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Das Wahlergebnis "ist gut für den Ölmarkt"

Nach dem Sieg des venezolanischen Präsidenten: Meldungen, Kommentare, Perspektiven

Venezuela: 58 Prozent der Wähler sprachen sich nach Auszählung fast aller Stimmen für den Verbleib von Hugo Chávez im Amt aus, wie die Wahlkommission am 16. August 2004 erklärte. Nur 42 Prozent waren für eine Ablösung des Präsidenten. Unabhängige Wahlbeobachter bestätigten Chávez' Sieg und wiesen Betrugsvorwürfe der Opposition zurück.

Nach Angaben des Wahlleiters, Francisco Carrasqueros, sprachen sich bei der Wahl am Sonntag, den 15. August, nach vorläufigen Ergebnissen 4,99 Millionen Wahlberechtigte gegen eine Absetzung von Chávez aus. 3,58 Millionen waren dafür. Die Beteiligung an dem Referendum erreichte mit rund 8,57 Millionen abgegebenen Stimmen einen Rekord, wegen des großen Andrangs wurde die Schließung der Wahllokale am Sonntag mehrfach verschoben.

Chávez erklärte sich unmittelbar nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse zum Gewinner der Abstimmung. "Venezuela hat sich unwiederbringlich verändert", erklärte er in einer Ansprache vom Balkon des Präsidentenpalastes in Caracas. "Es gibt kein Zurück." Der linksgerichtete Präsident sprach von einem "großen Sieg für das venezolanische Volk" und kündigte an, seine "Revolution für die Armen" fortzusetzen. Diejenigen, die für seine Absetzung gestimmt hätten, sollten sich nicht unterlegen fühlen, sagte Chávez: "Ich übermittle ihnen unseren Respekt."

Nach seinem Sieg beim Volksentscheid über seinen Amtsverbleib hat der venezolanische Präsident Hugo Chávez die Bevölkerung zur Versöhnung und zum Dialog aufgerufen. Er werde diejenigen 40 Prozent der Wählerschaft respektieren, die sich klar für seine Abwahl ausgesprochen hätten, sagte Chávez. Den Oppositionsführern warf er vor, das Land destabilisieren zu wollen. Bei Ausschreitungen während einer Demonstration von Oppositionellen in Caracas wurde eine Frau getötet.

Dass die Oppositionsführer das Wahlergebnis nicht anerkennten, sei "ein in der Welt einzigartiger Fall", sagte Chávez. Die Opposition hatte nach Bekanntwerden des Ergebnisses von Wahlbetrug gesprochen und zu Massenkundgebungen aufgerufen.

Zu einer Demonstration im Osten von Caracas erschienen jedoch nur wenige hundert Menschen. Eine 61 Jahre alte Frau wurde durch einen Bauchschuss getötet, als mutmaßliche Chávez-Anhänger das Feuer auf die Demonstranten eröffneten, wie die Polizei mitteilte. Vier weitere Menschen wurden verletzt, darunter ein Abgeordneter und ein Kind. Chávez sagte, die Täter seien bekannt und würden zur Rechenschaft gezogen.



"Der Ausgang des Referendums ist kurzfristig gut für den Ölmarkt", sagte Ölexperte Oliver Franz von der ING-BHF-Bank. Ölexperten hatten bei einer möglichen Amtsenthebung von Chávez Versorgungsstörungen befürchtet. Schließlich habe der Präsident wichtige Führungspositionen der staatlichen Ölgesellschaft mit Gefolgsleuten besetzt, sagte Franz.
Nach dem gescheiterten Referendum versprach Chavez sogleich stabile Ölexporte. Seine Regierung garantiere "die Stabilität des Weltölmarktes", sagte er bei seiner Siegesrede.

