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Die Verfassungsänderung in Venezuela - ein demokratischer Rückschritt?

Eine Kontroverse zwischen Dario Azzellini und Patricia Graf

Die Verfassungsänderung in Venezuela - ein demokratischer Rückschritt? Im Folgenden dokumentieren wir zwei Beiträge, die sich kontrovers mit dem Referendum über die Veränderung der vezolanischen Verfassung befassen.
Es debattieren:
Dario Azzellini, Jahrgang 1967, Politikwissenschaftler, Autor diverse Bücher und Dokumentarfilmer mit Beiträgen über Venezuela und
Patricia Graf, Jahrgang 1978, seit Oktober 2005 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen im Bereich Lateinamerika und Entwicklungstheorie.
Die Beiträge erschienen im "Neuen Deutschland" unter der Freitagsrubrik "Debatte".



Auf dem Weg zur Räterepublik

Von Dario Azzellini *

In Venezuela entschied am 15. Februar die Bevölkerung in einer Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung, die es allen Kandidaten erlaubt, für gewählte Ämter beliebig oft zu kandidieren. Damit gilt in Venezuela nun die gleiche Regelung wie etwa in der Präsidialrepublik Frankreich, wo der Präsident ebenfalls -- so oft er will und aufgestellt wird -- erneut für das Amt des Präsidenten kandidieren darf. Gewählt werden muss er selbstverständlich auch, das ist in Venezuela nicht anders als in anderen Ländern. Diese Klärung ist notwendig angesichts der Lügen, die auch von deutschen Medien massiv verbreitet wurden: »Chavez forever« (tagesschau), »Hugo Chavez strebt ewige Präsidentschaft an« (»Welt«), »Referendum über unbegrenzte Amtszeit« (»Focus«) und »Unbegrenzte Wiederwahl für Chávez?« (»Zeit«) sind nur einige Spitzen der medialen Märchenwelt.

In den meisten anderen Ländern dieser Welt werden Verfassungen und wesentlich gravierendere Verfassungsänderungen in Parlamenten entschieden. In Venezuela wurde die Verfassung von einer gewählten Versammlung mit Partizipation der Bevölkerung 1999 entworfen und in einem Referendum ratifiziert. Die venezolanische Verfassung in ihrer Genese ist wesentlich demokratischer als die Verfassungen aller Länder, aus denen Venezuela kritisiert wird. Es ist nur konsequent demokratisch, wenn die Bevölkerung aufgerufen wird, in einer Volksabstimmung eine vorgeschlagene Verfassungsänderung zu bestätigen oder abzulehnen.

Die Verfassung der Französischen Republik von 1793 legte in Artikel 28 fest: »Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbessern und zu ändern. Eine Generation kann ihren Gesetzen nicht die künftigen Generationen unterwerfen.« Eine zutiefst demokratische Logik, die allerdings in der Folgezeit nicht nur in Frankreich der Angst der Regierenden vor der eigenen Bevölkerung weichen musste. In Venezuela herrscht diese Angst nicht. 15 Wahlprozesse hat es seit der ersten Wahl von Chávez zum Präsidenten gegeben. 14 wurden von der Regierung Chávez gewonnen. Ein Paket mit 69 Verfassungsänderungen war 2007 von einer knappen Mehrheit abgelehnt worden. Die aktuelle Verfassungsänderung wurde mit einer deutlichen Mehrheit von 54,85 Prozent gegen 45,14 Prozent angenommen. Die Wahlbeteiligung betrug 70,32 Prozent - mehr als bei den meisten Wahlen in Deutschland.

Warum die ganze Aufregung? Es ging um Präsident Hugo Chávez. Es war die Angst der Opposition im Land und international einem Kandidaten Chávez für das Präsidentenamt auch im Jahr 2012 keinen eigenen Kandidaten mit Aussicht auf Erfolg entgegensetzen zu können. Daher die enorme Propagandaflut national wie international. Das Ja zur Möglichkeit der erneute Kandidatur gewann trotzdem - obwohl es in Venezuela mittlerweile offen um den Aufbau eines sozialistischen Systems geht.

