Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Historische Wegmarke

Hintergrund. Vor 200 Jahren erklärte Venezuela seine Unabhängigkeit. Auch heute spielt das Land eine wichtige Rolle im Ringen um eine selbständige Entwicklung Mittel- und Südamerikas

Von André Scheer *

Die Krebserkrankung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez hat die politische Tagesordnung nicht nur des südamerikanischen Landes, sondern des gesamten Kontinents durcheinandergebracht. Am 5. Juli begeht Venezuela den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit, und eigentlich sollte dieser Tag auch als Datum der offiziellen Gründung der Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) in die Geschichte eingehen. Dazu sollten die Staats- und Regierungschefs des gesamten Kontinents – mit Ausnahme der USA und Kanadas – auf der venezolanischen Ferieninsel Margarita zusammenkommen. Daraus wird nun zunächst nichts. In einer am 29. Juni verbreiteten offiziellen Erklärung des Außenministe­riums teilte die Regierung in Caracas mit, daß man in Absprache mit den übrigen Regierungen des Kontinents vereinbart habe, das Gipfeltreffen abzusagen und es an einem noch zu vereinbarenden Datum vor Ende des Jahres nachzuholen.[1]

Ohne USA und EU

Dann soll mit der CELAC die erste internationale Organisation entstehen, die das gesamte Mittel- und Südamerika vereint, ohne daß äußere Mächte als Aufpasser eingeladen sind. Im Gegensatz zur Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) fehlen die USA und Kanada, und im Unterschied zu den Iberoamerika-Gipfeln sind Spanien und Portugal zum Zuschauen verurteilt, ganz zu schweigen von EULAC, den Treffen, zu denen sich die Europäische Union die ungezogenen Latinos einlädt, um ihnen – mehr oder weniger erfolgreich – die Interessen der europäischen Großkonzerne zu diktieren.

Beschlossen wurde die Gründung der neuen Organisation, die als Nachfolgerin der bisherigen, locker strukturierten Rio-Gruppe konzipiert ist, im Februar 2010 im mexikanischen Playa del Carmen, während des dortigen Gipfeltreffens, das programmatisch der lateinamerikanischen und karibischen Einheit gewidmet war, und an dem 32 Staaten der Region teilgenommen hatten. Die damalige Entscheidung war eine Konsequenz aus mehreren politischen Krisen, die die Region in den Monaten zuvor erschüttert hatten. Dazu gehörten die Rebellion abtrünniger Departamentos gegen den gewählten bolivianischen Präsidenten Evo Morales im Herbst 2008, der Bombenangriff auf ecuadorianisches Staatsgebiet durch kolumbianische Truppen am 1. März 2008 und der Staatsstreich gegen den honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya am 28. Juni 2009. In all diesen Fällen hatten sich die etablierten Organisationen, vor allem die von Washington dominierte OAS, als unfähig erwiesen, eine konstruktive Rolle bei der Überwindung der Spannungen zu spielen. Im Gegensatz dazu war es die erst wenige Monate zuvor gegründete Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), die mit ihrer eindeutigen Haltung einen Putsch in Bolivien verhinderte. Die nach dem kolumbianischen Militärüberfall auf ein FARC-Lager auf ecuadorianischem Staatsgebiet im Frühjahr 2008 akute Gefahr eines Krieges zwischen Kolumbien, Ecuador und Venezuela konnte beim Rio-Gipfeltreffen in der Dominikanischen Republik überwunden werden, während die Rhetorik Washingtons zuvor die Krise eher noch zugespitzt hatte. Solche Erfahrungen bewirkten, daß eine ganze Reihe von Staatschefs offen von der Notwendigkeit sprachen, eine »OAS ohne USA« zu schaffen – und beileibe nicht nur die üblichen linken Verdächtigen.

Es ist kein Zufall, daß die versammelten Regierungschefs in Playa del Carmen ursprünglich ausgerechnet den 5. Juli 2011 und die Insel Margarita für ihre offizielle Gründung gewählt hatten. Venezuela begeht an diesem Datum offiziell den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit, obwohl die Feierlichkeiten bereits am 19. April vergangenen Jahres begonnen haben.