Venezuela ist der fünfgrößte Erdölexporteur der Welt und einziges lateinamerikanisches Mitglied der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC). Die tägliche Produktion wird auf 2,6 bis 2,8 Millionen Barrel (je 159 Liter) geschätzt.
In London entfernte sich der Preis für ein Barrel der Nordsee-Sorte Brent zur Lieferung im September von seinem am Freitag erreichten Rekordniveau von 43,92 Dollar je Barrel. Am Montagmorgen gab die Notierung um 1,21 Prozent auf 43,35 Dollar nach.
Auch der Preis am New Yorker Warenterminmarkt Nymex für Sweet-Öl zur September-Auslieferung entfernte sich von seinem am Morgen erreichten Rekordstand von 46,91 Dollar. Zuletzt kostete ein Barrel 46,48 Dollar je Barrel. Das waren 0,21 Prozent weniger als am Freitag. Die ungewisse politische Zukunft im Ölland Venezuela hatte den Ölpreis am Morgen zunächst an die Marke von 47 Dollar getrieben.

Auszug aus einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung (online-Ausgabe), 17.08.2004



Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter und der Chef der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Cesar Gaviria, hatten zuvor den Wahlausgang bestätigt und die Betrugsvorwürfe zurückgewiesen. "Unsere Informationen sind exakt die gleichen wie die der venezolanischen Wahlbehörde", sagte Carter. Fälle schwerer Einschüchterung oder von Gewalt, die Einfluss auf die Wahlentscheidung hätten nehmen können, seien nicht beobachtet worden. "Mehr als zehn Millionen Menschen haben gewählt, und es gibt ein klares Übergewicht zugunsten der Regierung von Präsident Chávez", sagte Carter.

Regierungen in Lateinamerika haben überwiegend mit Erleichterung auf den Abstimmungssieg des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez reagiert. Sein konservativer kolumbianischer Kollege Alvaro Uribe gratulierte Chávez in einer Botschaft und rief die Venezolaner auf, sich nun gemeinsam für die Einheit des Landes einzusetzen. Auch die Führer Argentiniens und Boliviens begrüßten Chávez' Verbleib im Amt.

Quellen: AFP, dpa und verschiedene Tageszeitungen (16. und 17. August 2004)

Kommentare aus der Tagespresse

Wolfgang Kunath beleuchtet in seinem Kommentar ("Ein Triumph für Chávez") das Wahlergebnis aus einem weltpolitischen Blickwinkel: Ohne Öl, so seine These, wären Venezuela und sein Präsident Chávez nicht sehr ernst zu nehmen: (...) Wäre Hugo Chávez tatsächlich so ein Schurke, wie seine Gegner behaupten, dann würde die Opposition im Untergrund Pläne für einen Umsturz schmieden statt eine öffentliche Kampagne zu führen mit dem Ziel, den Staatschef abzusetzen. Umgekehrt kann man Chávez keinen Persilschein ausstellen. Er hat den demokratischen Institutionen seines Landes schweren Schaden zugefügt, vor allem der unabhängigen Justiz. Wenn die Wirtschaft halbwegs über die Runden kommt, dann nur, weil der Ölpreis hoch ist, und sicher nicht wegen der weisen Wirtschaftspolitik der Regierung. (...)
Der Ausgang des Referendums ist ein beispielsloser Triumph für Chávez. Er steht jetzt besser da als jemals zuvor: Persönlich gebilligt, moralisch bestärkt, politisch bestätigt. Der Opposition haftet dagegen um so stärker der Ruch der Illegimität und der schmutzigen Tricks an. Ihr erster Versuch, Chávez auf verfassungsgemäßem Weg loszuwerden, ist gescheitert, und was bleibt, ist die ungute Erinnerung an den Putschversuch vor zwei Jahren und an den monatelangen Wirtschaftsboykott. Mehr als ein Nein zu Chávez hat die Opposition, extrem zersplittert wie sie nunmal ist, nicht zu Stande gebracht (...)
Man muss Chávez nicht allzu ernst nehmen, und wenn Venezuelas wichtigstes Exportprodukt Soja-Schrot oder Orangensaft-Konzentrat wäre, dann würde ihn auch niemand besonders ernst nehmen. Aber Venezuela ist der größte Öl-Produzent außerhalb des Nahen Ostens, ein wichtiger - und übrigens, trotz Chávez, bisher verlässlicher - Energie-Lieferant der USA. Damit ist der in allererster Linie innenpolitische Konflikt Venezuelas internationalisiert. Er wird mehr oder weniger direkt eingereiht in den globalen Krieg, den Washington gegen den Terror ausgerufen hat. Für die Lösung von innen- oder regionalpolitischen Konflikten ist es freilich in der Regel nicht gut, wenn sie im Kontext der Weltpolitik interpretiert werden. Man kennt das aus Zeiten, als die Berliner Mauer noch stand: Da wurde auch jede noch so entfernte, jede noch so abseitige Auseinandersetzung im Lichte des Ost-West-Konflikts betrachtet. (...)


