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Referendum in Venezuela: Wer steht zu Chávez, wenn ein Bürgerkrieg droht?

Die kommenden drei Monate dürften über das Schicksal der "Bolivarianischen Revolution" entscheiden

In Venezuela dürften sich die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des amtierenden Präsidenten Chávez und der sehr illustren Opposition aus Gewerkschaften und Unternehmern in den kommenden Wochen weiter zuspitzen, nachdem bekannt wurde, dass dem Begehren nach einem Abwahl-Referendum nun doch stattgegeben wurde. Wir dokumentieren hierzu einen Artikel von Raul Zelik aus der kritischen Wochenzeitung "Freitag".


Von Raul Zelik

Was die venezolanische Wahlaufsichtsbehörde CNE am 4. Juni als Resultat ihrer Auszählungen vorlegte, war für die meisten Beobachter überraschend: Die bürgerliche Opposition hat 2,5 Millionen Unterschriften gegen Präsident Chávez gesammelt und damit die erste große Hürde im Amtsenthebungsverfahren genommen. Venezuelas Staatschef wird sich demnach voraussichtlich Mitte August einer Volksabstimmung unterwerfen müssen - seit einer Woche ist damit die Zukunft des tiefgreifendsten Transformationsprozesses in Lateinamerika wieder offen.

Genau genommen kann das Resultat für beide Seiten nicht berauschend sein. Von den eingereichten 3,4 Millionen Unterschriften der Opposition hat die Wahlaufsicht 800.000 als offenkundig gefälscht oder ungültig aussortiert. Die Chávez-Gegner kamen insofern nur knapp über die verfassungsmäßig notwendige 20-Prozent-Marke* und sind mit begründeten Betrugsvorwürfen konfrontiert. Andererseits hat auch das Regierungslager eine Schlappe einstecken müssen. Das Comando Ayacucho - die Wahlkampfzentrale der Koalition aus Chávez´ MVR, der Gewerkschaftspartei PPT und der linkssozialdemokratischen Podemos - hatte vollmundig erklärt, dass beim Überprüfungsverfahren der Unterschriften mindestens 200.000 Bürger reklamieren würden, ihre Namen seien nur durch Druck oder Betrug auf die Listen der Opposition geraten. Am Ende taten das nur 70.000 Venezolaner.

Auch die gleichzeitig organisierten Abwahlbegehren gegen rechte Oppositionspolitiker verliefen nicht nach den Vorstellungen des Comando Ayacucho. Gegen mehr als 30 Parlamentarier wollte das Regierungslager ein Referendum erreichen - auf die notwendige Zahl der Unterschriften kam man nur in neun Fällen. Erwartungsgemäß geben sich nun beide Seiten siegesgewiss. Die letzten Tage der Regierung Chávez würden eingeläutet, triumphieren seine Gegner. Der Präsident hingegen verkündet, seine Regierung habe keine Angst vor einer neuerlichen Abstimmung. Aus den vergangenen sieben Wahlen seit 1998 sei man als Sieger hervorgegangen - dies werde auch zum achten Mal der Fall sein.

Keine unbegründete Zuversicht, denn seit den gewaltsamen Umsturzversuchen der Rechten im Jahr 2002 ist der Organisationsgrad vorzugsweise unter den Armen in Venezuela stark gewachsen. In den meisten Stadtteilen haben sich eigenständige Nachbarschaftskomitees gebildet, die nicht mit den Bolivarianischen Zirkeln zu verwechseln sind, auch die neuen Gewerkschaften müssen über fehlenden Zulauf nicht klagen. Zudem hat die Regierung eine Reihe von Sozialreformen auf den Weg gebracht, die den ärmsten Bevölkerungsteilen zugute kommen. So wurden neue Universitäten für Studenten aus einkommensschwachen Familien eröffnet, eine Agrarreform initiiert, der Vertrieb subventionierter Lebensmitteln ausgebaut, die Stadtplanung demokratisiert und ein umfassendes Gesundheitsprogramm für medizinisch unterversorgte Venezolaner gestartet.

