Krise eint die Chavisten
Opposition hofft vergeblich auf Spaltung der Regierungspartei
Von Harald Neuber *
Die stärksten Momente des Chavismus, so scheint es, liegen in der Krise. Während sich Präsident Hugo Chávez seit Wochen in der kubanischen Hauptstadt Havanna von einer schweren und komplikationsreichen Krebsoperation erholt, sind in Venezuela am Montag zum wiederholten Mal binnen weniger Wochen Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, um ihre Unterstützung für die linksgerichtete Regierung zu demonstrieren. Anlass war der »Tag der Nationalen Würde«, mit eines Aufstandes gegen die neoliberale Regierung des Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez gedacht wird.
Der Umsturzversuch am 4. Februar 1992 war von Hugo Chávez angeführt worden und folgte drei Jahre auf die blutige Niederschlagung eines Volksaufstandes 1989. Zugleich gilt der Aufstand als Geburtsstunde der laufenden Bolivarianischen Revolution. Neben den Massendemonstrationen fand in Caracas daher eine große Militärparade statt.
Überschattet wurden die Veranstaltungen am Montag von der Abwesenheit des Präsidenten. Der 58-jährige Hugo Chávez befindet sich nach seiner Krebsoperation vor knapp zwei Monaten nach wie vor zur Behandlung in Kuba. Führende Vertreter des Regierungslagers setzen derweil alles daran, den andauernden Gerüchten über eine angebliche Verschlechterung es Gesundheitszustandes von Chávez entgegenzuwirken. Am Sonntag präsentierte Vizepräsident Nicolás Maduro im staatlichen Fernsehkanal VTV ein wenige Tage altes Dokument mit der Unterschrift des Präsidenten. Solche Gesten sollen bestätigen: Chávez lebt. Und, wichtiger noch, er ist regierungsfähig.
Die von der in ihrer Mehrheit regierungskritischen Privatpresse beschworene These einer Spaltung des Chavismus hat sich nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil demonstrieren Vizepräsident Maduro und Parlamentspräsident Diosdado Cabello öffentlich politische Einheit. Die beiden Spitzenvertreter des Regierungslagers reisen abwechselnd zu Arbeitstreffen mit Chávez nach Havanna. Dabei stehen Maduro und Cabello durchaus für zwei unterschiedliche Säulen des linksgerichteten Reformprozesses in Venezuela. Der frühere Gewerkschafter Maduro kommt aus einer zivil-politischen Tradition, während der ehemalige Leutnant Cabello eine politisch-militärische Biografie aufweist.
Ein Widerspruch muss das jedoch nicht sein. Nach dem Ausschluss dezidiert rechtsgerichteter Kräfte nach einem Putschversuch gegen Chávez im April 2002 wird das Militär von progressiven Kräften dominiert. Die »Bolivarianischen Streitkräfte«, wie die Armee seit wenigen Jahren offiziell heißt, sind damit ein politischer Stabilitätsfaktor in Venezuela. Nicht ohne Grund hat Chávez eine seiner ersten Nachrichten nach der Operation Mitte Dezember an die Armee gerichtet, um ihr für die Loyalität zu danken. Ähnlich äußerte sich der 58-Jährige nun auch vor dem Gedenktag Anfang dieser Woche.
Der dritte und medial oft unbeachtete Faktor neben den Akteuren in der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) sind die Basisbewegungen. Nach der neuerlichen Erkrankung des Präsidenten wird in Venezuela immer wieder die notwendige Stärkung der Basisstrukturen diskutiert. Dabei geht es vor allem um die Kommunalen Räte, die mittelfristig als politische Machtinstanz einer neuen Volksdemokratie etabliert werden sollen. Im Ausbau dieser Strukturen besteht das wirklich revolutionäre Moment der Bolivarianischen Revolution. Das bedeutet auch, dass der Ausbau der Basisstrukturen letztlich über Fortbestand oder Scheitern des politischen Prozesses entscheidet.
Die Opposition spielt in ihrem derzeitigen Zustand keine Rolle. Das Bündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) verfolgt zwar weiterhin eine aggressiv regierungsfeindliche Haltung. So beklagten MUD-Vertreter die »Unfähigkeit« und die »verantwortungslosen Drohungen« der Regierung. Nach den Niederlagen bei den Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober und den Regionalwahlen am 16. Dezember kann die wortgewaltige Opposition aber kaum über ihren desolaten Zustand hinwegtäuschen. Die Ironie der Geschichte ist, dass im Fall von Neuwahlen die Chávez-Gegner derzeit die schlechtesten Karten hätten.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 06. Februar 2013
"In Venezuela müsste Chávez um seine Gesundheit fürchten"
Der Schweizer Onkologe Franco Cavalli über den Fall des Präsidenten aus medizinischer und medialer Sicht **
Der weltweit renommierte Schweizer
Onkologe Franco Cavalli ist
Koordinator für die internationalen
Projekte der Internationalen Vereinigung
gegen den Krebs (UICC),
deren Präsident er mehrere Jahre
lang war. Seit 2003 ist er zudem
wissenschaftlicher Direktor des
Onkologischen Instituts der italienischsprachigen
Schweiz (IOSI) in
Bellinzona. Cavalli engagiert sich
seit Jahren für humanitäre Projekte
in Lateinamerika. Mit Cavalli
sprach für »nd« Harald Neuber.