Aus: Frankfurter Rundschau, 17. August 2004

Erhard Stackl erinnert im Wiener "Standard" an die massiven Versuche der Opposition, Cháves aus dem Amt zu jagen und an das Erfolgsrezept des in seinem Amt bestätigten Präsidenten, aber auch an die anhaltende Krise des Landes:

(...) die Erdöl konsumierende Welt, durch Irakkrieg, Yukos-Affäre und Chinas Wirtschaftsboom ohnehin schwer verunsichert, wird erkennen müssen, dass es sich in Venezuela keineswegs bloß um eine südamerikanische Revolutionsoperette mit Salsa-Rhythmen, Prügeln und Schüssen handelt, die sie nichts angeht.
Es ist die alte lateinamerikanische Geschichte von der wohlhabenden Minderheit, die ihre Vorrechte gegen die arme, ungebildete Bevölkerungsmehrheit mit Zähnen und Klauen verteidigt. In Venezuela war es ein Klüngel aus Sozial- und Christdemokraten, der den Status quo lange garantierte. Manager und Beschäftigte der nationalen Ölgesellschaft steckten die Gewinne lieber in das Wachstum ihres Konzerns (und in die eigenen Taschen), als sie für die Entwicklungsprogramme des linkspopulistischen, 1998 und 2000 gewählten Präsidenten Chávez abzuliefern.
Ende 2002 legten sie die Ölindustrie für neun Wochen lahm, von dem auf zehn Mrd. Dollar geschätzten Schaden hat sich die Wirtschaft Venezuelas bis heute nicht erholt. Keine Frage, dass sich auch der missionarische Populismus des ohne politische Massenbewegung und klare Ideologie regierenden Staatschefs negativ auf die Volkswirtschaft auswirkte. So kam es nach groß angelegten Umsiedlungen städtischer Slumbewohner ins dünn besiedelte Hinterland zur heimlichen Rückwanderung der Armen.
"Linken Infantilismus" nennen gestandene Marxisten Venezuelas solche Aktionen. Doch auch konservative Kommentatoren mussten anerkennen, dass Chávez' Sozialprogramme den Armen "die anregende Speise der Hoffnung" (Frankfurter Allgemeine) gaben. Vor dem Referendum intensivierte Chávez mit Milliarden aus der Staatskasse die Subvention von Lebensmitteln, Programme zur Alphabetisierung und die ärztliche Versorgung (mit Ärzten aus Kuba, das dafür Öl bekommt).
(...) Chávez ist auch in Südamerika keineswegs isoliert. Erst im Juli wurde Venezuela als assoziiertes Mitglied in den Mercosur aufgenommen. Und in Brasilien und Argentinien, den Vorreitern dieser Freihandelszone, regieren Präsidenten, die ähnlich wie Chávez, wenn auch in gemäßigterer Tonlage, gegen die USA und den reichen Norden aufmucken. Argentiniens Néstor Kirchner versucht derzeit, das Land im direkten Gespräch mit den Gläubigern umzuschulden, ohne Befehle vom Internationalen Währungsfonds entgegenzunehmen. Brasiliens Lula da Silva ist bei allem Reformwillen zugunsten der Armen bemüht, Investoren nicht abzuschrecken. Chávez scheint dagegen in dem Irrtum befangen zu sein, dass es schon genügt, die Armen daheim hinter sich zu haben, um aller Welt widerstehen zu können. Wenn ihm nicht doch ein Kompromiss mit zumindest einem Teil seiner Gegner gelingt, könnte dieser Weg aber geradewegs in den Bürgerkrieg führen.

