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Venezuela: Die friedliche Revolution

Ein Land Südamerikas verweigert sich dem Diktat des Neoliberalismus

Von Harri Grünberg*

1. Einleitung


Vielfach herrscht in Europa eine falsche Meinung über Hugo Chávez, den fortschrittlichen Präsidenten Venezuelas, und seiner bolivarianischen Revolution.

Venezuela, ein Land im Norden Südamerikas, durchlebt seit 1998 eine Periode tiefgreifender Veränderungen. Dies war das Jahr, in dem Hugo Chávez Frias Präsident der jetzigen bolivarianischen Republik Venezuela wurde. Seitdem findet eine friedliche revolutionäre Umwandlung des Landes statt. Zugleich führt Venezuela im "Hinterhof der USA" einen erbitterten Kampf, um die nationale Identität und die nationale Souveränität zurückzuerlangen, welche die Vorgängerregierungen, ob christdemokratisch oder sozialdemokratisch, an die USA verkauft hatten.

Die sozialdemokratisch orientierte Acción Democrática (AD: demokratische Aktion) und die christsoziale COPEI regierten dieses Land nach dem Sturz der Militärdiktatur von Marcos Pérez Jiménez im Jahre 1958 abwechselnd. Sie regierten ein Land, das über umfangreiche Erdölreserven verfügt. Venezuela ist der fünftgrößte Erdölproduzent der Welt, und es ist einer der wichtigsten Öllieferanten der USA. Dies ist von besonderer Bedeutung in einer Zeit, in der die USA zwar das irakische Öl unter ihre Kontrolle gebracht haben, aber dieses aufgrund des anhaltenden irakischen Widerstandes nicht in den erhofften Mengen fließt. Das ist ein wichtiger Grund, warum die USA alles versuchen, um die Linksregierung in Venezuela zu stürzen. Ihr Problem ist, dass alle bisherigen Versuche, die fortschrittliche Regierung unter Chávez zu stürzen, gescheitert sind. Gleichwohl können sie das Land nur unter sehr schwierigen Umständen militärisch besetzen. Eine militärische Besetzung mit einem anhaltenden Guerillakrieg hätte sofortige Auswirkungen auf die Öllieferungen.

Im Jahr 2002 sind die USA mit einem Putschversuch kläglich gescheitert. Im April 2002 inszenierte die herrschende Oligarchie in Abstimmung mit den USA einen Aufstand. Als Mitstreiter gewannen sie die venezolanischen Mittelschichten. Diese macht zwar nur 20 % der Bevölkerung aus, sie bildet aber die so genannte Zivilgesellschaft im Land. Der unter den Armen, die 80 % der venezolanischen Bevölkerung ausmachen, sehr beliebte Präsident Chávez wurde am 11. April 2002 von putschenden Offizieren zunächst entmachtet. Der Chef des venezolanischen Unternehmerverbandes, Pedro Carmona, wurde von den Putschisten aus Militär und der Oligarchie des Landes zum Präsidenten gekürt.

Die wirkliche Macht lag aber in Washington. Das war schon daran zu sehen, dass immer dann, wenn Carmona vor das venezolanische Fernsehen trat, hinter ihm stets ein Vertreter der US-Botschaft stand. Diese überreichte ihm auch die Liste der künftigen Minister. Carmonas Herrschaft dauerte aber keine 48 Stunden. Obwohl die Putschisten sich auf ein Blutbad wie in Chile unter Allende eingerichtet hatten - während des Putsches waren bereits Todesschwadronen unterwegs, um linke Politiker abzuführen und schließlich umzubringen; die Todeslisten stammten vom US-amerikanischen Geheimdienst CIA - und die Repression gegen die Chávez-Anhänger sehr brutal war, waren die zur Macht zurückgekehrten Oligarchen völlig verblüfft über die Hartnäckigkeit, mit der das Volk auf die Straße ging und die Rückkehr des Präsidenten erzwang. Schließlich befreiten Chávez-treue Fallschirmjäger den zunächst abgesetzten Präsidenten aus der Gefangenschaft.

Der lokalen Oligarchie ging es vor allem ums Erdöl, das sie kontrollierten, und um die großen Latifundien. Denn unter Chávez sind zum erstenmal in der venezolanischen Geschichte die Einnahmen aus dem Erdöl den Bedürftigen zugute gekommen. Er erließ Gesetze, welche eine Umverteilung aus dem Ölreichtum zugunsten der Bedürftigen fest schrieb. Bisher waren es nur die Reichen und die weiße Mittelschicht, die vom Ölreichtum profitierten.

Das Erdöl begann in Venezuela tragende Säule der Wirtschaft in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu werden. Zuvor war es Fleisch, Kakao und Kaffee, die den Export Venezuelas prägte. Diese Produkte wurden auf großen Latifundien produziert. Eine Schicht von Mittelbauern kannte Venezuela so gut wie nicht. Mit dem Erdöl bildete sich ein Typus von parasitärer Bourgeoisie heraus, die von der Ölrente lebte. Anders ist dies in Brasilien, wo sich eine im Produktionsbereich tätige Bourgeoisie entwickelt hatte, die ein Interesse an der Erschließung des Binnenmarktes hat und heute eine Trägerin des Projektes des linken Präsidenten Ignazio Silva da Lula ist, gibt es ein vergleichbares Pendant in Venezuela nicht. Nur die arbeitsintensiven Kleinstbetriebe, die keinen Vorteil aus der Ölrente ziehen konnten, weil diese an ihnen vorbei in die Taschen der Oligarchie floss, unterstützen das Chávez-Projekt einer Modernisierung der Wirtschaft. Chávez, ein linker Militär und ehemals Mitglied einer linksrevolutionären Jugendorganisation, der bewusst ins Militär eintrat, um dort linke Politik zu betreiben, will eine moderne, auf soziale Gerechtigkeit gründende Reform der venezolanischen Gesellschaft erreichen. Obwohl er sich zum Sozialismus bekennt, steht dieser heute nicht auf der Tagesordnung.

Es ist das Drama Venezuelas, dass es eine raffgierige Elite hat, die im Lauf der vergangenen Jahrzehnte Milliarden von Öl-Dollars nach Miami transferiert hat und die kein wirkliches Interesse an der Entwicklung des Landes zeigt und vor allem nicht gewillt ist, auf die Privilegien zu verzichten, die aus dem Ölreichtum stammen. Wenn es in Venezuela nicht zu einer Sozialreform kommt, wird dieses Land sozial explodieren, sagen viele erfahrene Beobachter voraus. Chávez ist die letzte Chance in einem Land, das eine reichhaltige Bürgerkriegstradition hat, den Prozess der Umverteilung von Reichtümern zugunsten der Ärmsten friedlich zu bewerkstelligen.

2. Das politische System in Venezuela

Die sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnende Partei der "Acción Democrática", die in ihren Ursprüngen in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sich als fortschrittliche nationalistische Kraft verstand und bis in die 50er Jahre auch eine antiimperialistische Rhetorik pflegte, spielte für das in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzende kapitalistische Akkumulationsmodell, nämlich der auf der Erdölrente basierenden Importsubstitutionsindustrialisierung, eine Schlüsselrolle. Sie kontrolliert zugleich einen völlig korrupten und in kriminellen Machenschaften verstrickten Gewerkschaftsdachverband CTV. Nur durch die Streikruhe, den die CTV garantierte, konnte die venezolanische Schmarotzerbourgeoisie, die nicht von der Produktion und der Hebung der Produktivität der Arbeit lebte, sondern sich von der Ölrente alimentierte, ihren enormen Reichtum erwerben, den sie immer wieder sicher außer Landes brachte und dadurch dem volkswirtschaftlichen Nutzen Venezuelas entzog.

Eine weitere Säule der Macht, über die die nationale Oligarchie und der US-Imperialismus in Venezuela verfügen, sind die zum Gewissen der "demokratischen Zivilgesellschaft" durch die CIA hochstilisierten öffentlichen Medien. Auch in Europa wird dieses Bild der "freien", von Chávez und seinen Anhängern bedrängten demokratischen Medien verbreitet. Tatsache ist aber, dass bis auf einen öffentlich-rechtliche Fernsehkanal sämtliche venezolanische Medien im Funk-, Fernseh- und Printbereich den drei reichsten Oligarchenfamilien Venezuelas gehören, die jegliche journalistische Ethik und Objektivität vermissen lassen. Sie hetzen unentwegt gegen Chávez und seiner fortschrittlichen Regierung

2.1. Warum Chávez an die Macht kam

Als Chávez im Jahr 1998 und erneut im Jahr 2000 von über 70 % der Bevölkerung zum Präsidenten gewählt wurde, befand sich das Land in sozialer Agonie. Noch in den 60er Jahren galt über die Hälfte der venezolanischen Bevölkerung als Mittelschicht. Die extreme Armut war sehr gering. Man rechnete damit, dass das Land sehr bald in die Reihen der Industriestaaten aufrücken würde.

