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Über links spielen

Die Geschichte hinter der Geschichte. Ein Abschied vom uruguayischen Schriftsteller und Soziologen Eduardo Galeano

Von Peter Steiniger *

Bei Obama steht es als Paperback im Bücherschrank. »Die offenen Adern Lateinamerikas« erzählt die Gegengeschichte eines Kontinents. Lesbar, weil anschaulich, leidenschaftlich, poetisch. Aus der Perspektive der Ausgebeuteten, der Vergessenen blickt es zurück auf 500 Jahre Entwicklung. Von der Entdeckung und Kolonisierung hin zum Blutspender für den Norden. Wer deckt den Tisch für die Wohlhabenden in einer Welt, in der die meisten arm bleiben? Wohin fließen die unermesslichen Naturschätze zwischen Feuerland und dem Rio Grande? Die Schrift holt die hinter ihrer offiziellen Lesart verborgene Geschichte hervor und verbreitet, was bis dahin Stoff für Spezialisten war. Die Spur führt von Pizarros Konquistadoren zu den Businessmännern in den Konzernzentralen.

Als das Buch 1971 erschien, setzte sein Verfasser, ein junger Journalist aus Montevideo, damit einen Meilenstein. Die Zeit war reif, nicht nur in Lateinamerika brodelte es, rebellierte die junge Generation. Eduardo Galeanos Buch wurde sofort zum Bestseller, ein Bezugspunkt für linkes Denken weltweit. In der Dependenztheorie fanden vor allem Lateinamerikas linke Intellektuelle Erklärungen dafür, warum die ökonomisch abgehängten Länder auf dem Weltmarkt auf die Peripherie verwiesen bleiben. Galeano zeigt auf, dass die Aneignung von Reichtum nicht von ungefähr kommt, dass Reichtum nicht unschuldig ist, sondern auf der Erzeugung von Armut gründet. Für ihn schafft die Freiheit des Geldes für die Menschen das Gegenteil von Freiheit. Übersetzt in etliche Sprachen, sind die »Offenen Adern« längst ein Klassiker der politisch-historischen Literatur. Auf dem Amerikagipfel 2009 in Trinidad hatte Venezuelas linksnationaler Präsident Hugo Chávez damit das perfekte Geschenk für den US-Präsidenten. Dem scheint es gefallen zu haben.

In einem Gespräch mit dem brasilianischen Journalisten Breno Altman für die Zeitschrift Atenção! sagte Galeano 25 Jahre nach Erscheinen des Erfolgsbuchs, dass »die Spezialisten des IWF und der Weltbank« es mit ihren räuberischen Methoden »ständig aktualisieren«. Zuletzt kam es dem Uruguayer, schweres Wort, zu den Ohren heraus, immer wieder auf das eine Buch angesprochen zu werden. »Ich könnte das nicht mehr lesen. Da würde ich in Ohnmacht fallen.«

Nun ist er tot. Am vergangenen Montag starb Eduardo Galeano nach längerer Krankheit in seiner Heimatstadt. Hier gab er in den 60er Jahren das politisch-kulturelle Wochenblatt Marcha heraus, bevor er nach dem Putsch 1973 in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires fliehen musste. Hier machte er mit Crisis da weiter, wo Marcha hatte enden müssen. Als auch das Nachbarland unter den Stiefel des Militärs geriet, wich er nach Spanien aus. Erst mit dem Ende der Diktatur in Uruguay 1985 konnte er das Exil hinter sich lassen.

Der SPIEGEL zu Galeano:

Galeano zählte zu den wichtigsten Publizisten Lateinamerikas, er war als linksgerichteter Gesellschafts- und Globalisierungskritiker bekannt. Er vertrat die Dependenztheorie, nach der es keine Chance für eine Besserung der Verhältnisse in den ehemaligen Kolonien gebe, solange die Staaten der "Ersten Welt" die Länder weiterhin ökonomisch ausbeuteten.
Aus: Der SPIEGEL (Online), 13.04.2015



Er blieb ein Einmischer. Als Kind hatte er daran gedacht, Fußballer, Maler oder katholischer Priester zu werden. Es war die Offenbarung der Sexualität, die ihn als Jugendlichen vom Schwärmen für die Kirche abbrachte. Galeano pubertierte mit einem stalinistisch geprägten Marxismus und reifte zu einem Linken, der den Bezug zur Realität dem auf Dogmen vorzog. Der Top-Down-Sozialismus war seine Sache nicht. Galeano war ein kritischer Freund Kubas, betonte die eigenen Wurzeln der Revolution dort und dessen Vorbild an Würde. Als Essayist für verschiedene Publikationen in aller Welt kritisierte er scharf militärische Gewalt, wirtschaftliche Erpressung und heuchlerische Politik des Westens gegenüber der sogenannten Dritten Welt. Für diese hatte der Kollaps des Ostblocks verheerende Folgen, wie Galeano betonte.

Mit einem breiten, originellen und phantasievollen Werk war Galeano ein Star der lateinamerikanischen Literatur. »Die offenen Adern Lateinamerikas« wurden zum Vorläufer seiner Trilogie »Erinnerung an das Feuer« über Geschichte, Politik und Kultur dieser Weltgegend. Galeano wurde von vielen Musen geküsst, doch die Fußballgöttin war leider nicht dabei. Spielen konnte er nur »wunderbar gut während der Nächte, wenn ich träumte«. Die Begeisterung für diesen Sport blieb. Sein Buch über die Geschichte, die Kultur und die Schönheit des Fußballs ist auch auf deutsch erschienen (»Der Ball ist rund«). 2011 wurde er mit dem auch vom FC Barcelona vergebenen Preis geehrt, der nach seinem Freund, dem kommunistischen Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán (1939–2003), benannt ist. Beide waren Fußballfans und Linkshänder. »Links im Denken haben wir gedacht, dass die beste Art, über links zu spielen, darin bestehen würde, für die Freiheit all derer einzutreten, die den Mut haben, aus Lust am Spiel zu spielen, in einer Welt, die nur zum Spielen veranlasst, um zu gewinnen.« Eduardo presente! Das Spiel geht weiter!

* Aus: junge Welt, Freitag, 17. April 2015


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