Trotz alledem wird hier auch eine zentrale Schwäche des revolutionären Prozesses in Venezuela deutlich: Nach zehn Jahren ist es immer noch nicht gelungen, eine kollektive politische Leitung aufzubauen. Und es gibt immer noch niemanden, der die Integrität, die Glaubwürdigkeit und das politische Format von Chávez besitzt. Das ist aber ein politisches Problem und sicher kein demokratisches Manko. Zumal historisch auch in formalen Demokratien häufig zu beobachten war, dass in entscheidenden politischen Phasen Staatsoberhäupter mehrere Amtszeiten regierten.

Die Bevölkerung Venezuelas weiß sehr genau, warum sie so gestimmt hat. Gemäß des chilenischen Forschungsinstituts Latinobarometro, das jedes Jahr über 10 000 Menschen in Lateinamerika befragt, ist Venezuela seit der Regierung Chávez stets unter den ersten zwei Plätzen bezüglich der demokratischen Wertschätzung der Bevölkerung und deren Zufriedenheit mit der eigenen Demokratie. Politische Partizipation ist in Venezuela zentral. So z. B. in den neuen Kommunalen Räten, eine Form der Selbstorganisierung auf kleinster lokaler Ebene. Diese »Kiezräte« funktionieren wie Räte, gewählt werden nur Sprecher und Sprecherinnen, entschieden wird in der Nachbarschaftsversammlung. Die Kommunalen Räte können nicht nur »mitbestimmen«, sondern sie entscheiden über ihren Kiez. Und was sie entscheiden ist für die Institutionen bindend. Langsam wird das Rätesystem um weitere darüber stehende Ebenen ergänzt. Langfristiges Ziel ist es, den bürgerlichen Staat durch einen »kommunalen Staat« zu ersetzen - eine Art Räterepublik.

Demokratie ist mehr als die liberaldemokratische Kümmerform, die uns im Rest der Welt als Demokratie verkauft wird. Demokratie ist auch, Bedingungen für die demokratische Partizipation der Menschen zu schaffen. Das bedeutet z. B. die Armut zu senken und die Bildung zu stärken. Während im »demokratischen« Europa Millionen in die Armut gedrängt wurden, ist die Armutsrate in Venezuela, das hat die lateinamerikanische UNO-Kommission CEPAL bestätigt, zwischen 2002 und 2007 von 51 Prozent auf 28 Prozent gesenkt worden und die darin enthaltene extreme Armut von 25 Prozent auf 8,5 Prozent. Während in Deutschland Hunderttausende ohne Krankenversicherung sind oder nicht zum Arzt gehen, weil sie sich die Zuzahlungen nicht leisten können, wird in Venezuela seit 2003 ein flächendeckendes kostenfreies Gesundheitssystem aufgebaut. Während das Bafög in Deutschland als Darlehen ausgezahlt wird, sind in Venezuela die Studienplätze fast verdoppelt worden und etwa jeder dritte Studierende bekommt ein Stipendium. Während uns vorgegaukelt wird, kommerzielle Medien, also profitorientierte Unternehmen, hätten etwas mit Pressefreiheit, Kommunikation und Information zu tun, sind in Venezuela mit staatlicher Unterstützung etwa 400 Basisradios und ein Dutzend lokale Stadt- oder Stadtteilfernsehsender entstanden.

In Venezuela und auch in anderen Ländern Lateinamerikas sind große Bewegungen entstanden, um neue Demokratien zu entwickeln. Warum sollten sie sich dabei an Vorbildern orientieren, die längst ihr undemokratisches Wesen gezeigt haben? Es ist vielmehr an uns endlich zu erkennen, dass unsere Scheindemokratien - wo die meisten Entscheidungen von nicht-gewählten supranationalen Instanzen getroffen werden, die europäische Verfassung nicht einmal vollständig von den Bürgern eingesehen werden konnte, geschweige denn zur Wahl stand und der Profit mehr zählt als der Mensch - mit Demokratie im eigentlichen Sinne kaum etwas zu tun haben.