Heute, obwohl das Erdöl nach wie vor in den gleichen Mengen fließt, ist das Land extrem verschuldet, und 80 % der Bevölkerung leben in Armut. Sie gelten als arm bis extrem arm. Etwa 40 % der VenezolanerInnen leben von 1 bis 2 Euro am Tag. Dies ist die Folge einer verfehlten Entwicklungspolitik und der dem Land anschließend von der Weltbank und dem internationalen Währungsfonds aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftspolitik.

Noch in den 60er und 70er Jahren glaubte man, dass Venezuela, eine Erfolgsstory im Sinn einer gelungenen nachholenden industriellen Entwicklung werden könnte. Die Öleinnahmen sollten ausreichen, um genügend Kapital zur Verfügung zu stellen, um damit eine die Unterentwicklung überwindende Industrialisierung zu ermöglichen. Was aber tatsächlich passierte war, dass die Öleinnahmen in den Taschen der korrupten nationalen Oligarchie verschwanden und der Staat Kredite aufnahm, um die nachholende Industrialisierung zu finanzieren, die obendrein eine unproduktive und auf den Weltmarkt nicht konkurrenzfähige Industrie hervorbrachte. Venezuela verschuldete sich dramatisch.

Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts geriet Venezuela - so wie alle andere Länder Lateinamerikas - in die Verschuldungsfalle. Von Venezuela wurde - wie auch in allen anderen vergleichbaren Fällen - von den internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank und von den westlichen Regierungen verlangt, dass es auf eine Politik des Sparens umschwenkt und unrentable Industriebereiche stilllegt, anstatt diese produktiver zu machen.

Die Folge dieser Politik waren mehrere Aufstände der Bevölkerung, die sich gegen die sozialen Folgen dieser Politik - Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger - wehrte. Der größte Aufstand fand 1989 in Caracas und anderen Städten Venezuelas statt. Der so genannte "Caracazo" hinterließ zwischen 3.000 und 6.000 Tote, eine Folge des brutalen Vorgehens von Armee und Polizei. Es war der sozialdemokratische Präsident Carlos Andres Pérez, der ein rücksichtsloses Vorgehen gegen den Hungeraufstand anordnete.

Diese Ereignisse wurden zu einem Schlüsselerlebnis der nachdiktatorischen venezolanischen Gesellschaft (von 1945 bis 1958 herrschte der Militärdiktator Marcos Pérez Jiménez). Es war diese blutige Repression und die Hunger und Elend verbreitende Politik, die 1992 zu einer Revolte "Junger Offiziere" der venezolanischen Streitkräfte führte. Sie versuchten gemeinsam mit linken zivilen Organisationen, durch eine militärisch-zivilgesellschaftliche Revolte gegen die Regierung von Carlos Andres Pérez, das politische Steuer herumzuwerfen. Der Anführer dieser "Jungen Offiziere" war Hugo Chávez, Fallschirmjägerkommandant aus der Garnisonsstadt Maracay. Der Umsturz des Jahres 1992 scheiterte, aber er wurde zur Geburtsstunde der "bolivarianischen" Bewegung in Venezuela. Simón Bolívar war der Befreier von Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Der bolivarianische Ansatz geht davon aus, dass Lateinamerika sich vereinigen muss, um sich gestützt auf die vorhandenen eigenen Potenziale aus der Unterentwicklung zu befreien. Dieser Kampf um politische und ökonomische Selbstbestimmung und um einen eigenen Weg der wirtschaftlichen Entwicklung steht allerdings im Widerspruch zu den Interessen der USA in Lateinamerika.

Nach dem gescheiterten Umsturz wird Chávez gefangen genommen und verbringt zwei Jahre im Militärgefängnis. Trotz des Sieges über Chávez gerät das alte System tief in die Krise: Der Caracazo von 1989 hatte die Gesellschaft tiefgehend verändert. Die Ablehnung der neoliberalen Politik, die aus Washington verordnet wurde, war sehr stark. Der amtierende Präsident Pérez war wegen Korruption des Amtes enthoben worden. Die politischen Institutionen waren weitgehend diskreditiert.

In der Folge formierte sich ein Mitte-Links- Bündnis, das den ehemaligen Präsidenten Rafael Caldera als Nachfolger von Pérez unterstützte. Caldera hatte in den 1930er Jahren die Christsoziale Partei Venezuelas (COPEI) gegründet. Nach jahrzehntelanger Zugehörigkeit spaltete er sich von seiner Partei ab, weil er die neoliberale, IWF-freundliche Politik, zu der die Christsozialen ebenso wie die Sozialdemokraten in den 80er Jahren umgeschwenkt waren, ablehnte. Er wurde schließlich 1993 zum zweiten Mal zum Präsidenten Venezuelas gewählt.

In seiner Amtszeit amnestierte er Chávez und alle anderen "Jungen Offiziere" sowie zahlreiche VertreterInnen ziviler Organisationen. Dennoch blieb er für die Volksbewegung insgesamt eine Enttäuschung, denn obwohl er im Wahlkampf versprach, keine neoliberale Politik verfolgen zu wollen, änderte er nach der Wahl seine Meinung. Dies diskreditierte die alte politische Klasse weiter.

Chávez, der in einer vom Fernsehen übertragenen Rede vor dem venezolanischen Volk kurz nach dem Scheitern des Umsturzversuchs 1992 die Gründe für diese Aktion der "Jungen Offiziere" bekannt gab, gewann damals sofort die Sympathie großer Teile der Bevölkerung, insbesondere jener in den Slums der großen Städte - und das ist heute die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung.

Nach seiner Freilassung aus dem Militärgefängnis beschloss er, eine politische Organisation zu gründen - die Movimiento al Socialismo (MAS) -, und wurde von der MAS zum Präsidentschaftskandidaten ernannt. Niemand hielt einen Sieg von Chávez für möglich. Aber er gewann im Dezember 1998 die Präsidentenwahl mit über 56 % der Stimmen deutlich und ließ alle seine MitbewerberInnen hinter sich - mehrheitlich VertreterInnen der korrupten Eliten, die jegliche Glaubwürdigkeit bei der Mehrzahl der verarmten VenezolanerInnen verloren hatten.

Chávez übernahm das Präsidentenamt und begann damit, zahlreiche institutionelle Reformen durchzuführen, über die im Einzelnen noch zu sprechen sein wird. Anfänglich waren die Eliten bemüht, Chávez und seine Bewegung einzukaufen. Dies misslang jedoch. Sehr bald merkten sie, dass Chávez ein neuer Typ von Politiker war, der sich - anders als viele Linke aus der Zeit des Guerillakrieges in Venezuela 1960-1968 - nicht mit Petrodollars einkaufen ließ. Seitdem begannen die nationale Oligarchie, Washington (namentlich die US-Botschaft in Caracas), die kolumbianische Regierung, die kubanischen Contras und der Opus Dei der katholischen Kirche, an einem Szenario zum Sturz von Chávez zu arbeiten.

Dies funktionierte eine ganze Weile nicht, weil das alte korrupte System sich immer noch in der Defensive befand. Aber von Miami aus zog der entmachtete und ins Exil gezwungene Expräsident Carlos Andres Pérez die Fäden der Gegenrevolution zusammen. Mit in das Anti-Chávez-Orchester wurde die Sozialistische Internationale einbezogen. Sie sollte die Argumente von Seiten der demokratischen Linken gegen den "Obristen" Chávez ins Feld führen.

In Venezuela selbst sollte die CTV-Gewerkschaft eine zentrale strategische Rolle einnehmen. Die CTV wird vollständig vom Apparat der Acción Democrática kontrolliert. In ihr hat es seit ihrer Gründung nie Wahlen für die Führungsfunktionen gab. Erst ein Gesetz, das Chávez ins Parlament einbrachte und dort eine Mehrheit fand, erzwang die Durchführung freier und geheimer Wahlen auf allen Ebenen der CTV. Bis dahin war es Tradition, dass die Spitze der CTV durch das Zentralkomitee der Acción Democrática bestimmt wurde. Die CTV sollte die internationale Öffentlichkeit täuschen und vorgeben, dass die venezolanische Arbeiterschaft geschlossen gegen den mittlerweile zum Diktator stilisierten Präsidenten in den Generalstreik getreten sei. Kann es dann noch irgend welche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Anliegens geben, Chávez zu stürzen? Schließlich lehnen ja auch die CTV-"Gewerkschaft", diese selbst ernannten Vertreter der venezolanischen Arbeiterschaft, ihn ab. So reifte die Zeit der Anti-Chávez-Koalition, um aus der Defensive herauszukommen, heran.

