich vor den Wählern zu verstecken. Sie haben den Job, einen Wandel zu bewirken.

Der revolutionäre Prozess spielt sich somit jenseits der institutionellen Parteien ab?

Genau. Ein Aspekt, auf den wir sehr stolz sind, ist, dass das revolutionäre System gegen den Willen der traditionellen Parteien durchgesetzt werden konnte und nicht von ihnen bereitwillig konzediert wurde. Viele linke Parteien in Venezuela sind von ihren Strukturen her genau so traditionell wie konservative oder rechte – insbesondere was ihr Verhältnis zum bürokratischen und bürgerlichen Parlamentarismus angeht. Die Basis hat sich weiterentwickelt. Die politischen Parteien sind dagegen weiter in denselben Strukturen eingeschlossen wie vor 15, 20 Jahren. Das ist ein Gegensatz zum Prozess der Selbstorganisation an der Basis in den Stadtvierteln und auf dem Land.

Welche Rolle spielt die neue Verfassung?

Die Verfassung hat den Präsidenten Hugo Chávez nicht vor dem Putsch am 11. April gerettet. Die Bevölkerung hat ihn gerettet – ihre Fähigkeit, Massen zu mobilisieren. Aber es ist wichtig hervorzuheben, dass die Revolution in Venezuela keine Revolution gegen eine Diktatur ist, sondern es darum geht, den Wandel des demokratisch-politischen Systems voranzutreiben, das seit Ende der Jiménez-Diktatur 1958 existiert, aber dennoch große soziale Ungleichgewichte nicht verhindert hat. Es geht um die Auseinandersetzung zwischen dem Protagonismus der Basis und dem Antagonismus des politischen Systems. Die Basis steht für den Wunsch nach einem Leben in einer besseren Welt, ohne soziale Schieflagen. Demokratie hat für uns bis 1958 bedeutet, gegen die Diktatur und den Totalitarismus zu kämpfen. Die bolivarianische Revolution in Venezuela ist deshalb atypisch: Es geht um den friedlichen Wandel eines politischen Systems – gegen die beharrenden parlamentarisch-bürgerlichen Kräfte.

Und die Revolution schreitet voran?

Die Zahl der Unterstützer nimmt nach wie vor zu und die Missionen werden immer weiter ausgebaut. Die Missionen sind Programme der Regierung zur Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung (Mercal), der Alphabetisierung (Robinson), der medizinischen Versorgung (Barrio Adentro) und der Bildungsmissionen (Sucre, Ribas), um nur die Bekannteren zu nennen. Ein Beispiel ist die bolivarianische Universität, die 2003 mit 10 000 Studenten startete, jetzt sind es bereits 200 000. Das ist ein Indikator dafür, welches Ausmaß an Ausschluss breiter Schichten von höherer Bildung es gegeben hat und ein Indikator dafür, dass sich das nun ändert. Die anderen staatlichen Universitäten haben sich einfach geweigert, Studenten aus den ärmeren Schichten aufzunehmen.

Welche Rolle spielt Hugo Chávez in diesem Prozess? Auch ihm wird zuweilen paternalistisches und populistisches Handeln vorgeworfen.

Chávez ist ein außergewöhnlicher Kommunikator. Das ermöglicht ihm einen Kontakt zur Basis, den nur wenige politische Führer in Lateinamerika oder sonst wo auf der Welt haben. Er befindet sich quasi in einer permanenten erzieherischen Mission, gibt Ratschläge etc.
Bedauernswerterweise muss er auch Rollen übernehmen, die eigentlich andere Politiker spielen müssten, aber die sind aus Mangel an Fähigkeit oder Bildung nicht dazu in der Lage. Diese sind es, die diese Form der Führerschaft von Chávez fördern.
Der Paternalismus existiert in dem Sinne, dass Chávez der große Mobilisator und Verantwortungsträger für die sozio-ökonomischen Prozesse ist. Der Präsident muss oft in die Bresche springen, wenn Probleme von den Entscheidungsträgern nicht gelöst werden, sei es, wenn der Bürgermeister die Müllbeseitigung nicht auf die Reihe bekommt, Minister ihre Aufgaben nicht erfüllen. Dann ist Chávez gefragt und gefordert und das erscheint als paternalistische Vorgehensweise. Mit Populismus wird in der politischen Theorie ein Verhalten bezeichnet, wenn ein Politiker großzügige Versprechen macht, die er dann nicht hält. Im Falle von Chávez trifft das nicht zu. Er ist meines Erachtens weit davon entfernt, ein Populist zu sein, weil er sich stark an sein Wort gebunden fühlt. Was der zügigen Umsetzung seiner Versprechen entgegen steht, ist die nach wie vor weitgehend intakte bürokratische Struktur des vorrevolutionären Staates, die sich dem bolivarianischen Prozess entgegen stellt.

* Aus: Neues Deutschland, 11. April 2006


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