Chávez warnt vor Kriegsgefahr
Venezuela bricht diplomatische Beziehungen zu Kolumbien ab und versetzt seine Truppen in Alarmbereitschaft / Lula versucht zu vermitteln
Von Harald Neuber *
Nachdem Venezuela seine diplomatischen Beziehungen zu Kolumbien
abgebrochen hat, nehmen Befürchtungen zu, es könnte zu einem bewaffneten
Konflikt zwischen den südamerikanischen Nachbarstaaten kommen.
Kurz vor seinem Abschied aus dem Präsidentenpalast Casa de Nariño sorgt
Kolumbiens scheidender Präsident Álvaro Uribe erneut für eine schwere
regionale Krise. Nach gravierenden Vorwürfen aus Bogotá gegen die
venezolanische Regierung hat Präsident Hugo Chávez am
Donnerstagnachmittag (Ortszeit) alle Beziehungen zum Nachbarland
abgebrochen. »Ich mache Uribe dafür verantwortlich, was in den kommenden
Tagen geschieht«, sagte Chávez, der die Übergänge entlang der 2300
Kilometer langen Grenze schloss und die Truppen an der Demarkationslinie
in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Zugleich äußerte der 55-jährige
Staatschef auch seine Hoffnung auf eine Beilegung der neuerlichen
schweren Krise.
Der Botschafter Kolumbiens vor der Organisation Amerikanischer Staaten
(OAS), Luis Alfonso Hoyos, hatte kurz zuvor in einem gut zweistündigen
Vortrag vor den Mitgliedern der Regionalorganisation die mutmaßlichen
Beweise gegen Venezuela vorgetragen. Dort halten sich demnach bis zu
1500 Rebellen der Guerillaorganisationen FARC und ELN auf. Die
geheimdienstlich zusammengetragenen Informationen belegten 87 Lager der
Guerilla auf venezolanischem Gebiet, sagte Hoyos weiter. Die
Stichhaltigkeit der Beweise ist jedoch umstritten.
Das venezolanische Außenministerium sprach auch nach der OAS-Sitzung
noch von »einer Serie von Bildern und Landkarten, die offenbar aus dem
Internet heruntergeladen« wurden. »Ich kenne kein nationales oder
internationales Gericht, das diese Art von Beweisen akzeptieren würde«,
sagte Caracas' Vertreter vor der OAS, Roy Chaderton. So glichen die von
Hoyos vorgeführten Bilder von Stränden eher den Küstenstreifen in
Kolumbien. »Ich meine sogar, eine Flasche kolumbianischen Bieres erkannt
zu haben«, so Chadertons trockener Kommentar. Doch nach Witzen ist
keinem zumute: Venezuela und Kolumbien sitzen auf einem Pulverfass und
Uribe spielt mit dem Feuer.
Für enormen Unmut nicht nur in Venezuela sorgte daher auch das
Krisenmanagement des amtierenden OAS-Generalsekretär José Miguel
Insulza. Der chilenische Diplomat habe die mehrfache Bitte Quitos
übergangen, die Dringlichkeitssitzung am Donnerstag zu verschieben,
beschwerte sich Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño am Freitag. Seiner
Regierung sei es nicht darum gegangen, die Aussprache zu verhindern,
sondern - wie üblich - den Disput zunächst im ständigen Rat der US-nahen
Regionalorganisation zu diskutieren.
Insulza sei deswegen für die schwerwiegenden Konsequenzen
verantwortlich, sagte auch Ecuadors Präsident Rafael Correa: »Er hat
vehement darauf gedrängt, dass diese Sitzung (am Donnerstag)
stattfindet, ohne - wie üblich - eine vorherige Debatte anzuberaumen«,
sagte der Staatschef: »Und nun sehen wir die Folgen dieses Handelns.«
Patiño gab laut der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina an,
gegenüber Insulza »mindestens zehn Mal« auf ein besonnenes Vorgehen
gedrängt zu haben, ohne dass dieser ihm Gehör geschenkt hat. Auch
Brasiliens Regierung unter Lula mahnt ein überlegtes Vorgehen an und
offerierte sich als Vermittler.
Nach Ansicht Patiños hat sich der Generalsekretär der US-nahen OAS als
Mediator diskreditiert. »Wir glauben nicht, dass Herr Insulza für diese
Aufgabe noch geeignet ist«, zitiert die französische Nachrichtenagentur
AFP den Chefdiplomaten. Stattdessen werde Quito auf Antrag Venezuelas
eine Sondersitzung der Außenminister der Union Südamerikanischer
Nationen (UNASUR) einberufen, um das weitere Vorgehen in der
bedrohlichen Krise zu beraten. »Von der OAS erwarten wir jedenfalls
nichts mehr«, so Patiño. Nach jüngsten Meldungen lateinamerikanischer
Nachrichtenagenturen könnten auf Initiative der UNASUR in den kommenden
Tagen auch die südamerikanischen Staatschefs zusammenkommen. Selbst wenn
sich Rebellen in Venezuela aufhalten, sagte Chávez im Vorfeld dieser
Konsultationen, »dann geschieht das ohne Zustimmung dieser Regierung und
wir würden sie hier verfolgen und zur Verantwortung ziehen«.
