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Charisma, Mission und Erdöldiplomatie

Venezuelas Präsident fordert die USA mit einer regionalen Ölgesellschaft der Karibik heraus

Von Ellen Spielmann*

Dass sich Hugo Chávez inzwischen eine Führungsrolle in Lateinamerika verschafft hat, ist unumstritten. Alle Versuche, seine Reputation mit dem Schlagwort "Populismus" zu erklären, greifen zu kurz. Es scheint viel mehr eine Mischung aus Charisma, Mission und Erdöldiplomatie, die hier zum Tragen kommt.

Etliche Staaten des Subkontinents durchleben im Augenblick bis ins Mark erschütternde Krisen, bei denen es nicht nur um Personalrochaden an der Spitze von Regierungen geht: Bolivien droht eine nationale Spaltung, Ekuador steckt auch nach dem Rauswurf des Präsidenten Lucio Gutiérrez weiter in einer Staatskrise; in Mexiko-City zog Bürgermeister López Obrador nach Massenprotesten zwar wieder ins Rathaus ein, aber schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2006 zeichnen sich schwere Konflikte ab. In Brasilien deutet im Schatten des Korruptionsskandals um Lulas Ex-Kabinettschef Dirceu erneut alles auf einen erheblichen Autoritätsverlust des Staatschefs hin, der irreparabel sein dürfte.

Dagegen kann Hugo Chávez seine exponierte Position behaupten und ausbauen: Er ist der einzige lateinamerikanische Politiker, der es nach dem Triumph der kubanischen Revolution geschafft hat, eine derartige Aufmerksamkeit zu wecken. Selbst Brasiliens Lula da Silva bleibt da ein mehr regional-nationales Phänomen. Auch Subcomandante Marcos und die von ihm geführte zapatistische Bewegung in Südmexiko können sich nicht an der Ausstrahlung des Venezolaners messen. Chávez kann es heute vom Charisma her mit Fidel Castro aufnehmen, der mit seinen 78 Jahren von der eigenen Legende zehrt.

Dieses Phänomen kann damit erklärt werden, dass es Chávez verstanden hat, eine neue und vor allem funktionierende Ideologie zu verbreiten: Mit seiner Bolivarianischen Alternative der Amerikas (ALBA) ist es ihm gelungen, die historische Mission Simón Bolívars - den Kontinent zu vereinen, zu befreien sowie Gleichheit und Wohlstand zu verankern - auf derzeitige Herausforderungen zu übertragen. Dieser Mechanismus, eine historische Mission als politischen Auftrag zu begreifen, lässt sich nicht nur in Venezuela, sondern auch in Bolivien sehr eindrucksvoll mit dem indianischen Widerstand des Movimiento Indígena Pachakuti beobachten. Es ist das Credo dieser vom geschichtlichen Vermächtnis des Subkontinents gehärteten Strömung, die traditionellen Parteien der alten Eliten zu bekämpfen, weil sie verschlissen oder zusammengebrochen sind. Es gehört zur Logik dieses Aufbruchs, auch die Vereinigten Staaten in die Schranken zu weisen, das gilt sowohl für die von allen US-Regierungen der vergangenen 15 Jahre favorisierte Freihandelszone der Amerikas (ALCA) als auch für die neoliberalen Dogmen, die Länder wie Argentinien, Ekuador oder Bolivien an den Rand des Staatsbankrotts geführt haben. Inzwischen will Hugo Chávez sogar eine regionale karibische Ölgesellschaft gründen, wie er in der Vorwoche bei einem Treffen mit den Staatschefs der Region in der venezolanischen Hafenstadt Puerto La Cruz mitteilte - das Vorhaben richte sich gegen die von den USA propagierte Freihandelszone, so der Präsident ausdrücklich.