Kampf um Unabhängigkeit

Am 19. April 1810 war es zum Bruch zwischen dem damals von napoleonischen Truppen besetzten Spanien und der Kolonialprovinz Venezuela gekommen, weil »die Bürger von Caracas« dem neuen, von Napoleon Bonaparte eingesetzten Generalkapitän Vicente Emparan die Gefolgschaft verweigerten. Damals hieß es offiziell, daß Venezuela seine Treue zu dem von den napoleonischen Truppen gefangengehaltenen König Fernando VII. bekundete. Doch tatsächlich ging es bereits zu diesem Zeitpunkt um eine Loslösung vom spanischen Imperium, da die den Kolonien auferlegten Handelsbeschränkungen den Interessen der kreolischen Oligarchie zuwiderliefen. Die nach dem 19. April einsetzende Dynamik führte schließlich zu dem Beschluß vom 5. Juli 1811, offiziell die Unabhängigkeit Venezuelas zu erklären. Bedeutenden Einfluß auf diese Entscheidung hatte Francisco de Miranda, der bis heute in Südamerika als einer der wichtigsten Befreier verehrt wird.

Miranda hatte am Unabhängigkeitskampf der nordamerikanischen Kolonien, aus denen dann die USA entstanden, und an der Französischen Revolution teilgenommen. Die demokratischen, republikanischen Ideen dieser epochalen Ereignisse brachte er mit nach Südamerika; sie spiegeln sich auch im Text der venezolanischen Unabhängigkeitserklärung wider, wenn die unterzeichnenden Provinzen das Recht betonen, sich »die Regierungsform zu geben, die dem allgemeinen Willen ihrer Völker entspricht«. Volkssouveränität als Basis der Republik war eines der entscheidenden Charakteristika des Bruchs mit der »gottgegebenen« Monarchie, wie ihn die USA und Frankreich in ihren Revolutionen vollzogen hatten.

Die wichtigste Persönlichkeit des venezolanischen Kampfes um die Unabhängigkeit war jedoch Simón Bolívar. Auch er war, vor allem durch seinen Lehrer Simón Rodríguez, stark beeinflußt von den Ideen der französischen Aufklärung. Oder, wie es Rafael Morla formuliert: »Von den Ideen Bolívars zu sprechen heißt, von den Ideen der Aufklärung zu sprechen, von den philosophischen, sozialen und politischen Konzepten zu sprechen, die ihm als Orientierung und Bezugspunkt in all seinem theoretisch-praktischen Handeln dienten.«[2] Der Dekan der Autonomen Universität von Santo Domingo in der Dominikanischen Republik erinnert beispielsweise daran, daß Bolívar Rousseaus »Gesellschaftsvertrag« wie einen Schatz hütete und sein Exemplar in seinem Testament 1830 der Universität Caracas vermachte. Doch auch im konkreten Wirken Bolívars läßt sich der Einfluß europäischer Ideen feststellen, obwohl er, auch hier seinem Lehrer Simón Rodríguez folgend, darauf beharrte, daß das spanische Amerika eigene Lösungen finden müsse: »Wir sind weder Indios noch Europäer, sondern eine Spezies zwischen den legitimen Eigentümern des Landes und den spanischen Usurpatoren (…)«[3] So finden wir in seinem »Brief aus Jamaika« vom 6. September 1815, einem seiner bekanntesten Texte, viele Bezüge auf die Ideen der Aufklärung und die Demokratiekonzepte dieser Zeit, etwa wenn er ausdrücklich etwa den französischen Philosophen und Staatstheoretiker Montesquieu zitiert und das englische Regierungssystem als Beispiel nennt – mit dem Unterschied, daß er den König durch eine gewählte Exekutive ersetzt. Schön liest sich auch seine Passage von den »jedem gerechten und liberalen Regime feindlichen Elementen: Gold und Sklaven«[4].

Geeinter Kontinent

Bolívars »Brief aus Jamaika« ist ein Plädoyer für einen geeinten Kontinent, wobei damit das spanischsprachige Amerika gemeint ist: »Ich wünsche mehr als alles andere in Amerika die größte Nation der Welt entstehen zu sehen, weniger aufgrund ihrer Ausdehnung und Reichtümer, als vielmehr wegen ihrer Freiheit und ihrem Ruhm.«[5] Einen Einheitsstaat von der Grenze der USA bis Feuerland hielt Bolívar damals hingegen für unrealistisch. Neun Jahre später lud er die Regierungen des Kontinents jedoch zum Kongreß von Panama ein, dessen ursprüngliches Ziel eine Konföderation aller unabhängig gewordenen Republiken des Kontinents war. Dieser Kongreß führte zwar, unter anderem aufgrund des Einflusses der USA, nicht zu dem erhofften Ziel, doch machte er die Hoffnungen und Ziele Bolívars deutlich. Pedro Ortega Díaz von der Kommunistischen Partei Venezuelas faßt zusammen: »Kampf darum, das spanische Amerika, die früheren ›spanischen Kolonien‹, so eng wie möglich zu vereinen, so daß sie ihre Unabhängigkeit gegen jeden möglichen Versuch einer Rückeroberung durch Spanien ebenso verteidigen können, wie sie ernsten Gefahren vorbeugen können, die Bolívar aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika drohen sieht.«[6] 1829, ein Jahr vor seinem Tod, stellte er in einem Brief an Patricio Campbell fest: »Die USA scheinen von der Vorsehung dazu bestimmt zu sein, Amerika im Namen der Freiheit mit Elend zu überziehen.«[7]