* Aus: Neues Deutschland, 24. Juli 2010
Latente Kriegsgefahr
Von Martin Ling **
Ein heißer Krieg zwischen Kolumbien und Venezuela ist vielleicht nicht
hochwahrscheinlich, gänzlich ausschließen mag man ihn freilich nicht
mehr. Zu offensichtlich versucht Kolumbiens am 7. August scheidender
Präsident Álvaro Uribe, ein vermintes Feld zu hinterlassen, Provokation
reiht sich an Provokation. Die Evidenz der von Kolumbien vorgelegten
Belege für FARC-Guerilleros auf venezolanischem Gebiet ist zumindest
zweifelhaft. Unklar ist, wie weit Uribe zu gehen bereit ist und welches
informelle Mandat er von den USA hat.
Klar ist dagegen, dass in Kolumbien viele geopolitische und
geostrategische Interessen auf dem Spiel stehen. Bogotá kommt in der
US-Außenpolitik eine Schlüsselrolle für die westliche Hemisphäre zu. Die
von Uribe Washington 2009 offerierten sieben Militärbasen haben fast
ganz Südamerika beunruhigt. Die Kooperation richtet sich nicht nur gegen
die Linksregierungen Venezuelas, Ecuadors und Boliviens, sondern sie
zielt auch gegen das moderate, aufstrebende Brasilien. Selbst die
eigentlich auf Ausgleich bedachte Regierung Lula sieht die Rolle
Kolumbiens als große Gefahr, weil es ein Interesse der USA gibt, nicht
nur die Erdölreserven, sondern auch die Bioreserven des Amazonasgebietes
zu kontrollieren. Unter der Obama-Administration mag sich der Ton
verändert haben - die strategischen Interessen jedoch sicher nicht. Es
ist nur offen, ob sie die auch im Südamerika des 21. Jahrhunderts
mittels Kriegen sichern.
** Aus: Neues Deutschland, 24. Juli 2010 (Kommentar)
Bruch mit Bogotá
Venezuela suspendiert diplomatische Beziehungen mit Kolumbien.
Kommunisten vermuten Ablenkungsmanöver Uribes
Von André Scheer ***
Venezuela hat am Donnerstag (22. Juli) alle diplomatischen Kontakte zu
Kolumbien abgebrochen und seine Truppen an der Grenze zum Nachbarland in
höchste Alarmbereitschaft versetzt. Den kolumbianischen Diplomaten wurde
eine Frist von 72 Stunden gesetzt, das Land zu verlassen, die
venezolanische Botschaft in Bogotá wurde geschlossen. »Wenn wir unsere
Würde bewahren wollen, bleibt uns keine andere Möglichkeit, als alle
diplomatischen Beziehungen mit unserem Bruderland abzubrechen «,
erklärte Venezuelas Präsident Hugo Chávez in Caracas. Er hoffe, daß in
den wenigen Tagen bis zum Ende der Amtszeit des scheidenden
kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe »nichts Schlimmes« mehr passiere.
Dem dramatischen Schritt der venezolanischen Regierung vorausgegangen
war eine Sondersitzung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in
Washington, bei der Bogotá Fotos und andere Dokumente präsentierte, die
beweisen sollten, daß kolumbianische Guerilleros der FARC und der ELN in
Venezuela Unterschlupf gefunden hätten. Venezuelas Botschafter Roy
Chaderton wies dies zurück und erklärte, die angeblichen Beweise seien
wertlos und lediglich ein Vorwand, um eine Intervention Kolumbiens in
seinem Land zu rechtfertigen. OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza
nutzte seine Ansprache, um beide Seiten zur Besonnenheit und zum Dialog
aufzurufen. Allerdings wurde ihm selbst von Venezuela und Ecuador
vorgeworfen, durch die übereilte Einberufung der Konferenz zu einer
Verschärfung der Situation beigetragen zu haben. Ecuadors Außenminister
Ricardo Patiño kritisierte, daß die Statuten der Organisation zwar
vorsähen, daß der Vorsitzende des Ständigen Rates der OAS auf Antrag
eines Mitglieds zu einer Sondersitzung einladen müsse. Es gäbe aber
keine Bestimmung, daß dies »sofort« zu erfolgen habe. Der Vorsitzende
sei hingegen auch dafür zuständig, durch Beratungen mit den beteiligten
Seiten die Einheit des Kontinents zu bewahren. Das sei versäumt worden.