* Dario Azzellini, 1967 geboren, ist Politikwissenschaftler, Autor und Dokumentarfilmer. Er hat über Venezuela diverse Bücher, Filme und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Im April erscheint die »International Encyclopedia of Revolution and Protest. 1500 to the Present«, für die der in Berlin und Caracas lebende Azzellini als Herausgeber u. a. für Lateinamerika und die spanischsprachige Karibik zuständig ist.


Hugo Chávez, der ewige Comandante

Von Patricia Graf **

»Que se vayan todos!« - »Haut bloß alle ab!« -- Dies schallte in den vergangenen Jahren dem Großteil der lateinamerikanischen Staatspräsidenten von der enttäuschten Bevölkerung entgegen. Ein jubelndes »Hugo Chávez no se va!« - »Hugo Chávez geht nicht!« - begrüßte dagegen den venezolanischen Staatspräsidenten als dieser siegreich aus einem Referendum über die unbegrenzte Wählbarkeit hervorging. Damit hat Hugo Chávez einmal mehr gezeigt, dass er trotz Weltwirtschaftskrise und gesunkener Ölpreise fest im Sattel der Bolivarischen Republik Venezuelas sitzt. Und für ihn ist der Weg für eine Präsidentschaftskandidatur 2012 geöffnet - ob er dann wiedergewählt wird, steht auf einem anderen Blatt. Der Weg zum »ewigen Präsidenten«, dies der neueste Kosename für Hugo Chávez, ist also keineswegs gewiss. Auch sieht die Venezolanische Verfassung die Möglichkeit eines Abwahlreferendums vor, d. h. nach der Hälfte der Amtszeit können Amtsträger per Volksentscheid von ihrem Amt entfernt werden

Fest steht, dass das Referendum einmal mehr Hugo Chávez Popularität zumindest bei der Hälfte der venezolanischen Bevölkerung zeigt. Diese hohe Popularität ist vor allem Chávez' sozialer Bilanz geschuldet. Als er 1998 die Regierung übernahm, herrschte in Venezuela eine soziale Krise, die vor allem den neoliberalen Reformen unter Carlos Andrés Pérez sowie der Misswirtschaft der damals amtierenden Parteien geschuldet war. Hugo Chávez nahm sich dieser sozialen Krise an, er schuf zusätzliche Schulen und Universitäten und sorgte für eine Grundversorgung im Bereich Ernährung und Gesundheit. So schaffte er es, die Armut signifikant zu reduzieren.

Ist es Neid, Missgunst oder Angst, die vor allem westliche Regierungen, aber durchaus auch Chávez' lateinamerikanische Amtskollegen dazu treibt, den venezolanischen Präsidenten weniger als leuchtendes Vorbild zu sehen, sondern als machthungrigen Diktator? Weshalb wird das gewonnene Referendum als letzte genommene Hürde zur ewigen Machtergreifung gesehen?

Hierzu ist zunächst anzumerken, dass die Wiederwahlklausel in Lateinamerika politisch vorbelastet ist. Während in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern die unbeschränkte Wiederwahlmöglichkeit eine Selbstverständlichkeit ist, tut man sich in Lateinamerika schwer mit dieser Regelung. Die historische Erfahrung mit Caudillos wie Alberto Fujimori in Peru und Carlos Saul Menem in Argentinien - starken politischen Führern, die das Volk umgarnten und ihre Amt missbrauchten - ist der Hauptgrund für diese Angst. Des weiteren sind die lateinamerikanischen politischen Systeme zum größten Teil präsidentiell, anders als das parlamentarische System Deutschlands. In diesen Systemen genießt der Präsident, u. a. durch seine direkte Wahl durch das Volk, eine hohe Machtfülle. Ausgestattet mit einer uneingeschränkten Wiederwahlmöglichkeit könnte der Präsident Amtsmittel benutzen, um seine Position zu stärken. Ein Machtwechsel wäre dadurch schwer möglich.