Im Prozess der institutionellen Reformen, die Chávez unter breiter Mitwirkung der Bevölkerung durchführte- so wurde eine neue Verfassung in einem Referendum verabschiedet, die Staatsorgane wurden neu bestimmt, aus der Vierten wurde die Fünfte Republik -, sortierte sich auch das Chávez-Lager neu. Frühere Kampfgefährten aus den Reihen der "Jungen Offizier" verließen ihn und wurden zu Chávez- Gegnern. Ihr Argument war, dass Chávez das kommunistische System Kubas in Venezuela einführen wolle. Es zeigt, wie heterogen letztendlich die linksnationalistische Gruppierung innerhalb der Militärs war, die mit Chávez zusammen den Aufstand geprobt hatte. Sie kritisierten auch, dass sich Chávez zu sehr von kommunistischen Kräften beraten ließe. Insbesondere die venezolanischen Kommunisten, eine sehr kleine Partei mit wenigen Abgeordneten, wurde von Präsident Chávez mit viel Lob hervorgehoben. Das gleiche gilt für Patria Para Todos, eine Abspaltung der venezolanischen KP aus dem Jahr 1970. Auch wurde die enge Freundschaft, die Chávez mit Kuba eingegangen war, zunehmend zum Gegenstand erbitterter Kritik durch die Oligarchie.

Tatsächlich rief Chávez viele kubanische Ärzte ins Land (1.300 an der Zahl), die in den Armenvierteln in den Städten und auf dem Land die medizinische Betreuung übernehmen. Auf diese richtete sich der besondere Hass der Oligarchie. Chávez erließ auch ein Sozialprogramm "Plan Bolívar 2000". Kinder der Armenviertel erhielten in den Schulen eine warme Mahlzeit pro Tag und einen Viertel Liter Milch. Die öffentlichen Schulen, die bereits so gut wie nicht mehr funktioniert hatten, wurden wieder instand gesetzt und mit moderner Technik (PCs usw.) ausgerüstet. Die Kliniken, die unter den Vorgängerregierungen aufgehört hatten zu funktionieren, weil der Staat kein Geld mehr für Gehälter, Medikamente und Geräte bereitgestellt hatte, wurden wieder in Betrieb genommen. Dabei halfen auch die kubanischen Ärzte wesentlich mit.

All das sind in den Augen der Mittelschichtsangehörigen, die ihre Kinder in Privatschulen schicken und teure Monatsraten für die privaten Krankenkassen bezahlen, keine großen Errungenschaften. Aber für die Armen, d.h. die Mehrheit des Volkes, sind es revolutionäre Neuerungen. Zum ersten Mal verspüren die Armen, dass hier ein Präsident ist, der sich um ihre Belange kümmert. In dieser Zeit findet eine tiefe Politisierung in Venezuela statt. Die vorher apathischen, an nichts und niemanden glaubenden, pauperisierten SlumbewohnerInnen beginnen sich zu politisieren, ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln und organisieren sich in den bolivarianischen Gruppen zur Verteidigung der Revolution.

2.2. Die Konterrevolution der venezolanischen Oligarchie

Auf der anderen Seite gelang es der Oligarchie, aus der Defensive herauszukommen. Das Schisma unter den alten Kommandanten, von denen sich zahlreiche aus antikommunistischen Gründen von Chávez lossagen, und die pausenlose Propaganda der Oligarchenmedien zeigten insbesondere auf die Mittelschichtsangehörigen (Beamte, Angestellte in der verstaatlichten Industrie, Gewerbetreibende, Bildungsbürgertum in den Großstädten) Wirkung. Die Mittelschichten begannen, sich gegen Chávez zu wenden. Sie sind die Masse, die die Oligarchie auf die Straße in Stellung gegen Chávez bringen konnte.

Chávez und seine Anhänger sind durchaus selbstkritisch und sehen, dass sie Fehler gemacht haben, dass sie nicht den richtigen Ton gegenüber den Mittelschichten getroffen haben, obwohl es falsch zu sagen wäre, dass sich die bolivarianische Politik gegen die Mittelschichten gewendet hätte. Ganz im Gegenteil: Chávez leitete viele Maßnahmen ein, die den Mittelschichten zugute kam. So wurde z.B. ein Gesetz erlassen, das es den Privatschulen erschwert, willkürlich das Schulgeld zu erhöhen, was früher oft den Ruin für Mittelschichtsfamilien bedeutet hat.

Monatelang befand sich das Land unter dem medialen Trommelfeuer der Oligarchenmedien. Im Dezember 2001 gingen die Oligarchen, unterstützt durch die katholische Kirche sowie die Botschaften der EULänder - insbesondere Spaniens - und der USA, in die Offensive über. Der Unternehmerverband erklärte am 10. Dezember den Generalstreik. Der Boden für einen Putsch gegen Chávez wurde vorbereitet.

Der eintägige Generalstreik verlief nicht ganz wirkungslos, aber auch nicht so wirkungsgewaltig wie erwünscht. Aber alle Aktionen glichen drehbuchmäßig denen des CIA im Jahr 1973 in Chile, als gegen die Regierung des sozialistischen Präsidenten Allende die selben Methoden angewandt worden waren.

Am 11. April 2002 war es schließlich soweit. Die "Coordinadora Democrática", das Bündnis der Demokraten, wie sich die Kräfte der Oligarchie selbst bezeichnen, rief zu einer großen Demonstration auf. Dies war das Signal für den Umsturz, der den fortschrittlichen Präsidenten beseitigen und analog zu Chile unter der linken Venezuelas ein Blutbad hinterlassen sollte.

Der Umsturz scheitert jedoch am hartnäckigen Widerstand der breiten Masse der Bevölkerung Venezuelas. Diese demonstrierte tagelang und suchte mit einfachsten Waffen die Konfrontation mit den illoyalen Verbänden von Armee und Polizei. Schließlich setzte sie die Rückkehr ihres Präsidenten durch. Sie konnte die fortschrittlichen Teilen der venezolanischen Armee zum Handeln bewegen. Zusammen mit den Volksmassen erzwangen sie die Rückkehr von Chávez und brachten den Putsch der Oligarchie und ihrer ausländischen Verbündeten zum Scheitern.

3. Das Scheitern der nachholenden Entwicklung in Venezuela

3.1. Venezuelas Weg in die Industrialisierung

Venezuela hatte seine erste Berührung mit dem kapitalistischen Weltmarkt noch als Teil des spanischen Kolonialreiches. Wegen der "Armut" des Landes an den damals verwertbaren Bodenschätzen (im Vergleich zu anderen spanischen Kolonien gab es in Venezuela kaum Gold- und Silbervorkommen), waren es vor allem landwirtschaftliche Produkte, über die Venezuela in den Weltmarkt integriert wurde.

Darin sind auch die Ursachen für die insgesamt ausbleibende und sozial sehr ungleiche Entwicklung zu finden. Das spanische Imperium hatte nur ein partielles Interesse an der Entwicklung Venezuelas. Die neuen kolonialen Gesellschaften wurden damit schon als Peripherie aus der Taufe gehoben.

In einem System der reglementierten Versklavung wurden den Indios im Rahmen der ihnen aufgezwungenen Encomienda-Wirtschaft Arbeitsleistungen abgepresst. Während sie für die Encomienda (landwirtschaftliche Betriebe der Großgrundbesitzer) kostenlos schuften mussten, sicherten sie ihr eigenes Überleben durch eine Subsistenzproduktion auf kleinen Landstücken (conuco). Über viele Jahrhunderte hindurch blieb die menschliche Arbeitskraft die Grundlage der Produktivität. Technologische Innovationen fanden kaum statt.

Bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts war Venezuela eine Agrarnation. Das Aufkommen des Erdöls seit dem Ersten Weltkrieg ließ die landwirtschaftliche Produktion erlahmen, ohne dass die einsetzende Industrialisierung zur Bereitstellung ausreichender Arbeitsplätze geführt hätte, um den in der Landwirtschaft freigesetzten Arbeitskräften Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten. Erst unter der Regierung des Armeegenerals Angarita - inspiriert durch den Entwicklungsnationalismus des argentinischen Diktators Peron - gab es in den 1940er Jahren erste Ansätze eines Entwicklungskonzeptes. Zu einem systematischen Entwicklungskonzept gelangte man jedoch erst nach dem Sturz der Diktatur von Pérez, der von 1948 bis 1958 das Land mit eiserner Faust regiert hatte. Unter seiner Herrschaft begannen die Öleinnahmen im großen Stil zu fließen. Der Staat hatte erstmals in größerem Umfang Geld, was sich in zahlreichen öffentlichen Vorhaben bemerkbar machte. Venezuela modernisierte sich in den 50er Jahren gewaltig.

Wie bei allen Ländern Lateinamerikas weisen auch in Venezuela die Phasen des Wirtschaftsverlaufes stets eine klare Abhängigkeit von im Ausland bedingten Begebenheiten auf, insbesondere der Nachfrage und der Preisentwicklung von Rohstoffen. In einem Punkt unterscheidet sich Venezuela dabei deutlich von den restlichen Ländern Südamerikas. Mit dem Erdöl verfügt Venezuela als einziges südamerikanisches Land über einen Exportartikel, der als entscheidender Energieträger des fordistischen Kapitalismus durch stetig wachsende Nachfrage und auch durch die Exporteure beeinflussbare Preise ausgezeichnet ist.

Das Erdöl bescherte dem Land enorme Geldmittel, die im Prinzip ausreichend waren, um einen umfassenden Industrialisierungsprozess voranzubringen und das Land in einen Prozess nachholender Entwicklung eintauchen zu können. Laut der Modernisierungstheorie ist es die sine qua non des Erfolgs nachholender Entwicklung: über genügend Kapital zu verfügen oder dieses durch ausländische Kapitalgeber mobil zu machen.