So kann es kaum überraschen, daß die Gründung der Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik gerade im Heimatland Bolívars stattfinden soll, in Venezuela, das sich seit der Verabschiedung der Verfassung von 1999 Bolivarische Republik nennt.

Bolívar war und ist Bezugspunkt für ganz unterschiedliche politische Konzepte. Auch wenn er heute im Gefolge der fortschrittlichen Entwicklungen in Venezuela – der Bolivarischen Revolution – vor allem mit linken Ideen assoziiert wird, galt er in den Jahrzehnten nach seinem Tod 1830 und der im gleichen Jahr erfolgten Auflösung »Groß-Kolumbiens« vor allem autoritären Herrschern als Referenz. Diese beriefen sich gerne auf die diktatorischen Vollmachten, die Bolívar während des Kampfes um die Unabhängigkeit verliehen worden waren. Diese autoritäre Interpretation führte schließlich auch dazu, daß selbst Karl Marx diesem Mißverständnis zum Opfer fiel und Bolívar als eine südamerikanische Spielart des Bonapartismus interpretierte: »Was Bolívar wirklich beabsichtigte, war die Vereinigung ganz Südamerikas zu einer föderativen Republik, deren Diktator er selbst sein wollte. Während er so seinen Träumen, eine halbe Welt an seinen Namen zu heften, vollen Spielraum gab, entglitt die reale Macht rasch seinen Händen.«[8]

Während spätere Marxisten wie der Peruaner José Carlos Mariátegui oder der Kubaner Juan Antonio Mella die fortschrittlichen Ideen Bolívars erkannten, antiimperialistisch interpretierten und so zu Wegbereitern einer linken Rezeption wurden, dienen die Worte von Marx bis heute rechten Kräften dazu, sich selbst als die tatsächlichen Erben des Befreiers darzustellen. Das führt auch dazu, daß sich auch reaktionäre Regime wie die Regierung Kolumbiens als in der Tradition Bolívars stehend darstellen. Ausgehend von dieser Interpretation, die Bolívar nur auf die militärische Durchsetzung der staatlichen Unabhängigkeit reduziert, können diese dann auch die Heimat Bolívars als Gründungsort der CELAC akzeptieren.

Dessen ist sich offensichtlich auch Venezuelas Präsident Hugo Chávez bewußt. Im Vorfeld der großen Zeremonie herrschte von seiten der venezolanischen Regierung ein Pragmatismus vor, der viele Freunde und Unterstützer des revolutionären Prozesses irritiert. Chávez verzichtet derzeit nicht nur weitgehend auf seine rhetorische Radikalität, mit der er zum Beispiel einst Bolívar zum Sozialisten erklärte, sondern hat auch mit radikal-bolivarischen Kräften wie der kolumbianischen FARC-Guerilla gebrochen. Die venezolanische Regierung hat in der Vergangenheit mehrfach gewarnt, daß sie Mitglieder der FARC in Venezuela ebensowenig dulden werde wie Paramilitärs oder Drogenbanden. In diesem Sinne ist die mehrfach erfolgte Festnahme von FARC-Kämpfern und ihre spätere Auslieferung an Bogotá aus der Logik der regierungsoffiziellen Position heraus nachvollziehbar. Der politische Preis ist jedoch hoch. James Petras, ein linker Intellektueller aus den USA, der in den vergangenen Jahren den Prozeß in Venezuela aktiv unterstützte, vergleicht die Politik der venezolanischen Regierung mittlerweile mit der Auslieferung deutscher Kommunisten an die Nazis unter Stalin.[9]

Weg vom großen Bruder

Ein besonderer Einschnitt war in jedem Fall die Auslieferung von Joaquín Pérez Becerra an Kolumbien Ende April. Venezuelas Behörden lieferten den Journalisten schwedischer Staatsangehörigkeit in einem den eigenen Gesetzen widersprechenden Schnellverfahren auf die bloße Behauptung Kolumbiens hin aus, daß dieser der Guerilla angehöre. Beweise wurden nicht verlangt, und den klaren Aussagen Pérez Becerras, daß er kein Mitglied der FARC sei, wurde kein Gehör geschenkt. Nur zwei Tage nach dieser Deportation tagten in Caracas die Außenminister Lateinamerikas und der Karibik, um die CELAC-Gründung vorzubereiten. Zufall?

