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Auf gutem Weg

Tausende neu ausgebildete Mediziner stärken das kostenlose Gesundheitssystem Venezuelas. Opposition leistet Widerstand

Von Tine Steininger und Tim Graumann, Caracas *

In Venezuela werden derzeit die ersten 8200 Absolventen des reformierten Studiengangs »Kommunitäre integrale Medizin« (MIC) in das öffentliche Gesundheitssystem des süd­amerikanischen Landes eingegliedert. Neben den staatlichen Krankenhäusern bekommt durch sie vor allem das kubanisch-venezolanische Programm »Barrio Adentro« Verstärkung, das eine weitgehend flächendeckende medizinische Grundversorgung in den Armenvierteln sicherstellt. Die MIC-Ausbildung bricht mit dem traditionellen Lehrkanon der ärztlichen Fakultäten in Venezuela. Sie legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Praxisorientierung und die soziale Verantwortung des Arztberufs. So sollen die Ärzte in die Gemeinden sozial integriert werden, um zusammen mit der Bevölkerung deren Gesundheitsversorgung zu optimieren.

Die rechtliche Anerkennung der nach dem neuen Programm ausgebildeten Mediziner war lange unsicher, denn erst am 17. November verabschiedete die Nationalversammlung gegen den Widerstand der Opposition und der konservativen Berufsverbände eine von Studierenden eingebrachte Änderung der Einstellungsordnung. Dadurch wurde die gesetzliche Verpflichtung, einem Ärzteverband beizutreten, abgeschafft. Eine solche Mitgliedschaft war bis dahin Voraussetzung für die Ausübung des Berufs. Zuvor hatten mehrere oppositionelle Ärzteverbände angekündigt, keine MIC-Absolventen aufzunehmen. Dagegen hatten die Studierenden mit Demonstrationen protestiert.

Was ein Streit um rechtliche Formalien zu sein scheint, war in Wirklichkeit ideologisch hart umkämpft. Die Opposition hatte seit Monaten mit einer von den privaten Medien unterstützten Kampagne versucht, die Gesetzesreform zu verhindern. Unter anderem deswegen hatte die Ärztevereinigung FMV von Juni bis September flächendeckend alle öffentlichen Krankenhäuser bestreikt. Auch gegen »Barrio Adentro« gibt es von seiten der rechten Regierungsgegner regelmäßig Angriffe und Diffamierungsversuche, da das System kostenloser Gesundheitsversorgung dem lukrativen privaten Medizinsektor Patienten entzieht. So schürt die Opposition beispielsweise regelmäßig ausländerfeindliche Ressentiments gegen die Unterstützung durch kubanische Ärzte und stellt deren medizinische Fähigkeiten in Frage. Ein Sprecher der FMV erklärte etwa: »Wir wissen nicht, was diese Leute in Venezuela machen. Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß sie Kubaner sind.«

Die Ausbildung von eigenen Ärzten ist für den politischen Transformationsprozeß in Venezuela enorm wichtig. Durch das zentrale Gesundheitsprogramm der Regierung, die Mission »Barrio Adentro«, soll eine kostenlose Basisversorgung für alle sichergestellt werden. Dies ist bisher nur durch die Unterstützung von mehr als 30000 kubanischen Ärzten möglich, die seit 2003 in Venezuela arbeiten und für etwa 73 Prozent der Bevölkerung Anlaufstelle bei Erkrankungen und für vorbeugende Maßnahmen, zum Beispiel Untersuchungen während der Schwangerschaft sind. Durch die Absolventen der MIC sollen die Kubaner nun nach und nach abgelöst und die Arbeit in den »Barrios«, den Armenvierteln, durch venezolanische Ärzte übernommen werden. Dabei setzt das Regierungsprogramm stark auf die Beteiligung der Gemeinden, die in Gesundheitskomitees mit den Medizinern zusammenarbeiten.