Noch in den 70 Jahren des 20. Jahrhunderts räumte man Venezuela aufgrund seines Erdölreichtums einen besonderen Status in der Entwicklungspolitik ein. Das Land galt als Sonderfall. Der damals bekannte und in Venezuela ansässige linke deutsche Entwicklungstheoretiker Heinz Rudolf Sonntag meinte gar, dass Venezuela wegen seines Erdölreichtums ausersehen sein könnte, der staunenden Welt eine echte Überwindung der Unterentwicklung auf kapitalistischem Weg vorzuzaubern (Heinz Rudolf Sonntag, Perspektiven der lateinamerikanischen Revolution, Berlin 1974).

Diese Prognose ist nicht eingetreten. In den 80er und 90er Jahren befand sich Venezuela bereits an einer entwicklungspolitischen Weggabelung. Die mit den Erdöleinnahmen seit den 1930er Jahren forcierte Importsubstitution (d.h. der Aufbau nationaler Industrien, die zuvor importierte Konsum- und Investitionsgüter herstellen) hatte sich erschöpft. Weder trug sie zum fortschreitenden wirtschaftlichen Wachstum bei noch dazu, dass Venezuelas Industrie auf den internationalen Märkten konkurrenzfähig geworden wäre. Die Investitionen verharrten in den 80er und 90er Jahren - trotz einer Zunahme des Bruttoinlandsprodukts dank höherer Erdöleinnahmen ab Mitte der 80er Jahre - auf einem niedrigen Niveau.

Ganz im Gegensatz zu den ostasiatischen Ländern, die sich in den 80er und 90er Jahren in voller wirtschaftlicher Dynamik befanden, verfügte Venezuela zu keinem Zeitpunkt über industrielle Produkte, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig gewesen wären und die durch Export zu weiterem wirtschaftlichen Wachstum beitragen hätten können. Mit der Ausnahme von Erdöl und - seit den 80er Jahren - Stahl und Aluminium war die venezolanische Produktion durch ein geschütztes tarifäres System gekennzeichnet, das auf die Bedarfsdeckung eines relativ kleinen Binnenmarktes (24 Mio. EinwohnerInnen) ausgerichtet.

Hinzu kommt, dass bestimmte Strukturmerkmale, die sich durch die Form der Rohstoff extrahierenden und Import substituierenden Industrialisierung herausgebildet haben, nie überwunden wurden. Wie jedes Land, das seine Entwicklung verspätet und fremdbestimmt begonnen hatte, wies auch die venezolanische Entwicklung typische Merkmale einer dichotomen Ökonomie auf, in der moderne und zurück gebliebene Sektoren nebeneinander koexistierten. Dieser Zustand, der von Entwicklungstheoretikern der Dependencia- Schule als "strukturelle Heterogenität" bezeichnet wird, ist kein vorübergehender, wie von den neoliberalen Apologeten behauptet. Er ist ein Zustand, der sich mit fortschreitenden partiellen Industrialisierung erhält und Bedingung des spezifischen Typus von Industrialisierung innerhalb eines unterentwickelten Landes ist.

Außerdem zeigte Venezuelas Weg einer nachholenden kapitalistischen Industrialisierung alle typischen Merkmale einer fehlenden Homogenisierung von Ökonomie und Gesellschaft. In Venezuela existieren unterschiedliche Produktionsweisen mit einem sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand der Produktivkräfte nebeneinander. Neben der produktiven, rohstoffbasierten Exportwirtschaft besteht ein ineffizienter Binnenmarktsektor im Bereich von Produktion und Dienstleistungen. Er erhält sich letztlich aus der Umverteilung der (Erdöl-)Exporteinnahmen, seine Struktur hängt von den Bedürfnissen der Bevölkerungsgruppen ab, die von der Erdölrente leben.

Subsistenzwirtschaft ist eine aus dem wirtschaftlichen Kreislauf desintegrierte landwirtschaftliche Produktion. Sie war früher in Venezuela bestimmend, kommt heute aber nur noch marginal vor. Sie wird allerdings von Chávez als Ausgangsbedingung zur Armutsbekämpfung auf dem Land favorisiert. Denn die Entwicklungspolitik auf dem Land war zwar vom Gesichtspunkt der Produktionssteigerung pro Fläche sehr erfolgreich, hat aber zur Marginalisierung der Landbevölkerung, zur Landflucht und zur Zunahme der städtischen Armut geführt.

Die in den vergangenen Jahrzehnten aus der Subsistenzlandwirtschaft abgewanderten Bevölkerungsmassen bilden heute den zahlenmäßig größten Wirtschaftssektor: die informelle Ökonomie in den städtischen Zentren. Die Mehrheit der Bevölkerung versucht, sich mit Hilfe von Tagelöhner-Tätigkeiten, dem Kleinhandel und verschiedenen "persönlichen Dienstleistungen" (von Autoscheiben waschen bis zur Prostitution) über Wasser zu halten, was mehr schlecht als recht gelingt und nicht dazu beitragen kann, die weit verbreitete Armut zu überwinden.

Letztendlich hat das Modell der Importsubstitution in Venezuela zur sozio-ökonomischen Entwicklung beigetragen, es hat aber auch im großen Maß zu sozialer Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Marginalität großer Bevölkerungsgruppen geführt.

3.2. Das politische System nach dem Sturz der Diktatur von Pérez

Die Geschichte der venezolanischen Industrialisierung, die unter dem Namen "sembrar el petroleo" (das Erdöl säen) bekannt wurde, war durch eine Auseinandersetzung zwischen den auf Teilhabe am volkswirtschaftlichen Reichtum drängenden Gruppen und der auf einer parasitären Ausbeutung ausgerichteten Oligarchie geprägt. Die ersten Ansätze einer sich regenden venezolanischen Öffentlichkeit machten sich unter der Diktatur von General Gomez (1908-1935) bemerkbar.

Als Ergebnis der durch das Öl eingeleiteten Industrialisierung entstand eine neue Mittelschicht, die im Widerspruch zu der in der traditionellen LatifundienÖkonomie verharrenden Oligarchie geriet. Diese Mittelschicht rang um Partizipation im Staat. Ihren ersten Ausdruck fanden diese Bemühungen in der 1928er-Bewegung unter Führung des Studenten Romulo Betancourt, Mitgründer der AD (Acción Democrática). Diese Bewegung initiierte den Zyklus ständiger Auseinandersetzungen der Mittelschichten um ein größeres Stück der Ölrente, die zunächst nur den wenigen Oligarchenfamilien und den ausländischen Erdölunternehmen zugute kam. 1958 gelang es den Mittelschichts-Vertretern schließlich, die letzte an den Latifundismus gebundene Militärdiktatur zu stürzen und selbst die politische Kontrolle im Land zu übernehmen.

Mit dem Jahr 1959, unter der Regierung Betancourt (der der erste Präsident nach dem Sturz des Diktators Pérez war), wurde eine neue Phase der Importsubstitution eingeleitet, die der wirtschaftlichen Entwicklung einen neuen Schwung versetzte. So wurden hohe Handelshemmnisse auf solche Importprodukte gelegt, die auch im Land selbst hergestellt wurden oder deren Herstellung man anstrebte. Denn es galt bis dahin, dass der harte Bolívar eine beschleunigte Industrialisierung hemmte. Das Fehlen einer Importbegrenzungspolitik bei gleichzeitig starker Währung führte zuvor dazu, dass man die Erdöleinnahmen dazu nutzte, Importe aus dem Ausland zu finanzieren, die billiger und in der Qualität besser waren als selbst hergestellte Produkte.

Die Politik, der Industrialisierung einen neuen Entwicklungsschub zu ermöglichen, bedeutete aber auch, dass man jene politischen und sozialen Kräfte formieren musste, die für die Umsetzung einer solchen Politik notwendig waren. Denn um eine forcierte Importsubstitution, die den Exportinteressen der USIndustrie entgegen lief, durchzuhalten, wäre ohne die Formierung eines neuen politischen Blockes, der demokratisch legitimiert war, nicht möglich gewesen.

In der Nachfolge der Diktatur wurde hierfür ein Klassen übergreifendes Bündnis, das Unternehmer, Handelskapital, Staatsbürokratie und Gewerkschaften umfasste, aus der Taufe gehoben. Dieses Bündnis wurde anfänglich gar von der damaligen radikalen Linken, der venezolanischen kommunistischen Partei, unterstützt und erfuhr nur marginale Kritik. Allerdings wurden die Kommunisten, obwohl eine tragende Kraft beim Sturz der Diktatur, von der ersten Koalitionsregierung ausgeschlossen. An dieser waren die späteren staatstragenden Parteien AD, COPEI und URD (die wenige Jahre später in die Bedeutungslosigkeit abtaucht) beteiligt.