Aus: DER STANDARD, 17. August 2004

Dem widerspricht Martin Ling" im "Neuen Deutschland". Der "Etappensieg" von Chávez könnte Zukunft haben.

Die "Bolivarianische Revolution" lebt. Fünf Millionen Menschen haben sich beim Referendum in Venezuela für Hugo Chávez ausgesprochen - 1,2 Millionen Stimmen mehr als bei seiner Wahl 2000. Chávez ist ein weiterer wichtiger Etappensieg gelungen. Drei Mal hat die Opposition versucht, ihn aus dem Sattel zu heben, drei Mal ist sie gescheitert. Illegal mit dem Putsch 2002 und dem so genannten Ölstreik zur Jahreswende 2002/2003 und nun legal mit dem Referendum. 3,6 Millionen Menschen hat sie mobilisiert. Ein weiteres Indiz dafür, dass Venezuela gleichermaßen polarisiert wie politisiert ist.
Nun hat Hugo Chávez einige Trümpfe in der Hand, seine Revolution auszubauen. Seit dem Putschversuch 2002 setzt er weit stärker auf Basisdemokratie und Dezentralisierung als zuvor. Die Armen werden nicht nur alimentiert, sondern über Basisprojekte integriert. Ein Faustpfand für die Zukunft. Chávez scheint lernfähig. Er weiß, dass er ohne den Marsch der Armen auf den Amtssitz in Caracas den Putschversuch nicht überstanden hätte. Und er weiß, dass ein tief greifender sozialer Wandel Zeit beansprucht. Die derzeit sprudelnden Öleinnahmen verschaffen ihm einen Zeitgewinn.
Zeit, die er braucht, um die bolivarianische Revolution auf ein breiteres Fundament zu stellen. Der Köder der Steuersenkungen für die Unternehmer ist ein Schritt zur Spaltung der Mittelschicht. Wenn er dort wieder an Boden gewinnt und seine Gegner weiter nach Miami gehen, hat er gute Perspektiven. Chávez bleibt, so viel ist sicher.

Aus: Neues Deutschland, 17. August 2004

Die "Thüringer Allgemeine" aus Erfurt kann dagegen nichts Gutes an der Präsidentschaft von Chávez entdecken:

(...)Viele der Ärmsten brachte Chavez auf seine Seite. Doch sucht er keinen Ausgleich, sondern hält sich durch krasse Polarisierung über Wasser. Als einstiger Offizier der Fallschirmjäger, der 1992 schon mal den Putsch geprobt hatte, betreibt er Politik als Schlacht. Gegen die Manager der Ölunternehmen ebenso wie gegen Gewerkschaftsbonzen, gegen Oppositionelle wie gegen die katholische Kirche. Der zweimonatige Generalstreik gegen ihn im Vorjahr riss rund 6000 Firmen in den Ruin und kostete das Land sieben Milliarden Dollar. Auch die jetzigen Toten im Wahlkampf gehören zum politischen Alltag Venezuelas. Von seiner Führung kann das Land auch weiterhin keinen Frieden erwarten."

Zitiert nach: Deutschland Radio (http://www.dradio.de/)

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hebt die Bedeutung des Stabilitätsfaktors Chávez hervor und "befürchtet" ein Auseinanderbrechen der Opposition. Im Kommentar von Josef Oehrlein ("Die Politik des langen Atems") heißt es u.a.:

(...) Die Opposition, die auf kurzfristig wirksame Aktionen setzte, hat erfahren müssen, daß Chávez mit einem Kapital besonders gut zu wuchern weiß: dem Faktor Zeit. Seine Strategie ist langfristig angelegt, ihre Anfänge reichen bis in die Zeit vor dem versuchten Staatsstreich. Mit seiner Taktik des langen Atems hat Chávez viele Widersprüche seiner Politik geschickt zu überdecken verstanden. So hatten sich unter seiner Herrschaft die Wirtschaftsdaten zunächst verschlechtert, Arbeitslosigkeit und Armut weiter ausgebreitet. Dazu trug jedoch der zweimonatige Generalstreik an der Wende zum Jahr 2003 nicht unwesentlich bei. Dieser hatte sogar das ausdrückliche Ziel, vor allem über den Boykott der Erdölförderung eine Wirtschaftskrise herbeizuführen und damit Chávez in die Knie zu zwingen.
In jüngster Zeit hat sich die Entwicklung umgekehrt. Venezuela verzeichnet ein kräftiges Wirtschaftswachstum. Das liegt zuallererst am hohen Erdölpreis, allerdings auch an einer effizienteren Steuereintreibung. Chávez hat damit begonnen, einen größeren Teil der Öleinnahmen direkt vom staatlichen Erdölkonzern PdVSA abzuzweigen und in die Sozialprojekte seiner Regierung in den Armenvierteln zu leiten. Diese "Missionen", deren Aufbau mit Blick auf das Referendum erheblich beschleunigt wurde, waren mitentscheidend für Chávez' Sieg an den Urnen. (...)
Trotz der rabiaten rhetorischen Ausfälle Chávez' gegen den "neoliberalen Teufel" und die Politik des amerikanischen Präsidenten Bush hat sich Venezuela als verläßlicher Wirtschaftspartner und Öllieferant der Vereinigten Staaten erwiesen. Das hatte zur Folge, daß amerikanische Wirtschaftskreise kurz vor dem Referendum einen Sieg von Chávez fast schon herbeigesehnt hatten. Dahinter stand die Einsicht, daß ein Triumph der Opposition Venezuela zumindest für einige Zeit politische Unsicherheit beschert hätte. Denn die Chávez-Gegnerschaft hatte während der Kampagne zu der Volksbefragung weder einen zugkräftigen Kandidaten noch ein schlüssiges politisches Konzept präsentiert. Und politische Instabilität in dem Großförderland Venezuela hätte angesichts der gegenwärtigen krisenhaften Entwicklungen auf dem Rohölmarkt dem Ölpreis unweigerlich einen neuerlichen Schub verpaßt.
Es ist denkbar, daß nun nach dem Referendum, einem von allen Seiten anerkannten fairen demokratischen Prozeß, die Oppositionsbewegung zerfällt. Das ist schon deshalb zu befürchten, weil sich die beiden früher in der Ausübung der Macht alternierenden Parteien, die christlich-demokratische "Copei" und die sozialdemokratische "AD", die beiden oppositionellen Hauptblöcke, bisher als völlig reformunfähig erwiesen haben. (...) Aus der Asche der "Demokratischen Koordination", in der die Chávez-Gegenerschaft organisiert war, müßten neue, unverbrauchte Figuren aufsteigen. Viel Zeit bleibt für eine solche Runderneuerung des konservativen Lagers und der übrigen gegen Chávez eingestellten Gruppierungen in Venezuela nicht. Die nächsten regulären Präsidentenwahlen sind schon in zwei Jahren.

Aus: FAZ, 17. August 2004

Wir beschließen unsere Presseübersicht mit einem Interview, das wir in der "jungen Welt" gefunden haben. Harald Neuber sprach mit Gregory Wilpert. Wilpert ist Soziologe und freier Journalist und Gründer des politischen Online-Magazins "venezuelanalisis.com".

F: In den frühen Morgenstunden wurde am gestrigen Montag das vorläufige Ergebnis des Referendums über die Amtsenthebung des Präsidenten bekanntgegeben. Nur wenig später erklärte das Oppositionsbündnis "Demokratische Koordination", den Sieg von Chávez nicht anerkennen zu wollen. Welche Folgen hat diese Position?