Venezuela hat nun die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) um ihr
Eingreifen gebeten, um die »schweren Aggressionen der Regierung
Kolumbiens gegen die Souveränität der Bolivarischen Republik Venezuela«
zu behandeln. Nach der Einrichtung von US-Militärbasen in Kolumbien
drohe durch die derzeitige Zuspitzung der Lage »eine gefährliche
Eskalation«, heißt es in einer vom Außenministerium in Caracas
verbreiteten Erklärung.
Der Generalsekretär der Kolumbianischen Kommunistischen Partei, Jaime
Caycedo, vermutet, daß es der scheidenden Regierung in Bogotá um ein
Ablenkungsmanöver geht. Dem venezolanischen Fernsehsender VTV sagte er,
Uribe wolle vor allem von dem Skandal um die Massengräber mit rund 2000
Leichen ablenken, die im Januar in La Macarena entdeckt worden waren. Am
Donnerstag hat eine internationale Untersuchungskommission in der
Ortschaft ihre Arbeit aufgenommen, um die Identität der Getöteten zu
klären. Das kolumbianische Militär hatte nach der Entdeckung erklärt,
bei den Toten handele es sich um bei Kämpfen getötete Guerilleros.
Anwohner sagten hingegen aus, daß in den vergangenen Jahren zahlreiche
Bauern und soziale Aktivisten in der Region spurlos verschwunden seien.
Politisch verantwortlich für den Skandal wäre auch der ab 7. August
amtierende neue Präsident Juan Manuel Santos, der von 2006 bis 2009
Verteidigungsminister seines Landes war.
*** Aus: junge Welt, 24. Juli 2010
Spiel mit dem Feuer
Krise in Südamerika
Von André Scheer ****
Uribe will ablenken. Wenige Tage vor dem Ende seiner Amtszeit ist die
Bilanz des scheidenden kolumbianischen Präsidenten weit von dem
entfernt, was er einst versprochen hatte. Die offizielle
Erwerbslosenrate liegt konstant über zwölf Prozent und hatte im
vergangenen Januar mit 14,6 Prozent den höchsten Wert der vergangenen
sechs Jahre erreicht. Unzählige Skandale erschütterten die Regierung
immer wieder, seien es die Verhaftung von Abgeordneten der
Regierungsparteien wegen ihrer Verbindungen zu den paramilitärischen
Banden oder das Abhören von Oppositionellen und ausländischen
Staatschefs. Auch die Ermordung unschuldiger Jugendlicher, die dann vom
Militär als »im Kampf gefallene Guerilleros« präsentiert wurden, fällt
in seine Verantwortung. In dieser Woche hätte die Arbeit einer
internationalen Untersuchungskommission, die in La Macarena mehrere
Massengräber untersucht, Schlagzeilen machen können. Bogotá verhinderte
dies erfolgreich mit der unvermittelten Präsentation von »Beweisen«
über die Präsenz von Guerilleros in Venezuela.
Doch es sind nicht nur innenpolitische Gründe, die für die jüngste
Zuspitzung in den Beziehungen zwischen Kolumbien und Venezuela gesorgt
haben. Einflußreiche Kräfte auf beiden Seiten der Grenze haben vor allem
im Vorfeld der Parlamentswahlen im September kein Interesse daran, daß
die Lage in Venezuela ruhig und stabil bleibt. Trotz mancher Kritik an
dem Verhalten der Abgeordneten aus der Regierungspartei PSUV in den
vergangenen Jahren dürfte das revolutionäre Lager dann seine Mehrheit
verteidigen. Die heterogene Opposition ist nicht in der Lage, ein
konkretes Alternativprogramm vorzulegen, das über Schlagwörter wie
»Hoffnung« und »Freundschaft« hinausgeht. Deshalb setzen Teile der
Regierungsgegner wieder auf Gewalt; dafür spricht die Festnahme
international gesuchter Terroristen durch die venezolanischen Behörden
in den vergangenen Tagen. Hinzu kommen auch aus Kolumbien eingesickerte
Gruppen von Paramilitärs, und das längst nicht mehr nur in der
Grenzregion zum Nachbarland, sondern auch in den Armenvierteln der
großen Städte.
Kolumbien spielt mit dem Feuer. Doch auch wenn sich die Lage wie in den
vergangenen Jahren diesmal schnell wieder entspannen sollte, besteht
immer die Gefahr, daß die durch Bogotá entfachten Funken irgendwann zu
einem Flächenbrand werden. Es war Kolumbien und nicht etwa Venezuela,
dessen Truppen 2008 in Ecuador einfielen. Dabei ist es ganz besonders
zynisch, daß ausgerechnet auf dem damals als Verteidigungsminister für
die Aggression politisch Verantwortlichen, Juan Manuel Santos, nun die
Hoffnungen ruhen, nach seinem Amtsantritt als Präsident Kolumbiens am 7.
August die Beziehungen zu Venezuela und den anderen Nachbarländern zu
normalisieren.
**** Aus: junge Welt, 24. Juli 2010 (Kommentar)
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