Erst diese Allianz der "Nationalen Einheit", die im Pakt von Punto Fijo (Oktober 1958) zementiert wurde, ermöglichte in den folgenden Jahrzehnten jenen gesellschaftlichen Kompromiss, der notwendig war, um die Erdölrente für eine kontinuierliche Modernisierung zu nutzen, ohne dass deren Verteilung zwischen den herrschenden gesellschaftlichen Gruppen immer wieder aufs Neue in Frage gestellt worden wäre, was ständige Verteilungskonflikte und politische Instabilität bedeutet hätte.

Das Bündnis von Punto Fijo (unter Ausschluss der Kommunisten und anderer linksnationalistischer Kräfte) prägte die weitere Entwicklung Venezuelas bis in die 80er Jahre. Sein Ende wurde erst mit der großen Legitimitätskrise des Systems eingeläutet, als die hohe Staatsverschuldung, die weiter wachsenden sozialen Ungleichheiten und die vom Westen verordnete und von den nationalen Eliten eilfertig aufgegriffenen neoliberale Politik dem bisherigen Entwicklungsweg der Umverteilung der Erdölrente den Boden entzogen. Diese Legitimitätskrise war letztlich die Voraussetzung für den Erfolg von Chávez und seinem Modell der bolivarianische Revolution.

Entscheidend für die neue Phase, die durch "Punto Fijo" ausgelöst wurde, war, dass das bisherige Entwicklungsmodell durch die Komponente der Staatsintervention zur direkten Industrialisierungsförderung ergänzt wurde. Bis 1958 dominierte die assoziierter Entwicklung der venezolanischen Bourgeoisie (d.h. der Oligarchen-Familien, die sich einen großen Teil der Ölrente sicherten) mit dem internationalen Kapital (das die Erdölförderung und den Erdölexport kontrollierte), die zu einer bescheidenen Industrialisierung, aber kaum zur sozio-ökonomischen Entwicklung des Landes beitrug.

Angelpunkt des neuen Entwicklungsmodells des Staatsinterventionismus zur Förderung der Importsubstitution war die staatliche Kontrolle über die Erdölrente, die den notwendigen Akkumulationsfonds speisen sollte. Diese befand sich zunächst jedoch noch in den Händen der privaten Unternehmer. An deren Stelle traten Staat und Bürokratie, und zwar zunächst über die Abschöpfung der Erdölrente mittels Steuern, und ab den 70er Jahren dann durch die direkte Verstaatlichung der Erdölindustrie. Die Steuereinnahmen bzw. die direkten Ölexporterlöse finanzierten Infrastrukturmaßnahmen für die Ansiedlung von Industrien, deren Produkte die bisherigen Import ersetzen sollten.

Die Tatsache, dass der Staat Motor der Importsubstitutionspolitik wurde, bedeutete allerdings keineswegs, dass die Dependencia-Merkmale, die der sozioökonomischen Entwicklung Venezuelas seit dem Beginn der Ölproduktion anhafteten und direkt von der agrarischen Unterentwicklung übernommen wurden, geringer geworden wären.

Wichtig für die weitere Entwicklung war, dass die Stellung des Staatsapparats in der Phase der Importsubstitution keineswegs eine unabhängige gegenüber der Bourgeoisie war. Zwar konnte der Staat seine Autonomie gegenüber den zuvor alleine herrschenden Großgrundbesitzern und Ölunternehmern stärken. Allerdings blieb die ökonomische Politik stark von der Investitionsbereitschaft der Bourgeoisie abhängig. Dort, wo ausreichend privates Kapital vorhanden war oder ins Land strömte, wurden auch private Initiativen ermöglicht und gefördert. Dadurch wurde aber jene Fraktion der Staatsbürokratie gestärkt, die in direktem Zusammenhang mit den Oligarchenfamilien und Erdölunternehmen stand. Letzteren gelang dadurch die Penetration in den Staatsapparat, was zu einer entwicklungshemmenden Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik an den Interessen der Eliten führte, nämlich die Öleinnahmen für den eigenen Luxuskonsum und die Alimentierung einer schmalen Mittelschicht zu nutzen und an den sozialen Verhältnisse, vor allem der Armut der Landbevölkerung, nichts zu ändern. Erst Chávez setzte an, die Vormachtstellung dieser "Monopolbourgeoisie" im Staat zu brechen, was ihm zumindest teilweise auch gelang.

3.3. Linke Kritik am venezolanischen Modell

Um die Position von Chávez und der bolivarianischen Bewegung in entwicklungstheoretischer Hinsicht zu verstehen, muss man auf die Auseinandersetzung zwischen den Parteien des Blocks von Punto Fijo und der venezolanischen Linken in den 60er Jahren zurückkommen. Dieser Konflikt führte zu einer zehnjährigen Auseinandersetzung, die auch in Form eines heftigen Guerillakriegs ausgetragen wurde.

Die Sollbruchstelle zwischen der Linken und den Parteien von Punto Fijo wurde die Hinwendung der venezolanischen Politik unter Romulo Betancourt zum Modell des "Desarrollismo". Der Desarrollismo ist eine Art "Light-Version" der von der lateinamerikanischen Linken favorisierten CEPAL-Konzepte (s. Arbeitsblatt 2), wobei "Light-Version" meint, dass es sich um eine den USA gefällige Variante handelt.

1948 wurde die CEPAL für ganz Lateinamerika gegründet. Strukturalistische Wirtschaftswissenschaftler und technokratische Modernisierer, die von der Vision eines Zusammenhangs zwischen Demokratie und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung bei sozialen Verbesserungen und wirtschaftlichem Aufschwung beseelt waren, entwickelten eine Reformstrategie, die einerseits die Importe substituierende Industrialisierung der 1930er und 1940er Jahre vertiefen und beschleunigen sollte, andererseits strukturelle Veränderungen im Inneren der lateinamerikanischen Volkswirtschaften wie Agrarreform, Diversifizierung der Produktionsstruktur, Exportförderung und vor allem eine Ausweitung des Binnenmarktes vornehmen wollte.

Das Konzept sollte durch eine Dreierallianz realisiert werden: Einheimische Unternehmer (die viel zitierte "nationale Bourgeoisie"), denen man hinter einer protektionistischen Zollmauer angemessene Profitraten in Aussicht stellte, schlossen sich mit der organisierten Arbeiterschaft, der Beschäftigung und steigende Löhne versprochen wurde, unter der Führung eines interventionistischen Staates zusammen, der wiederum die erforderlichen Marktbedingungen und die notwendige Infrastruktur schuf; erforderlichenfalls würde er auch selbst in die Industrie investieren, wenn die Privatinitiative nicht ausreichen sollte. Explizit zurückgewiesen wurde das alte, aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert stammende Modell eines Wachstums auf der Grundlage des Exports von Primärgütern (desarrollo hacia afuera - "Wachstum nach außen").

Dies war eine Art sozialdemokratisches, aber auch von den meisten kommunistischen Parteien Lateinamerikas favorisiertes Konzept, demzufolge die organisierte Arbeiterschaft und die Linke insgesamt in ein demokratisches System eingebunden sein würden. Unabhängig von allen fortbestehenden Problemen im Arbeits- und Sozialbereich würde es über das Modell der "importsubstituierenden Industrialisierung" eine Art Klassenkompromiss geben, der eine kontinuierliche Entwicklung gewährleisten sollte.

Derartige Vorstellungen wurden in den USA mit äußerster Skepsis aufgenommen, setzten die USA sich doch gerade in dieser Phase (ab den 50er Jahren) vehement für eine liberale Wirtschaftsordnung auf der Grundlage eines freien Güter- und Kapitalverkehrs ein. Protektionismus, Staatsinterventionismus und gesteuerte Industrialisierung passten überhaupt nicht in dieses Konzept. Es bestand somit eine Grundantinomie zwischen dem reformistischen, binnenorientierten und importsubstituierenden Industrialisierungsmodell einerseits und der liberalen, von den USA bestimmten Weltwirtschaftsordnung andererseits.

Hinzu kam, dass die CEPAL unter ihrem langjährigen (1949-1962) Exekutivsekretär Raúl Prebisch eine Kritik der klassisch-liberalen Außenhandelstheorie und ihres Grundkonzepts der komparativen Vorteile vornahm. Unter Zugrundelegung des Zentrum- Peripherie-Modells stellte Prebisch die These auf, der Handelsaustausch zwischen Industrie- und Entwicklungsländern verlaufe ungleich mit dem Ergebnis, dass vor allem die Länder des Zentrums davon profitierten.

Ausschlaggebend dafür seien die Terms of Trade, also das Verhältnis zwischen der Preisentwicklung für Exportwaren und der Preisentwicklung für Importwaren, die sich über längere Zeiträume hinweg zu Ungunsten der Peripherie entwickelt hätten. Prebisch entwickelte geradezu eine Theorie der "säkularen Verschlechterung der Terms of Trade", der zu Folge die Preise der exportierten Rohstoffe langfristig fallen, während gleichzeitig die Preise für den Import industrieller Fertiggüter steigen, so dass sich die realen Austauschverhältnisse für die Entwicklungsländer ständig verschlechterten.

