Venezuela: Ein verpfuschter Putsch
Die Rechte und der CIA haben sich verkalkuliert
Die US-Außenpolitik befindet sich zur Zeit nicht eben auf der Erfolgsspur. Die Solidarität, die der unbestrittenen Weltmacht Nr. 1 nach dem 11. September in aller Welt entgegenschlug, trug nicht sehr lange. Die Anti-Terror-Koalition hat sich längst in Luft und - am Beispiel des indisch-pakistanischen Kpnflikts - in neuerliche Zwistigkeiten aufgelöst. Im Nahen Osten gelingt es nicht einmal, den engsten Bündnispartner Israel zur Räson zu bringen: US-Außenminister holte sich bei seiner Vermittlungsmission im April 2002 keine Meriten und sondern musste - resigniert? - ohne jedes Ergebnis nach Washington zurückkehren. Scharon gibt weiter den Ton an und die USA spielen mit.
In Venezuela sollte ebenfalls im April die lang ersehnte Wende erzwungen werden: Der von der US-Administration gehasste Regierungschef Chávez wurde in einem Putsch mithilfe des CIA ebenso schnell entmachtet wie sein eingesetzter Nachfolger, der Unternehmerpräsident Pedro Carmona. Einmalig in der Geschichte des Landes: Der weggeputschte Chávez kehrte wieder ins Amt zurück. Und das alles innerhalb von nur 48 Stunden! (Vgl. unsere Chronik der Ereignisse.) Pfuscharbeit hat der US-Geheimdienst geleistet - wahrscheinlich, weil er wieder einmal die Stimmung der Bevölkerung im Land nicht realistisch einschätzen konnte.
Die Hintergründe des Putsches und der schnellen Gegenbewegung beleuchtet in dem folgenden Beitrag ein Kenner der Szene: Der US-Soziologe Gregory Wilpert lebt und arbeitet schon lange in Caracas. Seine Berichte vor, während und nach dem Putsch wurden im ZNet veröffentlicht (www.zmag.org). Lotta Suter hat eine Reihe dieser Artikel bearbeitet und übersetzt und zu einem Artikel zusammengefasst, der am 18. April 2002 in der Schweizer Wochenzeitung WoZ erschien (Titel: "Von wegen Bananenrepublik"). Wir dokumentieren den Beitrag gekürzt.
Pst
Von Gregory Wilpert, Caracas
... Viele befürchteten, dass der Putschversuch vom 11. April Venezuela zur
Bananenrepublik, genauer zu einem US-Vasallenstaat degradieren würde.
Die erfolgreiche Gegenwehr und Wiedereinsetzung von Präsident Hugo
Chávez bloss drei Tage später zeigten, dass die lateinamerikanische
Demokratie doch stärker ist als vermutet. Die Putschisten – und mithin die
USA – haben sich verrechnet.
In ihrem Grössenwahn dachten die Anführer des Coups um den
Unternehmerpräsidenten Pedro Carmona, ihre Gefolgschaft sei so gross,
dass sie die meisten ihrer Mitstreiter bei der Bildung einer neuen
Regierung übergehen könnten. Der von Rechten dominierte
Gewerkschaftsdachverband Confederación de Trabajadores (CTV), der sich
als einer der Hauptakteure des Geschehens verstand, und fast alle
moderateren Gruppen wurden bei der Neubildung des Kabinetts der
«demokratischen Einheit» ausgeschlossen. Carmonas
«Übergangsregierung» ging unverzüglich daran, die Legislative aufzulösen.
Das Parlament wurde nach Hause geschickt, Richter abgesetzt, das
Justizministerium besetzt. Carmona hob die 1999 reformierte
venezolanische Verfassung auf und ersetzte sie durch ein Dekret. Alles in
allem ein diktatorisches Vorgehen, wie es im Buche steht. Schon in den
ersten Stunden allerdings begannen Generäle, die den Putsch zunächst
unterstützt hatten, zu opponieren.
Die zweite Fehleinschätzung betraf die Popularität des gestürzten
Präsidenten. Die Putschisten glaubten, ausser Kuba und der
kolumbianischen Guerilla Farc würde niemand Chávez’ Abgang bedauern.