Seit Beginn des Programms im April 2003 wurden bereits über sechstausend »Module« genannte Allgemeinpraxen, 574 Rehakliniken, mehr als 500 »Integrale Diagnosezentren« (CDI) genannte Polikliniken sowie 35 Krankenhäuser in Barrios und entlegenen Gebieten auf dem Land eingerichtet. Dadurch konnten in Venezuela bereits große Fortschritte erzielt werden. So ist die Säuglingssterblichkeit von 25,8 auf 13,9 pro tausend Lebendgeburten zurückgegangen, die Impfrate konnte auf über 85 Prozent gesteigert werden.

* Aus: junge Welt, 29. Dezember 2011

Lexikalisches: Barrio Adentro

Das Programm »Barrio Adentro« – zu deutsch etwa: Hinein ins Viertel – startete 2003. Die Regierung Venezuelas will mit ihm erreichen, daß vor allem in den Armenvierteln der Städte, den Barrios, aber auch für die Armen auf dem Land, eine medizinische Grundversorgung gewährleistet wird. Nach Angaben eines deutschen Mediziners waren vor diesem Zeitpunkt 60 Prozent der Bevölkerung des Landes von medizinischer Erstversorgung ausgeschlossen. Als das Programm im Dezember 2003 offiziell per Dekret verabschiedet wurde, meldeten sich nur 50 einheimische Ärzte zur Teilnahme. Bereits im März des Jahres waren aber die ersten kubanischen Mediziner ins Land gekommen. Sie hatten im Durchschnitt zehn Jahre Praxis aufzuweisen und betraten im Gegensatz zu ihren wohlhabenderen Kollegen aus Venezuela, die Entführungen und Lösegelderspressungen fürchteten, die von Kriminellen beherrschten Stadtviertel. 2009 waren laut Prensa Latina 1584 venezolanische Ärzte neben 12581 kubanischen in das Vorhaben eingebunden. Kuba liefert auch die Medizintechnik für das Programm und wird im Gegenzug u. a. mit Erdöl beliefert. Die Regierung in Caracas finanziert das Projekt, seine Verwirklichung hängt aber von der Unterstützung vor Ort ab, d. h. von lokalen Behörden und Freiwilligen. Sie planen den Einsatz der Ärzte und propagieren das Angebot in der Bevölkerung. Insgesamt wurden 4500 Zentren zur unentgeltlichen Erstversorgung eröffnet. Sie vermitteln kompliziertere Fälle an die neuen Volkskliniken, noch aufwendigere Fälle zur Behandlung an die Polikliniken. Auch die Nachbehandlung übernehmen wieder die Gesundheitsstationen in den Armenvierteln. Das Programm wird von der Opposition in Venezuela wütend und mit allen Propagandamitteln bekämpft. (jW)



"Wir verteidigen das Recht auf Gesundheit"

Venezolanische Gemeinden engagieren sich für medizinische Prävention. Ein Gespräch mit Noris Correa **

Noris Correa ist aktiv im Gesundheitsobservatorium des Bundesstaates Vargas, einem Zusammenschluß von 14 Gesundheitskomitees.


Sie sind Mitglied eines Gesundheitskomitees. Was genau zeichnet es aus und welche Funktion hat es?

Ein Gesundheitskomitee besteht aus uns, den einfachen Leuten aus der organisierten Gemeinde. Von der Basis aus verteidigen wir unser Recht auf Gesundheit. Wir teilen uns die Verantwortung mit den Institutionen und sorgen dafür, daß die Vorsorge auch tatsächlich funktioniert.

Was bedeutet eine solche Arbeit denn konkret?

Durch die Komitees beginnen sich die Menschen in der Frage der Gesundheitsversorgung zu organisieren und ihre soziale Realität zu verändern. Wir unterstützen beispielsweise die Ärzte mit Hausbesuchen, dem Sammeln von Informationen und dem Erfassen von Patienten mit einem bestimmten Krankheitsbild. Darauf aufbauend können wir dann gezielt Programme zur Betreuung der Betroffenen durchführen. Bei uns in der Gemeinde gibt es zum Beispiel viele Diabetiker. Also haben wir Kurse in gesunder Ernährung und einen für Seniorensport gestartet. Das zentrale Ziel muß die Prävention sein.