Auch die in den 50er und 60er Jahren angewandte Entwicklungsstrategie hat viele Elemente des CEPAL-Konzepts übernommen, etwa Industrialisierung oder Technologietransfer. Während aber die Industrialisierungsstrategie der CEPAL bei den Importsubstitutionsmöglichkeiten ansetzte, hat beim Desarrollismo der Staat keine Vorgaben seitens der Theoretiker bekommen. Die Desarrollistas nahmen billigend in Kauf, dass die sozio-ökonomische Entwicklung im Desarrollismo ungleichgewichtig war und mit ausländischen Investitionen, d.h. mit Auslandsverschuldung, erreicht wurde.

Längere Zeit beherrschte der Desarrollismo-Ansatz das Denken der Wirtschaftspolitiker in verschiedenen Ländern Lateinamerikas (Brasilien, Venezuela, Bolivien). An diesen Grundaspekten des Desarrollismo - ökonomistische Ausrichtung, Industrialisierung mit ausländischer Finanzierung, ungleichgewichtige Entwicklung - setzte die Kritik der Dependenztheoretiker an, die vor allem die Weltmarktöffnung als außenorientierte Wachstumsstrategie und das Fehlen sozialer Komponenten anprangerten.

Die venezolanische Linke kritisierte schon in den 60er Jahren, dass der Desarrollismo in die Krise führte. Denn er hatte viele seiner selbstgesteckten Ziele nicht erreicht: So war es nicht zu einer Verringerung der Einkommensunterschiede gekommen. Ein großer Teil der Bevölkerung war weiterhin marginalisiert. Die wirtschaftliche Außenabhängigkeit hatte sich nicht verringert, sondern nur verlagert, und die politischen Systeme waren nach wie vor instabil. Für lateinamerikanische Politiker enttäuschend, wurde die Entwicklungsdynamik immer noch durch äußere Faktoren bestimmt: Die Einfuhr von Fertigwaren war zwar begrenzt worden, aber nun folgten aus den Industriestaaten umso mehr teure Kapitalgüter. Was dabei besonders störend auffiel, war die Tatsache, dass multinationale Konzerne immer häufiger Investitionen in Schlüsselindustrien und technologisch hoch entwickelten Branchen tätigten. Diesen (meist USamerikanischen) Konzernen mussten die lateinamerikanischen Regierungen weit reichende Zugeständnisse machen, was als Einschränkung der nationalen Souveränität empfunden wurde.

Mit anderen Worten: Die bis dahin dominierenden Modernisierungstheorien, die in ihrer Desarrollismo- Ausprägung nach dem Zweiten Weltkrieg das Ziel verfolgten, dem lateinamerikanischen Subkontinent die kapitalistische Entwicklung als die bessere Alternative zu präsentieren, waren, ebenso wie die bis dahin propagierten Rezepte der CEPAL, wegen offensichtlicher Fehlschläge diskreditiert. Gleichzeitig inspirierte die erfolgreiche kubanische Revolution die Intellektuellen in ganz Lateinamerika zur Reflexion über Alternativen zu den konventionellen Entwicklungswegen.

Die Auseinandersetzung zwischen Dependistas und Desarrollistas in den 60er Jahren endete in Venezuela mit einer Niederlage der Linken. Nicht nur weil sie militärisch in der Guerillabewegung unterlag, sondern vor allem, weil die herrschende Politik ab 1973 Elemente aus dem Programm der Linken übernahm. Als 1973 die Acción Democrática unter Carlos Andres Pérez (der in seiner zweiten Präsidentschaft Anfang der 90er Jahre so dramatisch scheitern sollte) nach vier Jahren christdemokratischer Herrschaft wieder an die politische Macht kam, wird eine Regierung der Paradoxien konstituiert. Es findet eine Redimensionierung des venezolanischen "Populismus" statt, der zwei Elemente vereinbaren will. "Meine Amtsperiode muss Anfang einer Ära authentischer populärer Errungenschaften sein, die eine wirtschaftliche und soziale Demokratie als Ausdruck der tiefsten Wünsche des venezolanischen Volkes ermöglicht."

Zu den Paradoxien der Forderung von Pérez gehörte, dass er jene Entwicklungselemente aus dem Programm der Linken übernahm, die er noch als Innenminister der Regierung Betancourt bekämpft hatte. Er versprach die Nationalisierung der Erdölproduktion - was er 1976 auch umsetzte und was heute von Chávez verteidigt wird -, eine allgemeine Staatsreform, den Kampf gegen die extreme Armut und eine demokratische Erneuerung des Staates. Er tat dies aber ohne den Reichen etwas wegzunehmen, ohne Umverteilung.

Die Realität des Landes zeigte jedoch, dass ohne Strukturänderungen so etwas nicht geht. Daran scheiterte schließlich die Politik von Carlos Andres Pérez, der 12 Jahre später, als er wieder Präsident wurde, all die "Errungenschaften" dem Volk auf Geheiß des IWF und der Weltbank wegnehmen sollte, um die Reichen vor Profiteinbußen zu schützen.

3.4. Schwarzer Freitag und Caracazo

Bis zum Freitag, den 18. Februar 1983, bestand ein fixer Wechselkurs von US-Dollar zu Bolívar (der venezolanischen Währung) von 1 US-$ zu 4,30 Bolívar. Aber die Tilgungsraten für die Auslandsschulden, die Verringerung der Erdöleinnahmen, Kapitalflucht und Korruption führten zur Entwertung des Bolívars. Am 18. Februar 1983 wurde schließlich der Wechselkurs freigegeben, und der Bolívar verlor gegenüber dem US-$ massiv an Wert. Ende 1983 lag der Kurs bei 7,5 Bolívar, 1987 bei 50 Bolívar. Im Lauf der 90er Jahre beschleunigte sich die Abwertung weiter, der Kurs fiel auf 1.000 Bolívar je US-$ und steht heute bei 1.400.

In einem Land, das so stark von Importen abhängig ist, wo zwischen 60 und 80 % der Nahrungsmittel importiert werden müssen, schuf die Abwertung der Landeswährung ernsthafte Probleme für die Wirtschaft. Armut verbreitete sich immer schneller und erreichte auch den Mittelstand. Die meisten Menschen waren nicht mehr in der Lage, genug zu verdienen, um ihre Angehörigen zu ernähren.

Im Jahr 1989 setzte die Regierung von Carlos Andres Pérez Maßnahmen durch, die in den Amtsstuben der Weltbank und des IWFs entworfen wurden. Es handelte sich um scharfe Sparmaßnahmen. Die Armutsviertel von Caracas begannen sich zu erheben. Spontan fluteten die Menschen in die Einkaufsstraßen der Stadt und begannen, die Geschäfte zu plündern. Dieser Aufstand wurde von der Armee blutigst niedergeworfen. Die Zahl der Opfer wird auf 3.000 bis 6.000 Menschen geschätzt. Dieses Massaker stellt einen Wendepunkt in der venezolanischen Entwicklung dar. Danach war das Land nicht mehr das gleiche.

Nach diesem Massaker von 1989 ("Caracazo") begannen linke Initiativen und Militärs, gemeinsame Pläne zu entwerfen, um die Pérez-Regierung aus dem Amt zu jagen. Chávez' Aufstand von 1992 bezieht sich auf dieses Massaker von 1989. Er sagte, so etwas dürfe nie wieder geschehen. Die Armee ist nicht dazu da, das Volk zu unterdrücken, sondern es zu verteidigen. Nicht die Armen, sondern die Armut muss bekämpft werden. Dies war die Geburtsstunde des "Chávismus" in Venezuela.

4. Venezuela nach der bolivarianischen Revolution

4.1. Chávez' Politik

Es wäre falsch zu behaupten, dass Chávez politisches Konzept eine Kopie des entwicklungspolitischen Diskurses der Linken der 60er Jahre wäre. Es knüpft aber mit Sicherheit daran an. Es versucht allerdings, die autozentrierte Entwicklung, so wie es die Dependenztheoretiker empfohlen hatten, auf eine breitere lateinamerikanische Grundlage zu stellen und so der Kleinheit der einzelnen nationalen Märkte der lateinamerikanischen Länder zu entgehen und die gemeinsamen Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung zu mobilisieren.