Gustavo Petro, ein führender Theoretiker der kolumbianischen Linken, beschreibt die neue Lage so: "Die lateinamerikanische Linke heute, das bedeutet nicht mehr Sozialismus, sondern lateinamerikanische Integration und Souveränität gegenüber den USA. Chávez ist ein lateinamerikanisches Phänomen, er vereint diese neue lateinamerikanische Linke." Petros Einschätzung ist bedenkenswert, hat doch Venezuelas heutiger Präsident einer antikapitalistischen, teilweise populistisch gefärbten Selbstbehauptung einen heftigen Schub gegeben. Möglicherweise entscheidender als seine Bolivarische Ideologie mag allerdings die Diplomatie des Erdöls sein, deren Wirkung sich anhand mehrerer Erfolgsgeschichten in Augenschein nehmen lässt. Zunächst einmal sorgt Venezuela derzeit für verbilligte Öllieferungen an karibische Länder, die Caracas im Gegenzug mehr politischen Einfluss in ihrer Region einräumen. Chávez ist zudem angetreten, Kuba Kredite einzuräumen (400 Millionen Dollar), um die Versorgung mit Konsumgütern von Sardinenbüchsen über Schuhe bis zu Möbeln beleben zu können. Im Gegenzug hat Fidel Castro 25.000 Kubaner nach Venezuela entsandt, von denen 20.000 als Ärzte arbeiten, die restlichen 5.000 als Lehrer und Sporttrainer. Chávez zufolge eine "Art Sozialdienst, der ohne die Verfolgung eigener Interessen geleistet wird". Postwendend brachte US-Außenministerin Rice eine "wachsende Besorgnis" ob dieses Transfers zum Ausdruck. Die Antwort des venezolanischen Vizepräsidenten José Vicente Rangél, der den Ruf genießt, der hellste Kopf der Regierung zu sein: "Wenn die USA uns 20.000 Ärzte schicken, die in die ärmsten Teile der Großstädte gehen, werfen wir die Kubaner sofort raus ..."

Die Erdölausfuhren brachten Venezuela im Vorjahr die stattliche Summe von 32,5 Milliarden Dollar. Die Regierung Chávez nutzte diese Einnahmen, um damit Teile der argentinischen Staatsverschuldung aufzukaufen und Präsident Kirchner zu entlasten. Daraufhin äußerte die US-Regierung - genauer Verteidigungsminister Rumsfeld - erneut ihre tiefe Besorgnis, diesmal wegen der argentinisch-venezolanischen Beziehungen, über deren Abbruch man in Buenos Aires nachdenken solle. Die Antwort von Néstor Kirchner lautete: "Wenn uns die USA wenigstens einen Teil der Schulden erließen, würde ich auf der Stelle mit Caracas brechen". Beim lateinamerikanisch-arabischen Gipfel in Brasilien im Mai unterzeichnete Chávez mit Lula und Kirchner drei weitere Verträge: Zur Gründung von Pedrosul, einer großen Erdölfirma; von Telesur, eines transnationalen TV-Netzes, sowie einer Bankgesellschaft für regionale Entwicklung.

Schließlich kaufte Chávez von der spanischen Regierung Waffen im Wert von 1,3 Milliarden Euro, das größte Geschäft dieser Art, das jemals von einer postfranquistischen Regierung in Madrid getätigt wurde. Parallel dazu erwarb Venezuela von Russland 100.000 Schnellfeuergewehre. Angesichts der beharrlichen Beschwerden in der internationalen Presse über die Dimensionen dieser Käufe und die Höhe der Zahlen kommentierte der venezolanische Staatschef: "Ich liebe runde Zahlen. Um das 400-jährige Jubiläum des Don Quijote zu feiern, verteilen wir auch eine Million Geschenkexemplare des Buches mit einer Einführung von José Saramago". (Der portugiesische Nobelpreisträger und Kommunist hat zwar inzwischen mit Fidel Castro gebrochen, bekennt sich aber weiter zur kämpferischen Linken).

Mit der Wahl des neuen Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), des Chilenen José Miguel Insulza, der sich gegen den von den USA favorisierten Kandidaten durchsetzte und gute Beziehungen zur spanischen Regierung von Premierminister José Luis Zapatero pflegt, hat Chávez einen zusätzlichen Triumph errungen, um seine und die Stellung Lateinamerikas zu festigen.

75 Prozent der Venezolaner, so jüngste Umfragen, sollen Hugo Chávez inzwischen unterstützen. Damit hat er alle Möglichkeiten, seine kontinentale Führungsrolle mit einer demokratischen Legitimation zu versehen. Spanien gab jedenfalls zu erkennen, man setze darauf, dass Chávez für einen längeren Zeitraum an der Macht bleibe.

Aus: junge Welt, 21. Juli 2005


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