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"Die Macht soll an die Basis übertragen werden"

Autoritarismus oder mehr Demokratie: Was steht hinter der Vereinigten Sozialistischen Partei in Venezuela? Ein Gespräch mit Candelario Reina

Das Interview mit Candelario Reina, das wir im Folgenden dokumentieren, führte für die Tageszeitung "junge Welt" Harald Neuber.
Der Dramaturg Candelario Reina ist als Stadtteilaktivist in Caracas aktiv.



In den kommenden Monaten soll mit der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) die größte politische Gruppierung Lateinamerikas entstehen. Präsident Hugo Chávez will in der PSUV alle Parteien des Regierungslagers vereinen. Wie läuft der Prozeß?

Zunächst einmal stellt die bisherige Zersplitterung der Parteien des Regierungslagers eine der größten Schwachstellen im Kampf gegen die US-geführten Angriffe auf die bolivarische Revolution dar. Der Grund für diese Fraktionierung liegt im Wesen der repräsentativen Demokratie. Dadurch werden Machtkonflikte im Kern der Revolution, vor allem in den staatlichen Institutionen, gefördert. Die politische Struktur des venezolanischen Staates stützt sich nach wie vor auf die Prinzipien der bürgerlichen Demokratie: Profitmaximierung, Privateigentum, Bürokratie und Korruption. Das sind Regeln, die von derjenigen gesellschaftlichen Minderheit verteidigt werden, die an der Spitze der Parteien steht. Aus dieser Situation heraus wächst zunehmend eine innere Opposition gegen den Wandel in Venezuela. Aber mit der geplanten Gründung der PSUV hat auch eine tiefgreifende Debatte darüber an der Basis begonnen.

Doch auch Linksintellektuelle melden Bedenken an. Der Soziologe Edgardo Lander etwa hat die Art kritisiert, in der Chávez die Gründung der PSUV bekanntgegeben hat. Die Historikerin Margarita López sprach von einem »grauenhaften« Prozeß. Was ist an dieser Kritik dran?

Sie ist höchst repräsentativ für die venezolanische Intelligenzija, die – ob bewußt oder unbewußt – eine Trägerin der gescheiterten, aber immer noch dominanten westlichen Kultur in Venezuela ist. Sogenannte Intellektuelle wie López oder Lander kritisieren den Umbruch, weil sie die Kriterien verinnerlicht haben, die in den öffentlichen Universitäten – ein Refugium des alten Systems – vermittelt werden. Lateinamerika war schon immer ein gutes Beispiel dafür, wie bürgerliche Intellektuelle aus ihren Löchern kriechen, um den »american way of life« zu verteidigen, wenn sich ihre Völker gerade von ihm zu befreien versuchen.

Bislang haben sich immerhin 5,7 Millionen Anwärter in das Register der PSUV eingetragen. Ist das ein Automatismus, oder fühlen sich die Leute wirklich verpflichtet?

Ich halte solche Fragen für müßig. Wenn sich von 16 Millionen Wahlberechtigten 5,7 Millionen Menschen für eine Partei eintragen, dann spricht das für sich.

Aber warum weigern sich dann drei Parteien – die Kommunisten (PCV) und die sozialdemokratischen Gruppen Podemos sowie PPT –, in die PSUV einzutreten?

Wenn ich über die Gründe spräche, dann müßte ich auch auf die oppositionelle Rolle eingehen, die diese Parteien willentlich oder unbewußt spielen. Die Antwort ist daher einfach: PCV, PPT und Podemos wollen lediglich kosmetische Veränderungen, einen »humanen Kapitalismus«. Ich beziehe mich dabei auf die Parteiführungen, nicht auf die Basis.

Gibt es eine Gegenposition?

Auf der Gegenseite steht das Bündnis zwischen Hugo Chávez und den kommunalen Räten an der Basis. Der Präsident hat es bislang vermieden, sich mit den politischen Parteien einzulassen, in deren Strukturen er auch nicht verstrickt ist.

Die Regierung verteidigt die Gründung der PSUV als »Stärkung der Demokratie«. Wie kann die Demokratie gestärkt werden, wenn Parteien verschwinden?

Dieses Urteil bezieht sich auf den angestrebten bolivarischen Sozialismus und die Mitbestimmung der Basis. Die politischen und sozialen Basisbewegungen Lateinamerikas waren in Debatte und Aktion gegenüber den Parteien als Vertreter der repräsentativen Demokratie stets in der Defensive. Dieses Ungleichgewicht stand schon immer im Widerspruch zu den sozialen Bewegungen, dem wahren Motor der Veränderung. Was die Parteien angeht: Niemand wird gezwungen, in die PSUV einzutreten. Aber es gibt Parteibonzen, die es verstanden haben, sich als Opfer zu inszenieren. Tatsächlich geht es ihnen nur darum, an den alten Strukturen und Posten festzuhalten.

Wie wird sich die venezolanische Demokratie also verändern?

Die Gründung der PSUV ist eine Sternstunde auf dem Weg zum bolivarischen Sozialismus. Sie geht einher mit der Schaffung neuer bolivarischer Streitkräfte und einer Aufwertung der Beteiligung der Basisgremien am demokratischen Prozeß. Der Präsident selbst hat die Übergabe von Machbefugnissen an die Basis angekündigt. Und hier liegt der eigentliche Konflikt: In dem Maße, in dem der demokratische Wandel umgesetzt wird, verlieren die Parteien als zentrale Organe der repräsentativen Demokratie an Macht.

Und ideologisch?

In jedem Fall müssen PSUV und bolivarischer Sozialismus die Antithese zum herrschenden kapitalistischen System sein. Eine Koexistenz kann es nicht geben.

Aus: junge Welt, 13. September 2007


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