Kern dieses Konzeptes ist der Aufbau eines gemeinsamen lateinamerikanischen Marktes, in dessen Zentrum Brasilien stehen soll. Dieser sollte womöglich strategische Allianzen mit Europa eingehen, um so der US-Dominanz ein Gegengewicht zu bieten. Auf nationaler Ebene hat Chávez mehrere Reformen eingeleitet, die in diese Richtung deuten:
  • Er hat in der Verfassung festschreiben lassen, dass die Erdölproduktion nicht privatisiert werden darf.
  • Auch die im November 2001 verabschiedeten Gesetze sind ein Novum in der Geschichte dieser Nation. Das Fischfang-Gesetz besagt, dass die industriellen Flotten erst sechs Meilen von der Küste entfernt ihre Netze auswerfen dürfen. Das schützt Kleinfischer und verhindert die Überfischung. Gleichzeitig wird die Bildung von Fischerei- Genossenschaften gefördert.
  • Das Erdöl-Gesetz sieht höhere Abgaben für die Erlöse aus der Ölförderung vor und schreibt bei Joint-Venture-Unternehmen eine staatliche Mehrheit vor. Mit den Mehreinnahmen sollen soziale Investitionsprogramme zur Armutsbekämpfung finanziert werden.
  • Ein neues Küstengesetz schreibt vor, dass alle Strände öffentlich sind. Private Gebäude müssen einen Abstand von achtzig Metern einhalten.
  • Im Bereich Bildung und Gesundheitsvorsorge hat die Regierung Chávez zusammen mit kubanischen Ärzten sehr viel für die ärmsten Bevölkerungsschichten geleistet. Zu den wichtigsten sozialen Reformvorhaben zählen der Plan Bolívar 2000, Programm Simoncito, Mision Robinson, Mision Ribas, Plan Sucre, Mision Barrio Adentro, Mision Mercal, Vuelvan Caracas (s. Arbeitsblatt 9).
Bekämpft wird von der Oligarchie auch das "Ley de tierras", die Agrarreform. "Ein Angriff auf das Eigentum", schimpfte der gescheiterte Putschistenpräsident und frühere Chef des Unternehmerverbandes, Fedecámaras Pedro Carmona. Ziel dieser Agrarreform ist es, die Armut auf dem Land zu bekämpfen, die Landflucht zu stoppen und vor allem die Versorgung des Landes mit Lebensmitteln sicherzustellen.

Zur Zeit werden 60 % aller in Venezuela konsumierten Nahrungsmittel importiert. Venezuelas Landwirtschaft findet im Hafen statt. Die Petrodollars machen den Import möglich. Die bolivarianische Revolution hingegen will die Petrodollars für den Aufbau einer eigenen Landwirtschaft verwenden. Dieses Projekt ist eine sinnvolle Aufgabe, zumal es verspricht, Armut und Arbeitslosigkeit zu verringern.

Das Ley de tierras sieht vor, brach liegender Boden landlosen BäuerInnen zur Verfügung gestellt wird, wenn sich die bisherigen Eigentümer weigern, ihre Flächen zu kultivieren. Und das sind große Flächen. Denn die Latifundistas bearbeiten in der Regel nur Bruchteile des ihnen gehörenden Landeigentums. Die bolivarianische Revolution strebt damit mehr soziale Gerechtigkeit im ländlichen Raum und zugleich eine höhere Agrarproduktion an.

Um das Scheitern der ersten, wenn auch nur marginalen Agrarreform der 1960er Jahre zu vermeiden, können die von der Landreform profitierenden LandarbeiterInnen das ihnen übergebene Land nicht veräußern, da sie keine Besitztitel erhalten. Damit sollen Verpfändung und Verkauf verhindert werden. In den 60er Jahren gab man nämlich den landlosen BäuerInnen ein Stück Land, aber keine Kredite und keine Geräte, um die Landwirtschaft betreiben zu können. Die NeueigentümerInnen mussten sich verschulden, d.h. Kredite bei Banken aufnehmen. Meistens konnten sie aus der Produktion diese Kredite nicht bezahlen, und sie mussten schließlich das Land selbst verkaufen, das so wieder bei den Latifundisten landete.

Dies soll diesmal vermeiden werden. Kredite sollen künftig von zu errichtenden Genossenschaftsbanken zu günstigen Konditionen vergeben werden. Die Rückzahlungsraten sollen dabei an die Produktivität gekoppelt werden.

Auch ist eine Neuordnung des Bodeneigentums in den Städten vorgesehen. Illegal besetzte Grundstücke werden den jetzigen NutzerInnen dauerhaft übertragen. Auch werden Programme für den Wohnungsbau und die Vergabe von Kleinkrediten entworfen. Zur Arbeitsplatzbeschaffung hat die Regierung auch ein ehrgeiziges Programm der Bildung von Kooperativen ins Leben gerufen. Auch diese erhalten kostengünstige Kredite.

4.2. Chávez und die Mittelschicht

"Chávez größter Irrtum war es, die Mittelklasse zu drangsalieren", sagen viele, darunter auch jene Kommentatoren, die der venezolanischen Revolution gegenüber aufgeschlossen sind, wenngleich sie nicht als "Chávista" firmieren möchten, sondern den "Proceso" unterstützten. Mit "Proceso" ist die soziale Transformation Venezuelas gemeint, die 1998 begann. Chávez' Gegner werfen ihm vor, er sei eine Gefahr für die Mittelschicht, da er den Castro-Kommunismus in Venezuela einführen wolle, das heißt: die Mittelschicht (Beamte, Unternehmer, Kleingewerbetreibende) enteignen möchte.

Bei seiner ersten Wahl im Jahr 1998 wählten allerdings auch viele Angehörige der Mittelschicht Chávez. Sie wollten damals den "Proceso" unterstützen, um die immer gravierender werdenden sozialen Probleme in Venezuela zu lösen und den wirtschaftlichen Kurs hin zu einer produktiven Verwendung des Erdölreichtums zu ändern. Inzwischen - nach vier Jahren Chávez-Regierung - steht jedoch die Mehrzahl der Mittelschichtsangehörigen gegen ihn.

Was war in dieser Zeit geschehen? 1999-2002 waren für Südamerika besonders schwierige Jahre. Argentinien und Brasilien gerieten in eine tiefe Rezession. Argentinien erklärte vor den internationalen Finanzgremien (IWF, Weltbank) die Zahlungsunfähigkeit. Die Krise spitzte sich zu, und mehrere argentinische Regierungen wurden durch Massenbewegungen, die gegen die enormen sozialen Kosten der Rezession und des Schuldendienstes protestierten, weggespült. Hunger breitete sich in diesem Land aus, das in den 1920er Jahren zu den zehn reichsten Ländern der Welt zählte.

Auch Venezuela geriet in diesen Krisenstrudel. Die Erdölpreise sackten ab, von über 30 US-$ je Barrel im Jahr 2000 auf unter 20 US-$ Ende 2001. Damit verringerten sich die Staatseinnahmen dramatisch. Hinzu kam eine furchtbare Naturkatastrophe im Dezember 1999 an der Zentralküste Venezuelas (Erdrutsche nach wochenlangen, intensiven Regenfällen), die mehreren Zehntausend Menschen das Leben kostete und Hunderttausende obdachlos machten. Die geringer werdenden Ressourcen mussten dort für den Wiederaufbau verwendet werden.

Erst 2004 erholt sich Venezuela wieder von diesen schweren Krisen und hat mittlerweile eine Wachstumsrate von 7 % zu verzeichnen. Mit der wirtschaftlichen Krise einher ging eine Abwertung des Bolívar. Über mehrere Jahre hindurch verlor er gegenüber dem US-$ an Wert. Alleine von Januar bis Juni 2002 wurde die Währung um 50 % abgewertet. Gleichzeitig galoppierte die Inflationsrate von 12 % im Jahr 2001 auf mittlerweile 35 % davon. Die offizielle Erwerbslosigkeit, die auch immer mehr Mittelschichtsangehörige betrifft, stand im August 2003 bei einer Quote von nunmehr als 17 %.

Von diesen Turbulenzen wurden die Mittelschichten stärker in Mitleidenschaft gezogen als die Armen. Unter den Wertverfall der Währung leiden insbesondere die höheren und mittleren Einkommen. Denn diese Schichten konsumieren vor allem Importprodukte aus dem Dollarraum. Eine Währungsabwertung verteuert diese Importwaren und verringert so den Lebensstandard der Mittelschicht. Die Armen sind dagegen nicht die Konsumenten von Autos, Computer und Designerbekleidung. Wochenendflüge mit Shoppinganschluss nach Miami können sie sich auch nicht leisten. Die Gehälter der Angestellten werden in einer Jahresvertragsregelung festgelegt, die in der Regel zu Anfang des Jahres vereinbart wird. Da vertraglich keine Korrekturen vorgesehen sind, bleiben die Gehälter hinter der zunehmenden Inflation zurück. Außerdem entwertet eine hohe Inflation die auf Banken hinterlegten Ersparnisse.

Die Armen können sich in dieser Situation leichter anpassen. Da sie hauptsächlich im informellen Sektor tätig sind (Kleinhandel, persönliche Dienstleistungen etc.), können sie auf die jeweilige Inflationsrate durch eine zeitnahe Anhebung der Produktpreise reagieren. Die Großfamilienstruktur und der kommunale Zusammenhalt sorgen dafür, dass man sich gegenseitig hilft. Auch hat Chávez durch den Plan Bolívar 2000 dafür gesorgt, dass im kommunalen Bereich wieder kostenlose Dienstleistungen funktionieren und in Anspruch genommen werden können. Auch hat Chávez ein Netz von Verkaufsstellen errichtet, an denen die Armen zu vergünstigten (d.h. staatlich subventionierten) Preisen Grundnahrungsmittel erwerben können.