Die Hoffnungen in die Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik sind groß und zugleich gering. Von strategischer Bedeutung ist das Signal des Selbstbewußtseins der »kleinen Latinos«, die sich mit der Gründung der CELAC (endgültig?) vom großen Bruder USA emanzipieren wollen. Abzuwarten bleibt allerdings, ob die neue Organisation der alteingesessenen OAS den Rang ablaufen kann. Tut sie dies, wird die OAS ins Abseits gedrängt und dürfte über kurz oder lang verschwinden. Tut sie dies jedoch nicht, steht die Existenzberechtigung der ­CELAC schnell in Frage.

Für fortschrittliche Kräfte in Lateinamerika und darüber hinaus ist jedoch die Frage von besonderer Bedeutung, wie sich die Bolivarische Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) in dieser neuen Organisationslandschaft positionieren wird. Gegründet als dezidiert politischer, antiimperialistischer Staatenbund, spielte sie immer dann eine entscheidende Rolle, wenn sich die Mitgliedstaaten gegen die USA positionieren konnten. Dieses programmatische Selbstverständnis als explizit sozialistischer Organisation steht eine pragmatische Außenpolitik, wie sie Venezuela derzeit betreibt, jedoch entgegen. Der Historiker Vladimir Acosta äußerte deshalb in seiner wöchentlichen Rundfunksendung »De Primera Mano« (»Aus erster Hand«) beim staatlichen Radio Nacional de Venezuela, ALBA werde vermutlich als »zu radikal« gegenüber der neuen CELAC an den Rand gedrückt, ohne völlig aufgegeben zu werden [10]. Demgegenüber halten derzeit vor allem Ecuadors Präsident Rafael Correa und Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega an ihrer antiimperialistischen und antikolonialistischen Rhetorik fest, auch wenn ersterer zuletzt ebenfalls FARC-Angehörige an Kolumbien ausliefern ließ.

Die Unbekannte ist derzeit Hugo Chávez, nicht nur aufgrund seines Gesundheitszustandes. Besteht die Chance, daß die venezolanische Regierung über kurz oder lang zu ihrem antiimperialistischen Kurs zurückkehrt? Es wird ihr kaum etwas anderes übrigbleiben. Die USA haben Caracas bereits deutlich zu verstehen gegeben, daß sie nicht bereit sind, einen unabhängigen Kurs Südamerikas zu tolerieren. Die im Mai von Washington gegen den staatlichen venezolanischen Ölkonzern PDVSA verhängten Sanktionen, die mit den Beziehungen zum Iran begründet wurden, waren in dieser Hinsicht ein vor allem symbolischer Warnschuß. Oder wie es Vladimir Acosta formuliert: »Nach zehn Jahren ist es für Chávez etwas spät, sich in einen Lula verwandeln zu wollen.«[11]

Auch die von den USA ausgehaltene Opposition in Venezuela hat vor allem mit Blick auf die im kommenden Jahr bevorstehenden Präsidentschaftswahlen keinerlei Interesse an einer Entspannung ihrer Beziehungen mit der Regierung. Denn auch wenn die »sozialistische Revolution« in Venezuela ihrem eigenen Anspruch bislang nicht gerecht geworden ist, hat sie doch für einen politischen Paradigmenwechsel gesorgt. Revolutionäre sozialistische und marxistische Ideen sind in Südamerika salonfähig geworden, auch durch Chávez’ eigenes Bekenntnis zum Marxismus. In Venezuela dürften Schriften von Marx, Engels und Lenin derzeit weiter verbreitet sein (und gelesen werden) als in Kuba. Dazu haben vor allem die in Massenauflagen kostenlos in Umlauf gebrachten Broschürenreihen des Informationsministeriums beigetragen, in deren Rahmen beispielsweise das »Manifest der Kommunistischen Partei« oder Lenins »Staat und Revolution« herausgegeben wurden. Hinzu kommen wichtige lateinamerikanische Schriften, die für Venezuela von brennender Aktualität sind, so Che Guevaras »Gegen den Bürokratismus«. In dieser Schrift kritisiert der argentinisch-kubanische Comandante: »Übertriebene Zentralisierung ohne genaue Organisation bremste jede spontane Aktion, ohne an ihre Stelle richtige und zeitlich angemessene Anweisungen setzen zu können. (...) Entscheidungen in letzter Minute, in aller Hast ausgeführt und ohne vorherige Analyse, kennzeichneten unsere Arbeit.«[12] Es könnte scheinen, als habe Che das heutige Venezuela gemeint.