Außerdem verbessern wir die Sexualaufklärung in unseren Vierteln. Venezuela ist eines der Länder Lateinamerikas mit der höchsten Rate von Jugendschwangerschaften. Wir haben deshalb zusammen mit einem Institut für Frauenstudien und den lokalen Kirchen ein Programm begonnen, zu dem Aufklärungsveranstaltungen, Ausgabestellen für Verhütungsmittel und Beratungen gehören. Seitdem beobachten wir bei uns im Viertel deutlich weniger ungeplante Schwangerschaften bei Jugendlichen und Kindern.

Die Opposition kritisiert immer wieder das Gesundheitssystem. Wie reagieren die Basisbewegungen darauf?

Seit 2007 haben wir mehr und mehr gemerkt, daß die Opposition in diesem Punkt recht hat, nämlich daß das Gesundheitssystem nach wie vor in einem schlechten Zustand ist. Allerdings natürlich in einem anderen Sinn, als sie es kritisiert. Es gibt eine massive Diskriminierung ärmerer Menschen in privaten ärztlichen Einrichtungen, aber auch Schwächen beim für alle zugänglichen Angebot. Darum haben wir uns entschlossen, als Basis selbst die Versorgung zu überwachen und haben das Gesundheitsobservatorium Vargas als Zusammenschluß von 14 Gesundheitskomitees gegründet. Wir wollen die Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten Behandlungen, die Gleichberechtigung von Patienten und die Erfüllung des Rechts auf medizinische Versorgung kontrollieren. Die Arbeit im Observatorium ermöglicht es uns, alle zwei Jahre einen Bericht über den Zustand in unserer Region, also in der Hauptstadt Caracas und den Bundesstaaten Vargas und Miranda, zu verfassen. Darauf aufbauend sprechen wir Empfehlungen an das zuständige Ministerium aus und unterstützen die Leute in unseren Regionen, wenn sie Aktionen durchführen, um eine Besserung der Lebensqualität einzufordern.

Welches sind Ihrer Einschätzung nach Schwächen der öffentlichen medizinischen Versorung, und was können Basisorganisationen dagegen ausrichten?

Es gibt einen Mangel an Geburtskliniken und Fachärzten, besonders im Landesinnern. Bei den Befragungen für unseren letzten Bericht haben wir in einer ländlichen Gegend zum Beispiel eine Frauenklinik gesehen, die bereits seit zehn Jahren im Bau und noch immer nicht fertiggestellt ist. Dies müssen wir als Gesundheitsobservatorium öffentlich kritisieren und drängen nun auf eine Erklärung des Ministeriums. Denn ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit ist die gesellschaftliche Kontrolle, die neben Judikative, Legislative, Exekutive und Wahlrat als fünfte Macht in unserer Verfassung festgeschrieben ist und ein Korrektiv der Politik von unten darstellt.

Die Veränderungen im Gesundheitssystem sind ja Teil der tiefgreifenden sozialen Umwälzungen in Venezuela auf dem Weg zum »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Welche Bedeutung hat Ihre Tätigkeit?

Wir führen vor allem Schulungen zu Themen durch und über Gesundheit als Menschenrecht. Dabei haben wir sehr interessante Erfahrungen gemacht. Viele Menschen, die heilkundlich arbeiten, sehen Gesundheit als Ware an. Besonders beeindruckt hat es uns, daß einige Leiter von privaten Kliniken zu unseren Workshops gekommen sind und mit uns darüber diskutiert haben. Später haben sie uns geschrieben, daß sie danach Notfälle in einigen Fällen ohne Bezahlung behandelt haben. Das ist immerhin etwas.

Interview: Tine Steininger / Tim Graumann

** Aus: junge Welt, 29. Dezember 2011


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