All dies steht dem Mittelstand nicht zur Verfügung. Sie profitieren nicht von unentgeltlichen öffentlichen Diensten. Die Mittelklasse ist daran gewöhnt, private Gesundheits- und Bildungseinrichtungen in Anspruch zu nehmen, deren Preise stetig steigen. Zwar hat Chávez Maßnahmen erlassen, die das Ansteigen der Preise für den Schulunterricht verlangsamt. Das kann aber in keiner Weise all jene Verluste wettmachen, die die Mittelschicht aufgrund der Wirtschaftskrise der Jahre 1999-2003 erlitt.

"Doch ist die Rezession nicht der einzige Grund für die Rebellion des Mittelstandes gegen Chávez" schreibt Gregory Wilpert in der Wochenzeitung Freitag. "Die Regierungspolitik selbst, wie etwa die neue Verfassung oder die weit reichenden Programme für Bildung, Gesundheit und Landreform, haben den bisher sozial marginalisierten weit mehr gebracht als den Mittelschichten. Mit diesen Reformen können die Armen erstmals in der Geschichte Venezuelas überhaupt eine medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen, auch wenn deren Qualität vielfach noch unzureichend ist. Ähnlich stellt sich die Situation in der Bildung dar. Es wurden seit 1998 Tausende so genannter bolivarianischer Schulen eingerichtet, deren Eleven mit drei Mahlzeiten pro Tag versorgt werden - zu Hause für die meisten undenkbar. Dank dieses Wandels gehen inzwischen etwa eine Million Kinder mehr zur Schule als im Jahr 1998."

Folgendes Fazit kann gezogen werden: Die bolivarianische Politik wendet sich nicht direkt gegen die Mittelschichten. Die Mittelschichten sind Opfer der allgemeinen Krise, die ganz Lateinamerika erfasste. Dennoch hat Chávez womöglich dieses Problem unterschätzt.

Chávez' Politik des sozialen Umbruchs ist für die venezolanische und lateinamerikanische Wirklichkeit durchaus "revolutionär", auch dann, wenn diese keineswegs "mit dem Kapitalismus bricht". Chávez muss aber einiges tun, um den Irritationen und der Beunruhigung der Mittelschichten entgegenzuwirken. Denn ohne Beteiligung der Mittelschichten, die gleichzeitig die gut gebildete Bevölkerung repräsentieren, lässt sich keine komplexe, arbeitsteilige Gesellschaft aufbauen und umgestalten. Chávez muss einiges tun, um die Mittelschichten zurückzugewinnen und sie von den reaktionären Kräften der traditionellen Oligarchen- Parteien zu lösen.

4.3. Außenpolitisch noch kleine Schritte

Simón Bolívar hatte einst von einem geeinten Südamerika geträumt, das Kleinstaaterei überwinden und mit einer Sprache den Mächtigen entgegen treten könne. Chávez selbst tritt für eine "regionale Integration" ein. Mit ihm ist Venezuela dem Mercosur beigetreten, dem gemeinsamen Markt des Südens, in dem sich 1991 Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay zusammengeschlossen haben.

Zeitweilig schien der Mercosur am Ende zu sein. Aber unter dem linken Präsidenten Lula in Brasilien und den fortschrittlichen Präsidenten Argentiniens Kirchner hat dieses Bündnis neuen Schwung bekommen. Brasilien schloss bilaterale Abkommen mit den Staaten des Andenpaktes, zu dem Venezuela gehört. Eine neue Straße, die Venezuelas Hauptstadt Caracas mit der Amazonas-Metropole Manaus in Brasilien verbindet, wurde vor kurzem eingeweiht. Die brasilianische Firma Odebrecht baut in Venezuela die Metro aus und errichtet eine Brücke über den Orinoco.

Für Brasilia ist diese Verbindung von strategischem Interesse. Die achtgrößte Industrienation der Welt hat eine "Archillesferse", sagt Fernando Portela, Beauftragter der brasilianisch-venezolanischen Handelskammer. Brasilien ist auf Energieimport angewiesen, die Stromkürzungen der vergangenen Jahre haben arg am Bruttosozialprodukt gerüttelt. Und Venezuela exportiert Energie. Aus der venezolanischen Amazonasstadt Ciudad Guyana wird elektrischer Strom aus dem Kraftwerk am Guri-Fluss in den brasilianischen Bundesstaat Roraima geleitet, und 1.800 neue Tankstellen "Made in Caracas" sollen den Norden Brasiliens mit venezolanischem Öl beliefern. Die USA sehen das gar nicht gerne, sie betrachten das schwarze Gold Venezuelas als "ihren" Besitz, und Brasilien als Konkurrenten.

Noch werden alle Abkommen auf Dollarbasis abgerechnet. Und daran mangelt es dem hochverschuldeten Amazonasstaat. Er verfügt aber über eine effiziente industrielle Infrastruktur und hat deshalb Kompensationsgeschäfte vorgeschlagen. Als das Barrel Öl auf 39 Dollar geklettert war, fragte Brasilia in Caracas nach, ob man den Rohstoff nicht mit Dienstleistungen oder Waren bezahlen könne.

Als Beispiel könnte hier das Geschäft Brasiliens mit Libyen stehen. Dort baute Brasilien moderne Fabriken in die Wüste. Chávez selbst hat so eine Art Abkommen mit Kuba geschlossen. Er liefert den Kubanern Erdöl, das mit "medizinischen Dienstleistungen" zurückgezahlt wird.

Auch auf politischer Ebene hat Chávez der Demokratie neue Impulse verliehen. Gleich der Arbeiterpartei (PT) in Brasilien und dem Frente Amplio in Uruguay setzt Chávez auf Basisdemokratie und Dezentralisierung. An vielen Orten in Venezuela wird die partizipative Demokratie geübt.

4.4. Gefahr einer internationalen Intervention

Nachdem die Kräfte der Oligarchie einen deutlichen Rückschlag nach der Niederlage im April 2002 einstecken mussten, ist von deren Seite ein Strategiewechsel vernehmbar. Sie sind offensichtlich zu der Auffassung gekommen, dass man Chávez aus dem Inneren heraus vorerst nicht stürzen kann. Deshalb setzen die rechte Kräfte Venezuelas auf eine Intervention von außen. Ziel hierbei ist, eine internationale Intervention auf der Basis der UNO oder der Organisation amerikanischer Staaten zu erreichen.

Das Beispiel Haiti steht hierfür Pate. Auch wenn die Ausgangssituation eine andere ist - Aristide und seine politischen Parteigänger sind nur schwer als fortschrittliche Kräfte zu bezeichnen - so gibt es dennoch die Gemeinsamkeit, dass eine politische Opposition solange inneres Chaos verursacht hat, bis die Situation für eine äußere Intervention reif wurde. Genau das scheint der Fahrplan zu sein, den die venezolanische Opposition in Übereinstimmung mit den USA in Venezuela verfolgt. Zu wichtig ist den USA das venezolanische Öl, als dass es dieses den VenezolanerInnen selbst überließe.

Hierbei spielen auch geopolitische Fragen eine Rolle. Für den Führungsanspruch der USA ist das Zustandekommen der großen amerikanischen Freihandelszone von lebenswichtiger Bedeutung. Das USKapital benötigt eine Dominanz über die lateinamerikanischen Märkte, da es in diese zollfrei exportieren und dort kostengünstige Industrieproduktionen errichten kann. Viele Länder Lateinamerikas, die eine eigene Industriebasis haben, fingen an, sich dagegen zu wehren. Die Führungsnation Südamerikas, Brasilien, organisiert diese Opposition. Brasilien wird künftig mehr Erdöl als bisher importieren müssen. Davon hängt im hohen Maß die künftige Industrieentwicklung Brasiliens ab. Eine Kontrolle über das venezolanische Öl bedeutet für die USA auch, über ein Druckmittel gegenüber Brasilien zu verfügen. Deshalb ist kaum damit zu rechnen, dass die USA ihre Pläne zum Sturz von Chávez aufgeben.

Ziel der venezolanischen Rechtsopposition ist es, einen Zustand der Unregierbarkeit des Landes herzustellen. Ein Zustand, bei dem staatliche Institutionen zusammenbrechen, Polizei und Armee sich auflösen und auf den verschiedenen Bürgerkriegsseiten Partei ergreifen. In einem Klima des Bürgerkrieges kämen dann die lauten Stimmen, die nach einer Intervention schreien. Ein internationales Truppenkontingent soll dann schließlich sicherstellen, dass ein "Nation Building" möglich wird. So sehen moderne imperialistische Interventionen aus, wenn sie nicht das Argument möglicher Massenvernichtungswaffen im Besitz von Schurken Staaten oder der Verhinderung von ethnischen Säuberungen zur Hand haben.

* Der Aufsatz ist entnommen aus der Zeitschrift "Materialien zu Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt im Unterricht (MGWU)", Heft 1/04.
Auf die Wiedergabe einiger Grafiken mussten wir aus technischen Gründen verzicheten.
In dem Heft finden sich weitere Informationen sowie Materialien für den Unterricht (Arbeitsblätter, Folienvorlagen). Verweise im Text auf Abbildungen und Arbeitsblätter beziehen sich auf dieses Heft.
Siehe: www.kritische-geographie.at/publ_mgwu04.htm.



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