Die OAS neigt zur Opposition

Günstig für die Regierung wirkt sich zudem aus, dass der hohe Ölpreis die Staatseinnahmen spürbar nach oben treibt, nachdem ein Unternehmerstreik zur Jahreswende 2002/03 einen katastrophalen Wirtschaftseinbruch - die Ölproduktion fiel zwei Monate lang komplett aus - provoziert hatte. Für 2004 prognostiziert der IWF immerhin ein Wachstum von neun bis zehn Prozent. Nicht zufällig sind auch die Popularitätswerte für Hugo Chávez höher als noch Ende 2002.

Nach einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes Keller unter 1.200 Venezolanern von Ende April wollen 35 Prozent der Wahlberechtigten bei einem Referendum für Chávez stimmen, 31 Prozent gegen ihn und 34 sich enthalten. Trotz derartiger Prognosen sollte man den Ausgang des Votums als völlig offen betrachten. Die Opposition verfügt über ein immenses Mobilisierungspotenzial. Sie kontrolliert sämtliche Privatsender und so gut wie alle Tageszeitungen und kann auf massive Unterstützung aus dem Ausland zählen. Europäische und US-Stiftungen haben in den vergangenen Monaten Finanzbeträge in zweistelliger Millionenhöhe zugunsten der Anti-Chávez-Fronde ins Land gepumpt. Zudem zeigen sich auch internationale Schiedsinstanzen - allen voran die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die unter Leitung des kolumbianischen Ex-Präsidenten César Gaviria vermitteln soll - zuletzt ausgesprochen oppositionsfreundlich.

Die gefährlichste Trumpfkarte der Chávez-Gegner ist allerdings militärischer Natur. Seit drei Jahren bauen Teile der venezolanischen Rechten mit Hilfe kolumbianischer Paramilitärs eine Art Contra auf, die nach Angaben ihrer Anführer bereits 2.000 Bewaffnete rekrutiert haben soll. Wie weit diese Destabilisierungsversuche mittlerweile gehen, war Anfang Mai zu beobachten, als 100 kolumbianische Paramilitärs auf einem Privatgrundstück im Reichenviertel Baruta in Caracas verhaftet wurden. Einige der Festgenommenen erklärten vor Journalisten des staatlichen Fernsehkanals VTV, die Gruppe sei als Vorhut einer größeren paramilitärischen Formation in die Hauptstadt gebracht worden und habe Mitte Mai einen Angriff auf Polizeikasernen in der Nähe des Präsidentenpalastes geplant.

Parallelen zu Nicaragua 1990

Das Szenario weist beunruhigende Parallelen zum Entstehen der nicaraguanischen Contra in den achtziger Jahren auf. Tatsächlich wird Kolumbien - wie einst Honduras gegen das sandinistische Nicaragua - immer mehr zum militärischen Hinterland für oppositionelle Aktivitäten gegen den Nachbarstaat. Führer der kolumbianischen AUC-Todesschwadronen erklärten bereits 2002, sie unterstützten ihre Gefährten auf der anderen Seite der Grenze beim Aufbau von so genannten "Selbstverteidigungseinheiten", dem venezolanischen Pendant kolumbianischer Paramilitärs. Vor wenigen Wochen forderte die rechte Mehrheit im kolumbianischen Kongress ihre Regierung dazu auf, bei der OAS Sanktionen gegen Venezuela wegen der Verletzung demokratischer Rechte zu beantragen. Und im März schließlich hatte sich - wie das Verteidigungsministerium in Bogotá unlängst eingestand - der kolumbianische Oberbefehlshaber, General Martín Orlando Carreńo, mit venezolanischen Großagrariern in der Stadt Cúcuta getroffen, um über gemeinsame Sicherheitsstrategien im grenznahem Raum zu verhandeln. Die Regierung in Caracas hatte man gar nicht erst informiert.

Im August dürften solche Vorgänge durchaus wahlentscheidend werden - sollte sich die Lage verschärfen, könnte eintreten, was im Februar 1990 in Nicaragua zu beobachten war. Seinerzeit veranlasste die drohende Wiederaufnahme des Krieges der von den USA alimentierten Contra-Verbände eine Mehrheit dazu, gegen den sandinistischen Präsidenten Daniel Ortega zu stimmen.

* Die Zahl der Unterschriften musste bei mindestens 20 Prozent aller Wahlberechtigten liegen.

Aus: Freitag 25, 11. Juni 2004


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