Doch nach dem ersten Schock kam es zu Aufruhr und Krawall in den
Slums von Caracas, welche fast die Hälfte der Stadt ausmachen. In den
Vierteln wurde am Wochenende spontan für Chávez demonstriert und auf
die Kochtöpfe geschlagen. Die Polizei eilte herbei, um diese Aufstände zu
unterdrücken. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und
DemonstrantInnen starben Menschen; die Schätzungen schwanken
zwischen zehn und vierzig Toten. Am frühen Nachmittag des 14. April
wurde dann mit Mund-zu-Mund-Propaganda und Handys zu einer
Pro-Chávez-Demonstration vor dem Präsidentensitz Miraflores aufgerufen;
gegen 18 Uhr versammelten sich in den Strassen um den Palast rund 100.000 Menschen. Ungefähr zur gleichen Zeit erklärte das
Fallschirmjäger-Bataillon, dem Chávez früher selbst angehört hatte, seine
Loyalität zum gestürzten Präsidenten und besetzte den Präsidentenpalast.
Als sich das Ausmass der Unterstützung für Chávez herumsprach, stellten
sich auch wichtige Armee-Einheiten im Landesinneren auf Chávez’ Seite.
Übergangspräsident Carmona musste zurücktreten. Chávez-AnhängerInnen besetzten mehreren Fernsehstationen, die bis dahin den Widerstand gegen den Putsch komplett verheimlicht hatten.
Am Sonntag, kurz vor Mitternacht, wurde die Wiedereinsetzung von
Chávez angekündigt. Niemand hatte geglaubt, dass der Putsch so schnell
scheitern könnte. Doch wieso hatten sich Teile der Gewerkschaften und
UnternehmerInnen überhaupt gegen die linkspopulistische Regierung von
Hugo Chávez zusammengetan? ...
Mit einem Erdrutschsieg und dem Ruf nach einer «bolivarischen
Revolution» war Hugo Chávez Ende 1998 an die Macht gekommen. ... Als Erstes reformierte der neue Präsident die Verfassung, die Einführung einer verfassungsgebenden
Versammlung und von Volksabstimmungen machte die venezolanische
Konstitution zu einer der fortschrittlichsten der Welt. Die alten Eliten
wurden im Verlauf von sieben Wahlgängen zwischen 1998 und 2000 fast
vollständig aus den staatlichen Machtpositionen verdrängt. In
Gewerkschaften, Unternehmen, Kirche und Medien konnte sich die alte
Garde hingegen halten. Sie machte Chávez das Regieren so schwer wie
möglich.
Die anfänglich grosse Begeisterung für Chávez schwand im Laufe seiner
Regierungszeit; im letzten Jahr war sie laut Umfragen von den achtzig
Prozent Zustimmung zu Beginn seiner Amtsübernahme auf nur noch
dreissig Prozent gesunken. Es ist unklar, was dafür den Ausschlag gab:
War es das zögerliche Reformtempo gewesen, ein Mangel an sichtbaren
Erfolgen bei der Bekämpfung von Armut und Korruption, oder waren es die
ständigen Medienangriffe auf seine Regierung? Vermutlich war es eine
Kombination all dieser Faktoren.
Der Konflikt zwischen Chávez’ Regierung und dem Establishment spitzte
sich ein erstes Mal zu, als das Kabinett eine Sammlung von 49 Gesetzen
verabschiedete, welche unter anderem das staatliche Einkommen aus
dem Erdölgeschäft erhöhen und Land umverteilen sollte. Die
Handelskammer widersetzte sich heftig und rief am 10. Dezember 2001
einen Generalboykott der Unternehmen aus. Venezuelas
Gewerkschaftsverband CTV schloss sich dem «Streik» der Unternehmer
an, angeblich aus Sorge um die nachteiligen Folgen der Reformen für die
Wirtschaft und folglich für die Beschäftigungslage. Wahrscheinlicher ist
aber, dass sich der CTV mit seiner Unterstützung des Generalstreiks an
Chávez rächen wollte. Die Regierung hatte Neuwahlen für die
Gewerkschaftsführung gefordert und die letzten Wahlresultate nicht
anerkannt, weil sie Manipulationen vermutete und die alte
Gewerkschaftsgarde sich weigerte, die Stimmzettel zur Nachprüfung
vorzulegen.
Ein zweiter grosser Konflikt kam auf, als Chávez fünf neue regierungstreue
Mitglieder für den Verwaltungsrat der staatseigenen Petróleos de
Venezuela SA (PDVSA) ernannte, eines der grössten Ölkonzerne der
Welt, der den drittgrössten Lieferanten von Erdöl an die USA darstellt.
Obendrein setzte Chávez einen linken Ökonomen und bekannten Kritiker
von Petróleos an die Spitze des Konzerns. Das Petróleos-Management
protestierte lautstark: Die Ernennungen seien rein politisch motiviert und
nicht sachlich begründet; sie würden die Unabhängigkeit und die
Leistungsfähigkeit des Unternehmens gefährden. Chávez konterte mit dem
Argument, dass die Besetzung des Verwaltungsrates und des
Firmenvorstands immer schon politisch gewesen sei und die Regierung die
Kontrolle über die PDVSA zurückgewinnen müsse. Das Unternehmen sei
zunehmend ineffizient geworden, ein Staat im Staate, dessen Direktoren
einem extremen Luxus frönten.