Herr Cavalli, die Krebserkrankung
des venezolanischen Präsidenten
Hugo Chávez ist nicht nur
in dem südamerikanischen Land
ein Politikum. Erstaunt Sie das?
Nein, denn das ist Ausdruck der
Schlüsselrolle, die Präsident Chávez
und die Bolivarianische Revolution
zurzeit in Lateinamerika innehaben.
Erstens hat Präsident
Chávez am meisten für eine vereinigte
Gemeinschaft aller lateinamerikanischen
Staaten getan.
Zweitens wäre es ohne ihn nicht
vorstellbar, dass in einem beträchtlichen
Teil dieser Länder
progressive Kräfte an den Regierungen
sind. Wichtig ist vor allem
aber der dritte Grund: die sehr enge
wirtschaftliche und politische
Zusammenarbeit zwischen Venezuela
und Kuba.
Venezuela liefert Erdöl, Kuba
schickt Ärzte ...
Mehr noch: Ohne diese Zusammenarbeit
wäre Kuba der jetzige
Reformprozess kaum möglich gewesen.
Im Gegenzug hätte Chávez
ohne die gut 20 000 kubanischen
Ärzte und Krankenschwestern, die
sehr viel für seine Popularität getan
haben, wohl kaum fast alle
Wahlen und Abstimmungen gewonnen.
Sein deutlicher Wahlsieg im vergangenen
Oktober hat das nationale
und internationale Bürgertum
sehr deprimiert. Die Opposition
weiß genau, dass sechs weitere
Amtsjahre von Chávez wohl endgültig
die Festigung des Befreiungsprozesses
in Lateinamerika
bedeuten würden. In der Tat war
die allgemeine Auffassung in diesen
Kreisen, dass ihnen nun »nur
noch der Krebs helfen kann«.
Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang
den Umgang mit
medizinischen Informationen über
den Patienten?
Von Anfang an haben internationale
und imperialistische Akteure
wegen der Krebserkrankung Hugo
Chávez große Hoffnung geschöpft.
Das erklärt, warum die venezolanische
Regierung und Chávez
selbst die Öffentlichkeit nicht über
alle Details informiert haben. Das
Wesentliche wurde aber immer
mitgeteilt. Und dazu gibt es auch
noch eine Privatsphäre, die in solchen
Fällen gewahrt bleiben sollte.
Sehen Sie Unterschiede im medizinethischen
Umgang mit dem
Thema in Lateinamerika und Europa?
Medizinethische Unterschiede im
Umgang mit Krankheiten, auch
bezüglich der Informationspflicht,
gibt es ja selbst zwischen Süd- und
Nordeuropa. Vergessen wir nicht,
dass die Franzosen zum Beispiel
über die Krebserkrankung ihrer
Präsidenten Georges Pompidou
und François Mitterrand erst nach
deren Ableben erfahren haben.
Dennoch beschweren sich nun
auch französische Medien darüber,
dass die venezolanische Regierung
angeblich zu wenig über
die Erkrankung von Hugo Chávez
informiert.
Und was sagen Sie zur hiesigen
Berichterstattung?
Die Mainstream-Medien in Europa
haben die Popularität von Hugo
Chávez nie verstehen wollen oder
als Propaganda abgetan. Als nach
dem letzten Wahlsieg von Chávez
die Nachricht über einen Rückfall
der Krebserkrankung kam, konnten
viele Medien eine gewisse
Schadenfreude nicht verheimlichen.
Die Berichterstattung wurde
immer unerträglicher. Man erwartete
offenbar nur noch die »erlösende
Nachricht«.
Sind Ferndiagnosen, wie sie etwa
aus Miami in den USA bekannt
wurden, denn verlässlich?
Ich habe selten so viele Dummheiten
gelesen. In einem so komplizierten
Gebiet wie der Onkologie
sind Ferndiagnosen ohne
Kenntnis der wesentlichen Fakten
einfach Hokuspokus.
Oft wird die Frage aufgeworfen,
weshalb sich Präsident Chávez in
Kuba und nicht in Venezuela behandeln
lässt. Haben Sie eine
Antwort?
An seiner Stelle hätte ich mich
auch nicht in Venezuela behandeln
lassen. Die offizielle Medizin
in Venezuela ist sehr korrupt. Die
Einfuhr von Medikamenten etwa
wird durch eine Aktiengesellschaft
getätigt, die der Ärztegesellschaft
gehört. Die große Mehrheit der
Ärzte, vor allem der Spezialisten,
wendet sich massiv gegen Chávez.
Ein Grund ist auch, dass er die
kubanischen Ärzte ins Land geholt
hat, damit sich endlich jemand mit
der Gesundheit der Armen befasst.
Schon vor Jahren hat die jetzige
Regierung mit dem Aufbau einer
parallelen medizinischen
Struktur begonnen. Sie ist aber
noch nicht sehr entwickelt, vor allem
bei der hoch spezialisierten
Medizin.
Ich glaube, dass Hugo Chávez
mit Recht um seine Gesundheit
hätte fürchten müssen, wenn er
von Oberschichtärzten im eigenen
Land behandelt worden wäre. Zudem
ist die kubanische Medizin
weltweit für ihre Qualität bekannt.
Jedes Jahr lassen sich Tausende
Lateinamerikaner dort behandeln.
** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 06. Februar 2013
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