Diese Warnung sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Jedoch gibt es in Bezug auf die Wiederwahlklausel mindestens genau so viele Gründe für deren Abschaffung wie für deren Beibehaltung. So machen begrenzte Amtszeiten längerfristige Politik fast unmöglich. Politiker sind dann eher an Karrierechancen interessiert als an politischen Inhalten. Als Beispiel kann Mexiko unter der Herrschaft der Partido Revolucionario Institucional gelten.

Will man sich mit der Bedeutung des Referendums, auch für die Zukunft Venezuelas, auseinandersetzen, so gilt es, das Referendum in eine Reihe von institutionellen Reformen zu stellen, die unter Chávez stattgefunden haben. Zwar wurden in die Verfassung zahlreiche Möglichkeiten der Partizipation eingearbeitet. Diese sind von hoher Bedeutung, nicht nur, weil sie den Bürgern Mitbestimmungsrechte geben, sondern auch, weil sie die Institution der Wahlen aufgewertet haben. Im gleichen Zuge wurden aber wichtige Elemente der Gewaltenteilung und der Repräsentation abgeschafft, etwa die Abschaffung der zweiten Parlamentskammer, die Schwächung des Föderalismus, die Abschaffung der Präsidentenanklage und die Aushebelung der Gewaltenteilung durch die Reform des obersten Gerichtshofs im Mai 2005. Dies wird noch verstärkt durch eine schwache Opposition, die keine politischen Alternativen aufzeigt und nicht im Parlament vertreten ist, weil sie sich weigerte, sich zu den Parlamentswahlen aufstellen zu lassen.

Dies führt zum nächsten Grund, warum gewonnene wie verlorene Referenden in Venezuela bei nüchterner Betrachtung nicht unbedingt zum Jubeln einladen. Denn Volksentscheidungen können vom Präsidenten einfach umgangen werden, indem er sich vom Parlament, das nun ausschließlich aus seinen Unterstützern besteht, mit umfangreichen Dekretrechten ausstatten lässt. So geschehen beim verlorenen Referendum über die Verfassungsreform im Dezember 2007. Dieses Referendum sah die Abschaffung der Autonomie der Notenbank, die Verlängerung der Amtszeit, die Abschaffung des Wiederwahlverbots und die Einführung kooperativer Eigentumsformen vor. Da aber Chávez vom Parlament für 18 Monate Sondervollmachten erhielt, konnte er politische Maßnahmen wie die derzeit durchgeführten Verstaatlichungen auch trotz des verlorenen Referendums durchführen.

Hier kommt die ganze Ambivalenz der partizipativen Demokratie Venezuelas zum Ausdruck. Zum einen werden durch sie die Bürger in nicht gekannter Weise politisiert und stimuliert. Zum anderen gibt sie Hugo Chávez auch die Möglichkeit, sich die Verfassung - der eigentliche Garant einer stabilen Ordnung, welche nicht monatlich geändert werden sollte - á la Silvio Berlusconi auf den eigenen Leib zu schneidern.

»Ich bin gekommen um zu bleiben und keine Macht, keine Mediale Kampagne oder irgendetwas anderes kann mich aus Eurer Seele reißen, weil es wahr ist, dass ich nun nicht mehr mir selbst gehöre, sondern Euch, und Euch will ich den Rest meines Lebens widmen«. Mit diesen Worten wandte sich Hugo Chávez 2002 in einer Rede an das venezolanische Volk. Diese Worte könnten eine Verheißung einer verantwortlichen Politik für den Menschen sein - oder die Drohung eines ewigen Diktators.

** Patricia Graf, Jahrgang 1978, ist seit Oktober 2005 als Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen im Bereich Lateinamerika und Entwicklungstheorie tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Innovationspolitik, Regionalpolitik in Lateinamerika sowie Transformationsforschung. Seit 2006 arbeitet Patricia Graf an einer Promotion zu Aushandlungs- und Koordinationsprozessen in Mexiko.

Beide Beiträge auf dieser Seite aus: Neues Deutschland, 27. Februar 2009


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