Es ist ein klares Ziel dieser Politik, die Instabilität in Venezuela zu schüren. Die Nichtanerkennung eines Sieges von Präsident Chávez war schließlich schon im Vorfeld des Referendums angekündigt worden und hatte zu den entsprechenden Kontroversen geführt. Jetzt müssen wir das Urteil der wichtigsten internationalen Beobachter abwarten. Daß ein Großteil der Opposition das Referendumsergebnis auf gar keinen Fall anerkennen will, gibt in Regierungskreisen einigen Anlaß zur Sorge.

F: Eine solche Strategie war aber doch schon absehbar?

In der Tat hat sich das schon am Sonntag abgezeichnet. Schon während der Stimmabgabe hatten rechte Gruppen und Präsidenten der führenden Medienanstalten einen Sieg der Opposition mit 60 Prozent erklärt.

F: Nun gab es in Venezuela bereits einen Putsch und andere gewalttätige Aktionen, um Chávez aus dem Amt zu drängen. Wie schätzen Sie die Perspektive der Opposition ein?

Einen Bürgerkrieg halte ich in Anbetracht der Kräfteverhältnisse zugunsten der Regierung für ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist es, daß die gewaltbereite Teile der Opposition terroristische Anschläge ausführen. Insofern liegt nun alle Verantwortung auf den Schultern der führenden oppositionellen Gruppen. Wenn sie trotz der Niederlage in einer demokratischen Abstimmung weiter auf Konfrontation setzen, nehmen sie Terror und Gewalt billigend in Kauf.

F: Eine Beobachterdelegation linker Parlamentarier hat die Europäische Union in dieser Situation aufgerufen, Chávez zu unterstützen. Wie wird das Schweigen der EU in Caracas gewertet?

Zunächst einmal sind solche Solidaritätsbekundungen von Parlamentariern aus aller Welt hier in Venezuela natürlich von großer Bedeutung, weil sie helfen, die von rechten Gruppen lancierte These einer politischen Isolation der Regierung zu durchbrechen. Meiner Erfahrung nach ist die Wirkung solcher Erklärungen auch international wichtig, weil enorm viel Desinformation besteht und viele Menschen einfach nicht wissen, wem sie Glauben schenken sollen. Im politischen Kräftemessen ist die Entscheidung "offizieller" Instanzen, Regierungen und politischer Bündnisse natürlich von großer Bedeutung. In der aktuellen Lage aber kommt es konkret darauf an, auf welche Seite sich das Carter-Zentrum und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) stellen wird.

F: Ihre Prognose?

Es sieht sieht so aus, als ob sich das Carter-Zentrum hinter das Ergebnis stellt und die OAS unter dem ehemaligen kolumbianischen Präsidenten César Gaviria eine kritischere Haltung einnimmt. Es wird aber auch für Gaviria und die Chávez-kritischen Beobachter kaum möglich sein, das Ergebnis anzuzweifeln. Es hat keine signifikanten Zwischenfälle gegeben, und das Referendum ist sauber über die Bühne gegangen.

F: Als Hugo Chávez am frühen Montag morgen vor seinen Anhängern einen "Dialog" mit der Opposition ankündigte, kamen Proteste aus der Menge. Radikalisiert sich die bolivarianische Revolution?

Ich gehe davon aus, daß sich in erster Linie die Opposition spalten wird. Immerhin wurde alles versucht, um Chávez zu verdrängen. Nun werden sich bedeutende Teile der Opposition mit der Regierung zu arrangieren versuchen, denn auch sie wollen ihre Geschäfte in Venezuela fortführen. Die Gefahr geht von denen aus, die weiter auf Gewalt setzen. Sie müssen bedingungslos zurückgedrängt werden. Was das Regierungslager betrifft, ist - auf friedlicher Basis - durchaus mit einer politischen Radikalisierung zu rechnen. Nach jedem Putsch- oder Boykottversuch hat es in den vergangenen Jahren eine solche Radikalisierung gegeben. In gewisser Weise steht Präsident Chávez jetzt also sogar unter Zugzwang.

Aus: junge Welt, 17. August 2004


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