Der Konflikt eskalierte, und letzte Woche entschied sich die alte
diskreditierte Führung des Gewerkschaftsverbandes CTV, das
Petróleos-Direktorium zu unterstützen. Ihren Aufruf zum eintägigen
Generalstreik begründete sie allerdings mit der Solidarität für die
Petróleos-Beschäftigten. Die Handelskammer reagierte rasch und
unterstützte die Arbeitsniederlegung sowie deren Verlängerung um weitere
24 Stunden – obwohl der Streik alle juristischen Kriterien einer
demokratischen Legitimierung vermissen liess, wie eine venezolanische
Bürgerrechtsorganisation feststellte. Ob die ArbeiterInnen tatsächlich für
das Streikziel in Ausstand traten und aus Protest gegen die Regierung der
Arbeit fern blieben, ist im Nachhinein kaum feststellbar: Die meisten
Betriebe wurden vom Management einfach zugemacht.
Nach seiner Wiedereinsetzung am Sonntag entschärfte Chávez die
Situation. Er gab bekannt, dass die von ihm ernannten
PDVSA-Verwaltungsräte zurückgetreten seien. Sein Vorhaben, die
Petróleos künftig auf die Produktionsquoten der OPEC zu verpflichten, um
den Ölpreis auf einem stabilen und profitablen Niveau zu halten, will
Chávez allerdings nicht preisgeben. In der Vergangenheit hatte der
Konzern die OPEC-Quoten oft überschritten, weil dem Management
Marktanteile wichtiger waren als ein guter Preis.
... Die Opposition nennt Chávez einen «totalitären faschistischen Diktator»,
der Venezuela «kubanisieren» will. Chávez und seine Leute beschimpfen
ihre Gegner als «dreckige, korrupte Oligarchen». In beiden Fällen handelt
es sich um eine Karikatur der Wahrheit. Gewiss, Venezuelas Eliten
stellten sich von Anfang an gegen die Regierung. Doch die inzwischen
ziemlich starke Chávez-Opposition umfasst auch ehemals freundlich
gesinnte Kräfte. Trotz der starken rhetorischen Geschütze, die er gerne
auffährt, hat sich Präsident Chávez stets an die ausgesprochen
demokratische Verfassung des Landes gehalten. Sein autokratischer
Regierungsstil stiess allerdings auch frühere Verbündete ab. Wer Chávez
kritisierte, wurde aus dem engeren Kreis der Regierung entfernt. ...
Vor dem Putsch schien Chávez isolierter als wenige Monate zuvor.
Unterstützung erfuhr er zwar von vielen AnhängerInnen in den
Armenvierteln von Caracas. Andere fortschrittliche Teile der Gesellschaft
hatten sich aber von ihm abgewandt. Dies erlaubte konservativen Kreisen
wie der Handelskammer und der alten Gewerkschaftsgarde, sich als Motor
der Zivilgesellschaft darzustellen. Chávez wurde angreifbar, weil er die
politische Kultur, die es zur gesellschaftlichen Unterstützung seiner
«bolivarischen Revolution» braucht, vernachlässigt hat. Nach den
Ereignissen vom Wochenende hat Chávez nun einen auffallend
versöhnlichen und offenen Ton angeschlagen, der auf ein weiterhin
demokratisches Venezuela hoffen lässt.
Chávez verdient die Unterstützung linker und progressiver Kräfte. Seine
Regierung unterstützt die Umverteilung von brach liegendem
Grossgrundbesitz an arme Bauern und Bäuerinnen, in den Armenvierteln
erhalten die BewohnerInnen Besitzurkunden für ihre illegal errichteten
Hütten. Die Mindestlöhne und die Löhne im öffentlichen Sektor wurden
bereits angehoben; eine Million Kinder aus der Unterschicht können jetzt
eine Schule besuchen. Chávez engagiert sich zudem für die Solidarität mit
der Dritten Welt, kritisiert den Neoliberalismus und hilft Kuba. Die
Alternative wäre eine Rückkehr in frühere Zeiten, in denen die herrschende
Klasse, etliche Gewerkschaftsbonzen und Regierungsbürokraten den
Ölreichtum unter sich aufteilten und die Armen – immerhin 75 Prozent der
Bevölkerung – ihrem Schicksal überliessen.
Aus: WoZ, 18. April 2002
Hier können Sie eine Chronik des Putsches lesen.
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