Revolutionär oder pragmatisch?

Natürlich sind die vorherrschenden Strukturen keine Erfindung von Hugo Chávez, sondern ein Erbe der Vierten Republik (das sich so oder ähnlich in unzähligen Entwicklungsländern wiederfindet). Chávez selbst hatte Anfang der 90er Jahre, als er noch die illegale Revolutionäre Bolivarische Bewegung 200 (MBR-200) führte, für seine »konkrete Utopie« eine überraschend realistische Einschätzung des zum Erreichen seiner Vorstellungen benötigten Zeithorizontes gegeben: »Das Nationale Projekt Simón Bolívar schlägt die Festlegung eines Zeithorizonts von maximal zwanzig Jahren vor, gerechnet ab dem Beginn der Aktivitäten zur Veränderung der ursprünglichen Situation, damit die Akteure und Handlungen sich in die objektive Situation einfinden.«[13] Das wäre, wenn wir von Chávez’ Amtsantritt 1999 ausgehen, 2019 der Fall.

Aber nach über zwölf Jahren revolutionärem Prozeß sind die von führenden Vertretern der bolivarischen Bewegung noch immer vorgebrachten Verweise auf die Zeit vor 1999 schal geworden. Viele Gelegenheiten, den Prozeß tiefer im venezolanischen Staat und in der Gesellschaft zu verankern, sind vertan worden. Dazu gehören vor allem die fünf Jahre fast ungehinderter Kontrolle über die venezolanische Nationalversammlung durch die bolivarischen Kräfte, die sich die Opposition durch ihren Wahlboykott Ende 2005 selbst eingebrockt hatte. »Die Nationalversammlung hätte in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe wichtiger Gesetze auf den Weg bringen müssen«, kommentierte dies im Februar 2010 der bekannte venezolanische Essayist Luis Britto García im Gespräch mit junge Welt. »Ich würde sogar sagen, die Parlamentarier hätten das Gesetzessystem eines sozialistischen Staates ausarbeiten müssen. Das ist nicht geschehen.«[14]

Auch deshalb ist zu hoffen, daß die venezolanische Regierung den derzeitigen, »pragmatischen«, letztlich aber selbstzerstörerischen Weg verläßt und zu einem revolutionären Kurs zurückkehrt. Die Alternative wäre ein realpolitisches Wischiwaschi, mit dem der versprochene Bruch mit dem kapitalistischen System nicht zu erreichen ist. Die Folge wäre eine Schwächung der bolivarischen Bewegung, die sich bislang noch auf die Unterstützung einer Mehrheit der Bevölkerung verlassen kann.

Anmerkungen
  1. Vgl. Correo del Orinoco, 29. Juni 2011; www.correodelorinoco.gob.ve/impacto/gobierno-nacional-anuncio-postergacion-cumbre-para-conformacion-celac/
  2. Rafael Morla: »Bolívar y la Ilustración«; in: Eikasia. Revista de Filosofía, II 8 (Oviedo, Spanien, Januar 2007), S. 164
  3. Simón Bolívar: Carta de Jamaica, Caracas 1972, S. 160
  4. Ebenda, S. 172
  5. Ebenda, S. 167
  6. Pedro Ortega Díaz: El Congreso de Panamá y la unidad latinoamericana; Caracas 2006, S. 83f.
  7. Simón Bolívar an Patricio Campbell, 5. August 1829; www.simon-bolivar.org/bolivar/catta_a_campbell.html
  8. MEW 14, S. 229
  9. Vgl. James Petras: Chavez’s Right Turn: State Realism versus International Solidarity; petras.lahaine.org/?p=1864, abgerufen am 15.06.2011
  10. questiondigital.com/?p=14433
  11. ebenda
  12. Ernesto Che Guevara: »Gegen den Bürokratismus«; in ders.: Aufsätze zur Wirtschaftspolitik, Köln 1988, S. 32
  13. Hugo Chávez: »El libro azúl«; in: ders.: Senderos de la Vía Bolivariana; Caracas 2007, S. 20
  14. junge Welt, 22.2.2010, S. 3
* Aus: junge Welt, 5. Juli 2011


Zurück zur Venezuela-Seite

Zur Lateinamerika-Seite

Zurück zur Homepage